Polkas brachten immer mein Blut zum Kochen

Woodstock kommt nach Thüringen: In Rudolstadt wird beim "Tanz&FolkFest" die Weltmusik gefeiert

Erstveröffentlichung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2005, Nr. 155 / Seite 34

Foto: Platzdasch Abergläubische Weltmusikfans rechnen mit einem Comeback Frankreichs bei der Fußball-WM 2006. Denn als Griechenland letztes Jahr Europameister wurde, ging im Rudolstadt gerade das größte Weltmusikfestival Deutschlands zu Ende - mit dem bereits 2003 festgelegten Länderschwerpunkt Griechenland. Am Tag nach dem Confed-Cup-Finalsieg Brasiliens startete in Rudolstadt das diesjährige Festival - mit dem 2004 beschlossenen Länderschwerpunkt Brasilien. Sonntag abend verkündete nun die Festivalleitung denLänderschwerpunkt für 2006: Frankreich.

In Rudolstadt feierte man ein fünfzehn- und ein fünfzigjähriges Jubiläum, denn Ausgangspunkt war das "1.Fest des deutschen Volkstanzes", das damals noch gesamtdeutsch orientierte Kommunisten 1955 in dem einstigen Residenzstädtchen veranstaltet haben. Daraus hatte sich ein DDR-Folklorefest mit Beiträgen aus den "Bruderstaaten" entwickelt, das bis 1989 alle zwei Jahre stattfand. Seit 1991 erstreckt sich jedes erste Juliwochenende vom Heinepark am Saaleufer über den Marktplatz bis hinauf auf die Heidecksburg ein neu konzipiertes "Tanz&FolkFest", inzwischen zwecks Vermeidung von Musikantenstadl-Assoziationen nur noch "tff" genannt, das vor wenigen Jahren die kanadische Geigerin April Verch gar als "the best Folk-Festival of the World" anpries.

In die 25000-Seelen-Partnerstadt des keine hundert Kilometer Luftlinie entfernten Bayreuth pilgerten letztes Wochenende über 65000 Besucher zu den rund tausend Künstlern aus dreißig Ländern auf zwanzig Bühnen. Zum Reiz des Festivals gehört, wie hier Musiker aufeinandertreffen. So tauchte beim "Sonderkonzert" am Vorabend der Eröffnung die Woodstock-Legende auf, die dem Protest gegen den Vietnamkrieg mit "I Feel Like I'm Fixin' To Die Rag" ein Gesicht gegeben hat und 600000 das F-Word buchstabieren ließ: Country Joe McDonald, derzeit mit Ten Years After, Canned Heat und Iron Butterfly unterwegs, nutzte eine Tourneepause für einen Auftritt auf der Heidecksburg, um mit "Support the Troups" gegen den Irakkrieg zu protestieren und mit "The Lady with the Lamp" Florence Nightingale zu huldigen, bevor das Hauptkonzert der irischen Chieftains startete.

Diese überraschten, indem sie mit Carlos Nunez aus Galizien auftraten, der mit Blockflöte und Dudelsack, der Gaita, Temperament und Rhythmen des Südens herbeizauberte. Damit des Unerwarteten nicht genug: Plötzlich trat Marianne Faithfull aus der Kulisse. In Weimar im selben Hotel wie die irischen Häuptlinge untergebracht, ließ sie – die tags darauf an gleicher Stelle ein Konzert gab - sich für die Ballade "Love is teasin'" auf die Bühne locken.

Zum Ritus gehört, daß jedes Jahr ein "magisches Instrument" im Mittelpunkt steht. Die deutsche Folk-Polizei rümpfte die Nase, als nach Xylophon und Zither für 2005 die E-Gitarre auserkoren wurde. Ein Zugeständnis an den Mainstream? Mag sein, denn die Verweise auf elektrifizierten Kongo-Rumba oder kenianischen Benga überzeugten nicht. Noch nicht, denn die Globalisierung fördert eine Gier nach Regionalismus, bei dem sich die verschiedenen Volksmusiken globalisieren: Ohne Crossover und Kreolisierung keine Weltmusik. Jedenfalls faszinierte das in Rudolstadt übliche "Instrumentenspecial". Zu den zehn Solisten, die für ein Wochenende als Combo "magic eGuitar" probten und auftraten, gehörten Virtuosen wie Oyster-Band-Gitarrist Alan Prosser, der als Deutschlands bester E-Bassist geltende Hellmuth Hattler, der japanische Wanderer zwischen den Kulturen Takashi Hirayasu oder der usbekische Tartar Enver Izmailov, der mit Zehn-Finger-Tapping-Technik seine Gitarre bald zum Cembalo, bald zur türkischen Saz macht.

Unmöglich, alle musikalischen Leckerbissen auch nur zu erwähnen (jährlich erscheint inzwischen mit Unterstützung der beteiligten öffentlich-rechtlichen Sender ein CD-Sampler). Zu denen gehörten gewiß der A-cappella-Vortrag der fünf Franzosen Lo Cor de la Plana aus Marseille, die Auftritte des Brasilianers Renato Borghetti mit dem Knopfakkordeon "Gaita ponto" oder die von Giant Sand, die den Desert-Rock-Stil noch vor Calexico kreierten. Während im Tanzzelt Bretonen, englisch radebrechend, ihre Polka lehrten, so daß einem Bob Dylans Autobiographiesatz "Polkas brachten immer mein Blut zum Kochen" einfiel, anderswo "Tulli Lum" aus Estland auf livonisch, einer Sprache, die angeblich nur noch siebzig Menschen richtig beherrschen, sangen, entdeckte der Flaneur anderswo, daß Artis The Spoonman, der schon für Frank Zappa, Aerosmith und das Seattle Philharmonic Orchestra gezaubert hat, den Löffel noch lange nicht abgeben wird.