Verloren im griechisch-türkischen Grenzgebiet

Das Gebiet am Evros-Fluss (türkisch: Meriç), entlang der griechisch-türkischen Grenze, ist ein tragischer Ort, wo zahlreiche Flüchtlinge verschwinden, von denen einige tot aufgefunden werden. Verwandte und Freunde der Verschwundenen suchen in Haftlagern, Krankenhäusern und Friedhöfen nach ihnen. Sie kommen von weit her, um Antworten auf ihre Fragen zu finden. In den letzten beiden Jahren wurden die meisten Tode durch Ertrinken oder Unterkühlung verursacht. Eine kleinere Anzahl an Todesfällen geht auf Auto- und Zugunfälle zurück. 70 Flüchtlinge und MigrantInnen starben nach Angaben des Gerichtsmediziners der Provinz Thrakien im Jahr 2010 in der Region. 46 von ihnen konnten nicht identifiziert werden. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2011 starben 57 Menschen in diesem Grenzabschnitt. 

Während unserer Reisen sind wir Flüchtlingen in den griechischen Haftlagern begegnet, die Familienangehörige im Grenzgebiet verloren haben. Sie wussten nicht, ob ihre Verwandten lebten oder tot waren.

O.H. ist ein Junge aus Nigeria, der in Fylakio als Erwachsener registriert wurde. Er berichtete, dass er seine Mutter beim Überqueren des Flusses verloren hatte und seine Schwester kurz danach. Er war in einer sehr schlimmen psychischen Verfassung und weinte unentwegt.

In Haft stellte er einen Asylantrag und wurde sechs Monate lang in Fylakio festgehalten. Er erhielt keinerlei psychologische Unterstützung. Auch als er entlassen wurde, gab es keine weitere Unterstützung für ihn.[1]

H.Y. aus Afghanistan berichtete, dass sie ihre beiden Töchter Ende September 2011 im Evros-Fluss verloren hat. Zusammen mit ihrem Ehemann wendete sie sich direkt bei ihrer Ankunft an die Polizeidirektion von Oresti­ada, um Hilfe zu suchen. Die Polizei nahm sie fest. Sie wurden ins Haftlager Fylakio gebracht.

Obwohl das Verschwinden der beiden Mädchen der Polizei offiziell gemeldet wurde, wurde die Inhaftierung fortgesetzt.

Die Ehepartner waren etwa drei Wochen lang in getrennten Zellen inhaftiert. Sie wurden entlassen, oh­ne an irgendeine Art von Hilfsangebot verwiesen zu werden. Ihnen wurde nicht mitgeteilt, wo sie die Leiche ihrer Tochter finden könnten, noch was das weitere Verfahren mit der Leiche ist. Ihnen wurde auch nicht gesagt, wie sie nach der noch vermissten, älteren Tochter suchen könnten.[2]

„Da waren zwei Boote am Flussufer. Wir stiegen in das zweite, in dem insgesamt 13 Leute waren. Das Boot kenterte und wir fielen ins Wasser. Einige von uns konnten sich am Boot festhalten, während andere von der Strömung fortgetragen wurden. Wir können nicht schwimmen. Das Boot geriet in einen Strudel und wir konnten uns nicht mehr orientieren.

Wir wussten nicht, welches das türkische und welches das griechische Ufer war! Diejenigen von uns, die sich am Boot festhielten, kamen ans türkische Ufer. Ich und eine andere Frau versuchten einfach nur zu überleben. Die türkischen Behörden retteten einige von uns.

Meine beiden Töchter und einige andere wurden vom Strom davongetragen. Ich konnte sie nicht sehen. Ich versuchte mich über Wasser zu halten. Ich hörte nur ihre Stimmen: ‚Mutter, hilf uns!’. Die türkische Polizei suchte einige Stunden lang nach meinen Töchtern. Dann brachten sie uns in ein Haftlager. Ich war verzweifelt. Wir wurden nach Istanbul gebracht und freigelassen.

In der Hoffnung, meine beiden Töchter zu finden, gingen wir wieder nach Griechenland. Wir überquerten den Fluss noch einmal und gingen direkt zum Polizeihauptquartier in Oresti­ada, um das Verschwinden unserer Töchter anzuzeigen.

Wir baten die Polizei um Hilfe. Sie sagten uns, wir sollten das dort angeben, wo wir hingebracht würden. Dann brachten sie uns in das Lager von Fy­lakio. Bei der Registrierung sagten wir, dass wir unsere Töchter verloren hatten. Wir sagten, dass wir Afghanen sind, aber sie glaubten uns nicht. Es war schrecklich. Wir baten um Hilfe und sie zeigten uns einen Katalog mit Essen. Sie wollten, dass wir ihnen sagten, welche Gerichte afghanisch seien, um zu sehen, ob wir logen, was unsere Nationalität angeht.“

„Zusammen mit meiner Frau und unserem sechsjährigen Jungen überquerte ich den Ev­ros-Fluss am 26. Oktober. Es war noch etwas hell.

