Ratingagenturen: Die dunkle Macht?

Um die europäische Schuldenkrise zu bewältigen, spannen die Regierungen der Eurozone derzeit einen Schutzschirm nach dem anderen auf – allerdings ohne langfristige Erfolge zu erzielen. Im Gegenteil, längst hat die Politik die Kontrolle über das Geschehen auf den Finanzmärkten verloren. Stattdessen scheinen die Ratingagenturen die Zügel übernommen zu haben: Insbesondere die drei größten unter ihnen – Fitch Ratings, Standard & Poor’s und Moody’s – sind in der Lage, mit ihren Bonitätseinstufungen ganze Staaten von heute auf morgen in den finanziellen Abgrund zu treiben.

Inzwischen gleicht der Wettlauf der EU mit den Ratingagenturen dem Rennen zwischen Hase und Igel: Noch bevor die europäischen Regierungen ein neues Sparpaket beschließen können, haben die Agenturen die Kreditwürdigkeit der sogenannten PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) schon wieder herabgestuft – Portugal, Griechenland und Irland inzwischen gar auf „Ramschniveau“. Zudem sind nicht nur einzelne EU-Staaten in das Fadenkreuz der Finanzakteure geraten, sondern die europäische Gemeinschaftswährung selbst gerät zunehmend unter Druck.

Im Gegenzug nimmt die Kritik an dem „Oligopol“ (Wolfgang Schäuble) der drei Ratingagenturen zu, die einen Marktanteil von 95 Prozent auf sich vereinen. In der Tat gibt es Gründe für eine Kritik der Ratingagenturen: Nicht zuletzt haben sie maßgeblich zum Ausbruch der globalen Finanzkrise beigetragen, als sie verbriefte US-amerikanische Hypothekenschulden mit Bestnoten versahen – obwohl diese, wie sich kurz darauf zeigte, pures Gift waren. Und noch wenige Tage vor ihrem Zusammenbruch gaben sie der Investmentbank Lehman Brothers erstklassige Noten, trotz hartnäckiger Gerüchte über die massive geschäftliche Schieflage des Geldhauses.

Und die Fehleinschätzungen der Ratingagenturen sind keineswegs bloß jüngeren Datums. Exemplarisch sei hier nur an die folgenreichen Missgriffe in der Asienkrise im Jahr 1997 sowie an die großen Pleiten von Enron (1997), Worldcom (2001) und Parmalat (2003) erinnert. Gerade die Pleite Enrons hat zehntausende Menschen ihre Arbeitsplätze und Renten gekostet.

Eine europäische Ratingagentur ?

Angesichts der Unzufriedenheit mit den Bonitätsbewertungen insbesondere Griechenlands und Portugals wird derzeit der Ruf nach Gründung einer eigenen, europäischen Ratingagentur laut. Dieser Ruf lässt allerdings rätseln, schließlich hätte die EU aufgrund der genannten Erfahrungen mit Enron und Konsorten bereits vor Jahren eigene Ratingagenturen schaffen und diese einer Finanzmarktaufsicht – wie der im Juli d. J. geschaffenen Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) – unterstellen können.[1] Weil sich aber die Folgen der damaligen Krisen überwiegend fernab des europäischen Wirtschaftsraums abspielten und somit auch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die hiesige Gemeinschaftswährung ausübten, blieb eine solche Regulierung aus.

Erst jetzt, mit dem zunehmenden Einfluss der Agenturen auf den europäischen Wirtschafts- und Währungsraum, wächst der Ruf, den Einfluss der amerikanischen Ratingagenturen einzuschränken. EU-Politiker werfen den Instituten vor, die hiesigen Verhältnisse nicht hinreichend zu verstehen. Schon spekulieren manche darüber, dass die Ratingagenturen vor allem darauf abzielten, die Rettungsanstrengungen der EU-Staaten zu desavouieren. Einige Kritiker wittern gar eine anglo-amerikanische Verschwörung gegen den Euro mit dem Ziel, den US-Dollar als globale Leitwährung zu festigen. Sie übersehen in ihrer Aufgeregtheit jedoch, dass es auf G 20-Ebene bereits eine Arbeitsgruppe gibt, die einen Korb unterschiedlicher Währungen zusammenstellt, der künftig die Vorgabe für eine global gültige Referenzwährung bilden und auch den chinesischen Yuan enthalten soll. Somit wird der Dollar seine führende Stellung im Weltmarkt langfristig ohnehin einbüßen – unabhängig davon, wie die Urteile der Ratingagenturen über die europäische Gemeinschaftswährung ausfallen.

