Kunst ist so ambivalent wie Können

Editioral, "Was kann Kunst?", Das Argument 293 (4/2011)

in (20.12.2011)

Zwischen Brekers und Hrdlickas Kunstwerken verläuft die Front zwischen Unterdrückung und Befreiung. Der Bildhauer, der dem Nazismus zu seinem idealen Ausdruck verhilft, und der Bildhauer, der ein Mahnmal gegen Krieg und Faschismus schafft – ihr Gegensatz wirft ein Licht auf die radikale Zweideutigkeit ›der Kunst‹. Kunst kann Medium der Herrschaft wie der Befreiung sein. Nicht zuletzt ist sie ein Medium der Hegemonie- und Gruppenbildung. Sie schafft esoterische Gemeinden, die ihren Ritus im Kreis weniger Eingeweihter begehen; sie zieht ein Millionenpublikum an, das etwas ›erleben‹ will und den Städten in der kulturellen Standortkonkurrenz einen Vorteil verschafft; sie kann, was avantgardistisch auf Absage ans Überkommene zielte, in die Gestaltung alltäglicher Dinge transformieren wie in den Jahren nach der Oktoberrevolution. Was Adorno als »Entkunstung der Kunst« (1970, 32) kurzerhand der Kulturindustrie zugeschlagen hat, haben die russischen Künstler der frühen 1920er Jahre als ihre vornehmste, weil zivile Aufgabe begriffen.

Die Herrschenden lassen sich durch Gedichte oder Videoinstallationen kaum verunsichern. In ihren Villen und Chefetagen hängen mehr Gemälde berühmter Meister als Poster im Zimmer eines Teenagers. Für die Wunden, die der hässliche Alltag der Profitmaximierung auch dem abgebrühtesten Finanzmann schlägt, ist die schöne Kunst Mittel der Versöhnung und spekulatives Wertbehältnis in Einem. Im Zusammenspiel mit herrschaftlicher Architektur schafft sie das Arkadien, in dem – fern der Geschäfte – den durchs Schinden der anderen geschundenen Seelen die Labsal widerfährt, für deren Verabreichung im Jenseits sich die Kirche einst das Vermittlungsmonopol gesichert hat. Die Kunstwerke, die auch sie in ihren Wänden sammelt, sind wie der Beleg, dass der aufs Jenseits ausgestellte Scheck schon hier gedeckt ist.

Doch wie die Kunst Herrschenden wie Unterdrückten ein Idealbild der Herrschaft zurückwirft, kann sie umgekehrt dazu beitragen, den Abstand zu schaffen, in dem unterm Ideal die Wirklichkeit spürbar, der Konsens brüchig und die Dauer in ihrer Endlichkeit sichtbar wird. Oft nutzt sie subtile Mittel, wohl wissend, dass die alten Mächte ihren Platz nicht freiwillig räumen: Sie kann unterhaltend zu Einsichten führen; sie kann deutlich werden, indem sie es bei der Anspielung belässt; sie kann die Wahrheit sagen, ohne sie auszusprechen. »Es ist List nötig«, sagt Brecht, »damit die Wahrheit verbreitet wird.« (GA 22.1, 87f) Doch auch die List der Wahrheit will gekonnt sein.

Kunst kommt von Können. Vor aller ästhetischen Besonderung im »Kunstwerk«, das eine Wirklichkeit eigener Art etabliert, ist Können, sind Künste verlangt zur Herstellung des Lebensnotwendigen. Herstellung und Gebrauch von Werkzeugen, die die Möglichkeiten der Bearbeitung des widerständigen Naturstoffs ungeheuer erweitern, werden zum Unterscheidungsmerkmal, das ›den Menschen‹ zum homo faber macht. Hephaistos, in dem Handwerker und Künstler noch durch keine Arbeitsteilung voneinander geschieden sind, bringt nützliche und zugleich schöne Dinge auf höchstem technologischen Niveau, der Metallbearbeitung, hervor. Und doch wird er, dem die Spuren der Arbeit mit Ruß ins Gesicht geschrieben sind, von den andern Olympiern von oben herab behandelt. Wie auf Erden so im Himmel. Der Handwerker, dessen Können der Arbeitsschweiß anhaftet, bedarf der Sublimierung zum Künstler, der für den Repräsentationsbedarf der Herrschenden und für die Produktion des Kunstwerks als der Ausnahmeware allein zuständig wird. Was den Bildhauer vom Steinmetz trennt, ist nicht nur seine Bildmächtigkeit, sondern auch die ideologische Funktion seines Produkts.

Die vertikale Arbeitsteilung zwischen Künstler und Handwerker kreuzt sich mit der horizontalen der Künste. Jede hat ihre spezifischen Stärken: Was die Literatur in eine Abfolge von Sätzen oder Versen bringt, müssen die bildenden Künste simultan darstellen – die Plastik als Ordnung im Raum, die Malerei flächig, als illusionären Raum. Das Drama verbindet Sprache und Bild in der Aufführung. Der Film erschließt die Welt in einer neuen Sprache und bringt seine eigene Poetik hervor. Doch die dinglichen Bilder und Skulpturen ziehen den Fetischcharakter der Ware an. Kunstwert und Tauschwert schmelzen zusammen mit der ideologischen Macht. Es bedarf der Kunst der Kritik, um die Wahrheit der Kunst aus dieser Legierung zurückzugewinnen.

