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Geert Lovink über Mediengebrauch im Internetzeitalter

Lernt die Sprache des 21. Jahrhunderts, lernt Programmieren, forderte der kürzlich verstorbene Medientheoretiker Friedrich Kittler von den Geisteswissenschaften. Eine ähnliche Forderung könnte man an die KritikerInnen des Kapitalismus richten, meint Geert Lovink. Bringt die Computer auf die Straße, nutzt eure Smartphones, experimentiert! Wie meint er das? Und was heißt das für den linken Mediengebrauch? Weil es in dieser Ausgabe nicht zuletzt um unsere Zeitung geht, fangen wir doch mit der ak-Webseite an:

Hast du dir mal die Webseite von ak angesehen? Sieht aus wie aus der Internetsteinzeit, oder?

Geert Lovink: Altmodisch, Schnee von gestern, darum geht es doch gar nicht. Momentan ist die Webseite »txt only« und sieht aus wie ein Onlinearchiv. Im Grunde ist daran nichts falsch; ihr solltet aber nicht die Erwartung hegen, dass viele Leute dort Zeit verbringen.

Warum nicht?

Weil das Web mehr ist als eine Fundgrube für die Inhalte von gestern. Womit verbringen die Nutzer ihre kostbare Zeit? Die Webseite ist nicht visuell und hat keinen Bezug zu den Echtzeitmedien, die die Leute für ihre alltägliche Kommunikation benutzen. Es geht mir nicht darum, eine Anbindung an Facebook oder Twitter anzupreisen. Ihr könnt durchaus das machen, was ihr immer schon tut - aber dann richtig. Wenn bei ak Hintergrund, Kritik und Auseinandersetzung zentral sind, sollte man sich damit befassen, wie diese Art von Diskurs im Netzkontext geführt wird und sich an die neuen Möglichkeiten angepasst hat. Meine Empfehlung wäre: Versucht nicht, ein Nachrichtenportal nachzuahmen, sondern stellt die eigenen Inhalte und Diskussionen in den Vordergrund. Betont die Kommentar-ebene, bringt eigene Experten rein und versucht, Auseinandersetzungen so zu »gestalten«, dass sie neue Zusammenhänge generieren.

Als ak gegründet wurde, waren linke Zeitungen oft Parteiblätter, sie sollten agitieren. Auch die Idee von Gegeninformation spielte eine große Rolle. Heute gibt es zahllose Möglichkeiten, sich zu informieren und auszutauschen.

Das Konzept Gegeninformation ist genug kritisiert worden. Worauf es ankommt, ist unzeitgemäß zu werden, das heißt Themen zu beackern, die woanders (noch) nicht angesprochen werden. Was an »Gegeninformation« nicht stimmt, ist die Idee, dass wir nicht wissen, was los ist. Das ist eine pedantische und falsche Vorstellung. Der andere ist nicht blöd und muss nicht überzeugt werden. Im Netz gibt es kein Informationsdefizit, sondern ein Suchproblem. Wie organisieren wir gemeinsam die Information, die für uns wichtig ist? Weshalb tut sich in bestimmten Kontexten nichts, warum funktionieren die gängigen Strategien nicht mehr? Was spricht junge Leute an? Wie entsteht Occupy Wall Street? Welche Sprache, Musik, Ästhetik wird benutzt? Es geht dabei nicht so sehr um Pop, schon gar nicht um Popkultur oder, noch schlimmer, um Populismus. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir gerne lesen, wie wir diskutieren und wie das in einem interaktiven Design umgesetzt werden kann.

Wir setzen noch immer auf längere Artikel und Papier.

Das ist okay. Was in der gängigen Medienlandschaft fehlt, sind doch Hintergrundberichte, Essays, längere Interviews, Reisereportagen und das, was »investigativer Journalismus« genannt wird. Was vielleicht langweilt, sind ideologiekritische interne Auseinandersetzungen über die richtige Linie, also eine hermetische, ausschließende Sprache.

Viele wissen, dass die Marxsche politische Ökonomie wieder aktuell ist. Sie braucht aber ein Update. Es gibt jetzt einen anderen Arbeitsbegriff, es gibt Ökologie, Feminismus, aber auch eine extrem gewachsene Finanzwelt - und eben die Medien und Netze.