Wir waren 15 Personen im Boot. Plötzlich verfing sich das Boot in einigen Ästen. Einige von uns sprangen ins Wasser, ich war dabei. Dann kenterte das Boot. Unser Junge verfing sich in den Ästen. Ich konnte ihn im letzten Moment zu fassen bekommen. Er wäre fast ertrunken.

Als ich dann nach meiner Frau suchte, sagten mir die anderen, die wäre von der Strömung fortgetragen worden. Griechische Beamte standen am Ufer und schauten zu. Sie reagierten nicht. Sie halfen nicht. Ich weiß nicht, wie viele verschwanden. Ich weiß nicht, ob meine Frau noch lebt.“[3]

 

Tahera, aus Afghanistan

Tahera hat drei Kinder (10, 8 und 6 Jahre alt). Ihr Mann verschwand an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland am Evros-Fluss.

Bis heute weiß sie nicht, ob er lebt oder tot ist. Der Rest der Familie hat es nach Deutschland geschafft, aber ihr Herz ist an der nassen Grenze zurückgeblieben, immer noch auf der Suche nach ihrem Mann.

 

„Wir waren etwa 60 Leute, es gab aber nur ein kleines Boot für Frauen und Kinder. Die anderen mussten durch den Fluss waten. Einige von ihnen waren nicht groß genug, so dass ihre Köpfe langsam unter Wasser verschwanden, das sie dann ins Dunkle forttrug, zusammen mit ihren Hilferufen.” Es war zwei Uhr morgens, als sie ihre Reise von der Türkei nach Europa an­traten.

„Eine Stunde lang liefen wir durch den Wald. Wir erreichten das Wasser, aber sie sagten uns, es wäre nicht gut, den Fluss jetzt zu überqueren.

Wir gingen weg und kamen gegen vier Uhr morgens wieder ans Ufer. Da war nur ein kleines Boot. Vier Frauen und alle Kinder gingen an Bord. Elf Personen, unter ihnen auch ein behindertes Mädchen. Die anderen mussten durch das Wasser und hielten sich dabei an den Händen.

Das Wasser war sehr hoch, und die, die nicht schwimmen konnten, verschwanden plötzlich im Wasser. Als wir das Ufer erreichten, stiegen wir aus dem Boot aus. Ich sah, wie ein Freund meines Mannes, der schwimmen konnte, zwei afrikanische Frauen rettete. Dann verlor ich ihn aus den Augen. Das letzte Mal, als ich meinen Mann sah, trug das Wasser ihn davon, mit geschlossenen Augen und der Tasche mit den Kleidern unserer Kinder immer noch an seinen Schultern.“

Acht Personen schafften es, sich auf die Flussbank zu retten. Die türkische Polizei nahm sie fest. „Wir telefonierten, aber sie wussten auch nichts von meinem Mann und den an­deren Personen, die verschwunden waren!“ In der Nä­he des Flusses waren Zug­schie­nen. Obwohl völlig erschöpft und unter Schock stehend, suchten sie nach den an­deren, fanden aber niemanden. Dann warteten sie darauf, dass die Polizei kommen und sie festnehmen würde. Sie berichteten sofort von den verschwundenen Personen. Tahera und ihre Kinder wurden in die Polizeistation von Neo Chimonio gebracht. Zwei Tage lang blieb sie dort. Die Polizei ließ sie frei, um das Verfahren der Familienzusammenführung zu erleichtern, falls ihr Mann gefunden würde. Sie suchten einige Stunden lang den Fluss ab.

Als sie zurück kamen, zeigten sie Tahera einige Fotos, die sie mit ihren Handys gemacht hatten. Tahera konnten ihren Mann jedoch nicht erkennen. Keine der 14 Leichen, die von den griechischen Behörden geborgen wurden, passte auf Taheras Beschreibung.

„Eine bessere Heilung wird es erst geben, wenn ich herausfinde, was passiert ist!“

J.K., aus Kenia [4]

„Im September 2010 sollte meine Frau aus der Türkei nach Griechenland kommen. Ich wollte meine Frau bei mir haben und dann wollten wir sehen, wie die Kinder zu uns kommen könnten. Aber leider hat das nicht funktioniert.

Sie verschwand auf ihrem Weg nach Griechenland. Heute gibt es keine Hinweise darauf, was ihr passiert sein könnte.

Aber es gibt immer noch Hoffnung, vielleicht kommt sie eines Tages. Aber jetzt ist es sehr finster. Es ist finster, weil es kein Lebenszeichen gibt, nichts.