Um gesellschaftliches Oben und Unten in der Bewunderung zu vereinen, muss die Kunst etwas aus der Wirklichkeit derjenigen aufnehmen, die in den Steinbrüchen fürs Rohmaterial schuften. In Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands erkennen die jungen Arbeiter in den auf dem Pergamonaltar dargestellten Kämpfen in den »knienden vertierten Wesen« das ihnen zugedachte Schicksal. Was als »Bild einer unumstößlichen Ordnung« gedacht ist, wird für sie, unter Anleitung eines »Fünfzehnjährigen, der Wissenschaftler sein wollte und Seher«, zu einem Lehrstück über die Entstehung von Kunst aus »Herrschsucht und Erniedrigung«. Dass sie es so verstehen, setzt seinerseits einen Produktionsprozess voraus, eine Verstehenskunst, die in keinem Museumsführer der Welt gelehrt wird. Brechts Frontstellung gegen einen »Kult des Schönen«, der mit der »Abneigung gegen das Lernen und der Verachtung des Nützlichen« (Kleines Organon, GW 16, 661) einhergeht, liegt quer zur traditionellen Auffassung, die die Gebildeten oben und die Ungebildeten unten vermutet. »Beim Anhören von Versen / Des todessüchtigen Benn / Habe ich auf Arbeitergesichtern einen Ausdruck gesehen / Der nicht dem Versbau galt und kostbarer war / Als das Lächeln der Mona Lisa.« (»Buckower Elegien«, 1953, GW 10, 1018)

Max Raphael erhoffte sich vom Kunstwerk die Befreiung schöpferischer Kraft, einen »Umschwung vom Geschaffenen zum Schaffen«, der geeignet wäre, einen »allgemeinen Zweifel an dem Gegebenheitscharakter der Welt« zu erzeugen (1978, 387). Guernica, Picassos für den spanischen Pavillon bei der pariser Weltausstellung von 1937 gemaltes »Jahrhundertbild« (Imdahl 1985, 45), wird für immer ein Anlass sein, »sich jener Gewalttat des Faschismus [...] zu vergewissern« (93). Eine Anzeigenkampagne der Bundeswehr Anfang der 1990er, um sich, nach dem Wegfall der Bedrohung aus ›dem Osten‹, als Friedensmacht zu inszenieren, mobilisierte, indem sie Picassos Gemälde verwendete, den Widerstand: Seine in der visuellen Kultur der Gegenwart verankerte Botschaft war nicht »provokativ umzukehren« (Werckmeister 1997, 104). Alfred Hrdlicka sah in der Bildenden Kunst »das ideale Medium«, um »weltanschauliche Statements« unter die Leute zu bringen, denn eine »unbewegliche Kunst wie das Mahnmal – mitten in der Stadt aufgestellt – [hat] die größte Wirkung« (zit.n. Ivo Hammer, in: Argument 285, 34).

Carlo Schellemann, dessen Bild »Der Nachmittagstee« von 1956 auf dem Umschlag dieser Ausgabe zu sehen ist, kam als Mitorganisator der Wanderausstellung »Künstler gegen den Atomkrieg« (1958-1963) mit dieser Zeitschrift, die damals Organ der Antiatombewegung war, in Kontakt. Die Kunst, so schrieb er im Argument 17 vom Oktober 1960, hat dort ihre »sehr legitime Aufgabe«, wo sie von ihren »einmaligen Ausdrucksmöglichkeiten« Gebrauch macht, »um die Öffentlichkeit zu warnen, Gefahren bildlich darzustellen, und Ausblicke zu schaffen«. Wozu die seismographische Sensibilität der Kunst, wo das Verhängnis offen zu Tage liegt? Doch wo die Interessen konträr sind, kann es keine für alle unmittelbar transparente Wirklichkeit geben. Racine soll behauptet haben, ein guter Dichter könne für die größten Verbrechen Verständnis wecken. Warum nicht auch für die größten Wohltaten? Die ästhetische Transformationskraft der Kunst ist notwendig ambivalent: Sie kann sich der Lüge wie der Wahrheit verschreiben, weil die eine wie die andere nur geglaubt werden, wenn man sie recht zu schildern weiß. Selbst das Speichellecken will als »Kunst« geübt sein, spottet Brecht in seiner Tui-Satire. »Abwesenheit von Herrschenden führt zu ihrem Verfall.« (GW 12, 683) Was gekonnt wird, ist gegensätzlich wie die gesellschaftlichen Verhältnisse antagonistisch sind.

Literatur

Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt/M 1970

Imdahl, Max, Picassos Guernica, Frankfurt/M 1985

Raphael, Max, Arbeiter, Kunst und Künstler, Dresden 1978

Werckmeister, Otto Karl, Linke Ikonen. Benjamin, Eisenstein, Picasso – nach dem Fall der Mauer, München 1997

Die Printversion ist erschienen in:
Das Argument 293 (4/2011), »Was kann Kunst?«, S. 508-10