Es geht nicht um Papier versus digital, oder lang versus kurz. Klar macht es uns Spaß, Slogans zu erfinden und sie groß auf die Wände zu projizieren. Aber diese Sprüche kommen irgendwo her, oder? Denken und Reflektion braucht Zeit und Material. Aphorismen à la Twitter sind, richtig gemacht, konzentrierte Erfahrungen. Ob Twitter aber für Diskussionszwecke genutzt werden kann, bezweifle ich (es ist durchaus möglich).

Wie hat das Internet die Art, wie wir kommunizieren und uns informieren, verändert?

Erstens gibt es eine (weitere) Beschleunigung der Kommunikation. Zweitens gibt es viel mehr (automatisierte) Rückschleifen. Wir müssen die ganze Zeit zeigen, dass wir noch existieren, was wir denken und vorhaben. Dieses Element ist für die Linke das größte Problem. Es so einfach zu denken, wir werden passiv gemacht und dann vollgestopft mit bösen Ideologien. Neue Medienmacht funktioniert aber anders. Was da zählt, ist die aktive Beteiligung - nicht das Vollstopfen leerer Köpfe.

In einem schon etwas älteren Lied gibt es diese Textzeile: »Durch die ständige Reizüberflutung wird der Alltag viel intensiver, die Gehirne finden das super und werden viel kreativer.« Stimmt das? Oder raubt uns die ständige Reizüberflutung den Atem?

Ich habe dazu so meine Privatmeinung, aber ich bin kein Gehirnforscher und möchte auch keiner werden. Ob das Gehirn flexibel ist, oder ob die intensive Nutzung neuer Medien zu Konzentrationsproblemen führt, kann ich nicht nachvollziehen. Aber es ist eine große Internetdebatte. Leute wie Nicholas Carr, Frank Schirrmacher, Sherry Turkle, aber auch der französische Philosoph Bernard Stiegler äußern sich dazu. Ich plädiere für eine Sichtweise, die ohne Medizinwissenschaften auskommt. Ich stimme mit Peter Sloterdijk überein, dass es um tägliche Übung geht. Wir müssen die Technologie selbst meistern. Also weder Offline-Romantik oder staatliche Begrenzungen, sondern mehr kollektives Selbstvertrauen.

Du hast vor kurzem in einem Interview gesagt, es gebe kein Verständnis von dem, was um uns herum passiert. Wir bräuchten eine Netztheorie, die das Medium ernst nimmt. Was meinst du damit?

Viele haben bisher geglaubt, das Internet sei bloß Hype und Kommerz, das ginge vorbei. Das gilt nicht nur für Aktivistenkreise und große Teile der 1968er Generation, sondern auch für viele Medienwissenschaftler. Die potenziellen Veränderungen, die die allgemeine Einführung vernetzter Kommunikation mit sich bringen, werden immer noch nicht bewusst wahrgenommen, vor allem nicht von denen, die es professionell angeht, zum Beispiel der deutschen Medientheorie. Viele halten nach wie vor an der visuellen Natur der Medien fest. Das Soziale wird nicht mitgedacht.

Aber wichtiger noch als solche generellen Theoriedefizite ist derzeit die Unfähigkeit, die neue Generation kritisch zu begleiten. Um das zu tun, muss man Bescheid wissen. Eine kritische Außenposition ist zwecklos. Was bringt es, wenn ein Filmkritiker sagt, mich interessiert das Medium nicht, ich gehe nie ins Kino und schaue mir keine Filme an. So ist es beim Internet auch. Eine netzrelevante Theorie kommt nicht aus der Hegel-, Marx- oder Heideggerlektüre, sondern sie muss aus der Technologiepraxis kommen. Ich möchte hier nicht antitheoretisch oder antigeschichtlich argumentieren, aber es ist klar, dass wir dringend ein neues Theorieverständnis brauchen, vor allem in Deutschland. Der vor kurzem viel zu jung verstorbene Medientheoretiker Friedrich Kittler hat immer von Geisteswissenschaftlern gefordert, sie sollten alle programmieren lernen, also die neue Sprache des 21. Jahrhundert sprechen. Dies könnten wir auch von Kapitalismuskritikern verlangen, die sich für eine Renaissance der Politischen Ökonomie einsetzen.

Ein wichtiges Detail, das noch geklärt werden muss, ist der Stellenwert der englischen Sprache und die Art, wie wir Übersetzungen organisieren. Derzeit ist man (in Deutschland und anderswo) noch viel zu abhängig vom Zeitungs- und Verlagswesen.

Wie hat sich das Internet in den letzten Jahren entwickelt?