Das letzte Mal, als wir telefonierten, war sie auf dem Weg nach Griechenland. Das war’s. Jetzt warte ich.

Seitdem sind 10 Monate vergangen, ohne dass ich weiß, was passiert ist. Das ist so lang. Als ich losging, habe ich nie über die Risiken nachgedacht. Jetzt weiß ich, dass es ziemlich gefährlich ist, vielleicht ist sie gar nicht mehr da. [....].

Am 14. Februar ging Herr J.K. allein zu den Polizeihauptquar­tieren der Evros-Region (Ores­tiada und Alexandroupolis), um herauszufinden, ob eine Frau unter diesem Namen inhaftiert war.

Die einzige afrikanische Frau, die in zeitlicher Nähe zu den angegebenen Daten ertrunken aufgefunden wurde, passte auf seine Beschreibung. Er beantragte einen DNA-Test und Mitte August, nach sieben Monaten Warten und Sorge, kam die Antwort: Die im Fluss tot aufgefundene Frau war Herrn J.K.s Ehefrau.

Am 30. August 2011 wurde ein kleiner Brunnen in Provatonas, Evros mit einer Gedenkveran­staltung den Toten und Vermissten der griechisch-türkischen Grenze gewidmet.

J.K. sprach in Andenken an seine Frau und all die anderen Opfer:

„Es ist jetzt ein Jahr her. Man stellt fest, dass es Zeit gebraucht hat, bevor man weiß, was wirklich passiert ist. Jetzt haben die Papiere uns die Wahrheit gezeigt. Jane ist nicht mehr bei uns, sie ist am Tag ihrer Grenzüberquerung ertrunken, am 20. September. Wir akzeptieren diese Wahrheit. Sie ist nicht mehr unter uns. Aber ich glaube, sie wird immer mit uns leben.

Sie war eine großartige Dame, eine Mutter, eine Ehefrau und eine Tochter ihrer sie liebenden Eltern, eine Schwester für ihre Schwestern und Brüder.

Sie wird vermisst. Aber sie war großartig und hat uns wirklich etwas hinterlassen. […] Ihr Tod war ein schreckliches Ereignis, wir erinnern uns. Ein Jahr ist ziemlich lang. Ein Jahr der Trauer. Ein Jahr schlafloser Nächte. So eine schwierige Erfahrung und so eine seltene Erfahrung. Nicht viele Menschen haben so etwas erlebt und ich wünsche es niemandem. So etwas muss verhindert werden. Es ist so schwer, ich kann es nicht beschreiben.“

Salinia Stroux

 

[1]   O.H. aus Nigeria; 20. Dezember 2010 - Fyla­kio

[2]  H.Y. aus Afghanistan; 11.Oktober 2011 - Fylakio

[3]  H.N. aus Afghanistan; 2. November - Athen

[4]  Interview von Infomobile in Athen, 11. Mai 2011

 

Dieser Artikel stellt einen Teil der Ergebnisse des PRO ASYL Monitoring Projektes im griechischen Grenzgebiet zur Türkei dar und ist in Zusammenarbeit mit dem Infomobil des Netzwerkes Welcome to Europe erstellt worden. Die Anwältinnen Katerina Tsapopoulou, Marianna Tzeferakou und die Ethnologin Salinia Stroux besuchen seit August 2010 die Flüchtlingshaftlager im Evros-Gebiet. 

Das Infomobil ist ein Grassroots-Projekt des mobilen Infor­mationsaustausches mit, für und über Flüchtlinge und Migran­tInnen. Es ist ein antirassistisches Projekt des Widerstands und der Solidarität aus den noborder Zusammenhängen, das in regelmäßigen Abständen Evros, Athen, Patra und Igoumenitsa besucht und von dort berichtet.

Im Kontext des Infomobils hat sich auch das Teil-Projekt lost­atborder entwickelt mit dem Ziel Menschen, die Verwandte oder Freunde an den griechischen Grenzen verloren haben, bei ihrer Suche zu unterstützen und sich mit ihnen solidarisch zu organisieren. 

Voraussichtlich Mitte Dezember 2011 werden der komplette Evros-Bericht von Pro Asyl „Walls of Shame“ sowie der Infomobil Bericht „Lostatborder“ zu den Verlorenen an den griechischen Grenzen veröffentlicht.

Wir danken der Autorin Salinia Stroux und Karl Kopp, dass sie bis in die Nacht vor Drucklegung dieser GWR an diesem wichtigen und bewegenden Artikel gearbeitet haben. (GWR-Red., 23.11.2011)

 

Weitere Informationen:

http://www.proasyl.de/

http://infomobile.w2eu.net/

http://lostatborder.antira.info/

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 364, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Dezember 2011, 40. Jahrgang, www.graswurzel.net