Die europäische Kritik an den US-amerikanischen Ratingagenturen erscheint somit überaus scheinheilig. Auch die Forderung nach einer europäischen Ratingagentur irritiert. Denn diese soll fortan eine unabhängige und transparente Beurteilung der Kreditwürdigkeit europäischer Staaten gewährleisten. Eine solche europäische Ratingagentur gibt es aber bereits seit 1987 und, man höre und staune: Feri EuroRating hat lange vor den US-amerikanischen Agenturen ähnlich negative Bonitätsurteile über Portugal, Irland, Griechenland und Spanien abgegeben.

Politische Ratings als Alternative ?

Als die Ratingagenturen vor über 100 Jahren in den USA entstanden, sollten sie jedem Gläubiger ein verlässliches Urteil über die Kreditwürdigkeit seiner Schuldner bieten, ohne dass jener mit den Details der Kreditrisikobewertung vertraut sein musste. Wie aber konnten die Ratingagenturen seitdem eine solche Machtfülle erlangen, dass von ihrem Urteil nun die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung abzuhängen scheint?

Fest steht, dass sich die Ratingagenturen nicht selbst zu einer globalen Instanz im Kreditrisikogeschäft erhoben haben. Vielmehr war es die Politik, die ihnen diesen Einfluss eingeräumt hat. Hinzu kommt: Die Idee der externen Bewertung hat über Jahrzehnte im Prinzip gut funktioniert. Die Expertise von Ratingagenturen wurde sogar per Gesetz verbindlich geregelt; auch hierzulande fanden die Anforderungen an die Eigenmittelausstattung von Kreditinstituten unter anderem Eingang in die Solvabilitätsverordnung.

Der Kern der Sache ist jedoch ein anderer: Das Rückgrat der Ratingagenturen bildet ihre Unabhängigkeit. Nun aber meint die Politik, den Einfluss der amerikanischen Ratingagenturen könne man nur begrenzen, wenn man ihnen europäische Einrichtungen gegenüberstelle. Insbesondere die Bundesrepublik ist zudem überzeugt, dass die Agenturen der Bankenaufsicht unterstellt werden sollten. Allerdings untersteht die Bankenaufsicht hierzulande dem Bundesfinanzminister, und dieser zeichnet sich derzeit nicht gerade durch eine neutrale Sicht auf die Welt aus, sondern folgt vielmehr den politischen Vorgaben seiner Kanzlerin. Und genau hier liegt das Problem: Denn eine Ratingagentur, die politischer Kontrolle untersteht, kann schlechterdings keine unabhängigen und objektiven Prüfungen vornehmen.

Es sollte eigentlich auch bundesdeutschen Politikern bekannt sein, dass die Risiken der politischen Beeinflussung einst der Grund für die Schaffung einer unabhängigen Bundesbank waren. Welche Folgen die politische Abhängigkeit der Währungswächter nach sich zieht, kann man derzeit an der Europäischen Zentralbank (EZB) erkennen: Die EU-Staaten drängten diese, griechische Staatsanleihen zu kaufen und machten die EZB damit – unter Preisgabe ihrer Unabhängigkeit – zu einer gesamteuropäischen Bad Bank. Bei den Spielern im Finanzkasino müssen die Champagnerkorken geknallt haben, als sie auf diese Weise die Gelegenheit erhielten, ihr Bilanzgift der EZB zu überschreiben.

Längst bestehen auch keine Zweifel mehr darüber, dass Griechenland unter Vorspiegelung falscher Tatsachen der Gemeinschaftswährung beitrat und zudem in den vergangenen Jahrzehnten in Grund und Boden gewirtschaftet wurde. Eine unabhängige europäische Ratingagentur hätte sich daher ebenso schnell und mit ähnlichem Urteil zu Wort melden müssen, wie es derzeit die drei großen Ratingagenturen tun. Vor diesem Hintergrund darf getrost bezweifelt werden, dass Griechenland heute besser da stünde, wenn eine europäische Ratingagentur seine Kreditwürdigkeit bewertete.

Die Alternative lautet deshalb schlicht: Entweder ruft die EU eine Institution ins Leben, die unter Aufsicht der Politik mit geschönten Ratings den Weg für weitere ökonomische und politische Fehlentscheidungen ebnet. Oder aber die Europäer erhalten – nach US-Vorbild – eine Agentur, die unabhängige Bewertungen vornimmt, welche den Regierungen allerdings ebenfalls nicht zusagen dürften.

Wo aber bietet sich ein Ausweg aus dem Katz-und-Maus-Spiel? Entscheidend ist, dass Ratings nur ein Werkzeug von vielen sein sollten. Denn Bonitätsprüfungen sind – wie wir gesehen haben – weder unfehlbar noch ein Ersatz für eigene, politische Einschätzungen. Das belegen auch Ansätze, die sich nicht allein auf Ratings stützen, sondern eigene Risikoeinschätzungen entwickeln. Jede Bank hat in der Regel eine Abteilung, die sich eigenständig mit Kreditrisiken befasst – und nicht nur die Berichte externer Ratingagenturen zur Kenntnis nimmt.