Global gesehen hat das Internet jetzt über zwei Milliarden Nutzer. Das Wachstum kommt vor allem aus Asien, aber auch Lateinamerika und Afrika. Klar ist die Internetfreiheit bedroht, sowohl von Großfirmen als auch von westlichen Regierungen. China nimmt da eine interessante Position ein, weil deren Firewall-Technologie, mitentwickelt von westlichen Firmen, derzeit in alle Welt exportiert wird.

Die großen Themen sind derzeit Netzneutralität, Zensur und Überwachung und die nicht besonders gut verstandenen Strategien von Firmen wie Google und Facebook. Komischerweise gibt es also besonders viele Möglichkeit für Widerstand und gleichzeitig die Gefahr, dass wir dieses einmalige globale Medium für alle versauen. Wenn das Internet in der jetzigen Form verschwindet, können wir nicht davon ausgehen, dass es irgendwann mal in ähnlicher Form wieder auftaucht. Dafür ist die Grundstruktur zu instabil. Deswegen auch der Aufruf an alle, sich massiv daran zu beteiligen, die Internetfreiheit zu verteidigen und aktiv zu gestalten.

Vor zwei Jahren schrieb die Bürogemeinschaft 9to5 in unserer Zeitung: Anders als allgemein angenommen seien die jungen Prekären keineswegs isoliert, denn die sozialen Beziehungen wucherten exzessiv, bei Facebook, bei StudiVZ, bei Twitter. Diese Verbindungen seien die Grundlage für eine neue Kollektivität und Widerständigkeit. (ak 541) Teilst du diese Einschätzung?

Durchaus. Das Problem ist aber die Vielfalt der schwachen Verbindungen. Die momentane Praxis ließe sich auch verstehen als eine naive, erste Phase des Herumprobierens, in der wir alle noch drinstecken. Wir entdecken den Großraum Internet, die gesamte Galaxie, genauso wie wir Mitte der 1990er Jahren das Surfen im Netz entdeckt haben. Viel wird uns diese astronomische Sichtweise aber nicht bringen. Wichtiger ist die Frage, wie die Technologie im Alltag eingesetzt werden kann. Ich sage damit nicht, dass die globale Großdimension unbedeutsam wäre oder dass wir uns alle nur auf unsere lokale Umgebung konzentrieren sollten. Ned Rossiter und ich setzen uns mit dem Begriff »organisierte Netze« (organized networks) dafür ein, Instrumente für feste Verbindungen zu schaffen.

Das heißt?

Die Software soll uns helfen, im Alltag die vielen Aufgaben zu meistern, im lokalen und sozialen Umfeld, und uns Filter zur Verfügung stellen, damit wir bestimmen, was wichtig ist - nicht der Staat oder Facebook.

In den Protesten und Revolutionen dieses Jahres haben das Internet und Netzwerke wie Facebook eine große Rolle gespielt.

Das stimmt. Aber es ist wichtig zu betonen, dass das Netz diese Bewegungen nicht erfunden hat. Viele Repräsentanten der Presse mögen es, diesen Mythos zu verbreiten. Auch die an sich richtige Dekonstruktion dessen wird langsam mühselig; denen, die gerade mitten in der Mobilisierung stecken, bringt eine solche Kritik nicht viel. Utopiekritik ist immer angesagt, aber was wir jetzt brauchen, sind soziale Laboratorien. Raus mit den Computern auf die Straße! Das so genannte Virtuelle und Reale stehen nicht im Widerspruch, die heutige billige Elektronik macht vieles möglich. Denk nur an das Protestportal Occupy Together und das weltweite Onlinefernsehen von unten Global Revolution (www.livestream.com/globalrevolution). Denk mal darüber nach, was wir mit sowas wie Skype machen können! Viele wissen nicht mal, dass sie Radioreporter geworden sind, weil sie die Audiofunktionen ihrer Smartphones noch nicht richtig entdeckt haben. Klar müssen wir etwas zu berichten haben. Aber das ist jetzt doch kein Problem mehr, oder?

 

Geert Lovink ist Medientheoretiker und -aktivist, hat das Institute for Network Culture in Amsterdam mitgegründet (networkcultures.org) und sucht mit der Kampagne Unlike Us nach alternativen Social Media Ansätzen. Über das Internet hat er mehrere Bücher veröffentlicht; 2012 erscheint sein neues bei transcript: »Das halbwegs Soziale«.

aus:  ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 566/18.11.2011