Auch viele Unternehmen ziehen externe Bonitätsprüfungen heran, um Kreditrisiken zu beurteilen – ohne dass diese die alleinige Grundlage von Kreditentscheidungen bilden. Wie sinnvoll eine solche Absicherung sein kann, belegt die im März d. J. veröffentlichte Entscheidung von Pimco, einer Tochter von Allianz Global Investors: Der weltweit größte Anleihefonds hatte sich von all seinen US-Staatsanleihen getrennt – obwohl bis dato keine Ratingagentur an der Kreditwürdigkeit gezweifelt hatte.

Letzte Ausfahrt Finanzmarktreform

Damit die Politik wieder handlungsfähig wird, muss sie keine neuen Ratingagenturen gründen. Auf der Tagesordnung steht vielmehr eine grundlegende Reform des Finanzsektors.

Für eine solche Reform könnte den EU-Politikern das amerikanische Glass-Steagall-Act als Vorbild dienen. Dieser Begriff steht für zwei Bundesgesetze, die nach dem großen Bankencrash 1929 die Trennbankengesetzgebung in den Vereinigten Staaten einführten. Im Kern sah diese Reform vor, das Geschäft der Investmentbanken vollständig von dem der Geschäftsbanken zu trennen.

Mit dieser Restrukturierung des US-Bankenwesens entzog die Politik den Investmentbanken die Erlaubnis, private Kundengelder entgegenzunehmen. Stattdessen mussten sich diese Banken allein über den Kapitalmarkt und andere Finanzinvestoren finanzieren. Die Geschäftsbanken besaßen keinen Eigenhandel mehr und konnten somit auch nicht die Ersparnisse ihrer Kunden verzocken. Verkalkulierte sich eine Investmentbank, ging sie einfach Pleite – gerettet werden musste dann niemand.

Die Trennung von Bankgeschäften erwies sich als überaus erfolgreich: Über fünf Jahrzehnte erlebten die USA keine tiefgreifende Finanzkrise. Obendrein waren die Einlagen der Kunden sicher. Zugegeben, das Bankgeschäft war in jener Zeit viel langweiliger und auch weniger gut bezahlt. Entscheidend aber ist, dass sich diese Form der Geldwirtschaft als wesentlich widerstandsfähiger gegenüber Krisen erwiesen hat als der heutige Finanzmarkt.

Es ist somit durchaus wahrscheinlich, dass es zu der gegenwärtigen Krise, die ihren Ausgang in den USA nahm, nicht gekommen wäre, wenn die in den 1930er Jahren eingeführte Aufteilung der Finanzgeschäfte nicht in den 80er Jahren von Ronald Reagan zunehmend aufgeweicht und in den 90er Jahren von Bill Clinton aufgehoben worden wäre. Dann aber wäre auch die sogenannte Eurorettung unnötig gewesen, die bislang mit Hunderten von Milliarden Euro zu Buche schlägt und im Eiltempo sowie unter Missachtung grundlegender parlamentarischer Rechte vorangetrieben wird.[2]

Um riskante Finanzgeschäfte zu verhindern, hilft aber weder eine europäische Finanzmarktaufsicht noch die Schaffung fügsamer europäischer Ratingagenturen. Die Ironie der Geschichte besteht vielmehr darin, dass die teuren Pläne zur Rettung Griechenlands weiterhin ein System nähren, das direkt in die aktuelle Finanz- und Schuldenkrise führte. Bisher haben die Regulierungsanstrengungen der Politik lediglich darauf abgezielt, den Spieltisch – etwa durch leicht erhöhte Eigenkapitalanforderungen an Banken – zu verkleinern, anstatt grundsätzlich zu unterbinden, dass das Geld von Unbeteiligten verspielt wird. Kurzum, die Gewinner sind bislang wieder einmal vor allem die Banken.

Vor diesem Hintergrund mutet es schon zynisch an, wenn Vertreter von Großbanken bereits wieder eine Eigenkapitalrendite in Höhe von 25 Prozent erwirtschaften wollen – ein Wert, der, wie erfahrene Risikomanager wissen, mit einem geordneten Kreditgeschäft schlicht nicht zu erreichen ist. Das aber bedeutet: Ringt sich die Politik nicht endlich zu grundlegenden Reformen des Finanzsektors durch, wird sie in Zukunft weitere Rettungsschirme aufspannen müssen. Vor allem jedoch erteilt sie den Banken damit die Vollmacht, die Spareinlagen und Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger weiterhin ungeniert aufs Spiel zu setzen. Dann aber heißt es erneut: Faites vos jeux – rien ne va plus!

(aus: »Blätter« 8/2011, Seite 8-12)