Staat und Revolution 2.0

Zum 75. Geburtstag von Nicos Poulantzas (1936-1979)

Am 30. September jährte sich in diesem Jahr zum 75. Mal der Geburtstag von Nicos Poulantzas. Obwohl er, gerade einmal nur 43-jährig, schon im Jahr 1979 durch Suizid starb, hinterließ er dennoch ein umfangreiches politisches und wissenschaftliches Werk, über das immer noch - und seit einigen Jahren wieder verstärkt - intensiv diskutiert und gestritten wird. Andreas Diers erinnert an den marxistischen Staatstheoretiker und seine nach wie vor aktuelle Bedeutung für die heutige gesellschaftliche und politische Linke.

Bekannt wurde Poulantzas in der Bundesrepublik Deutschland als ein bedeutender neo-marxistischer Denker über die Problematiken materialistischer Staatstheorie sowie als Theoretiker einer euro-kommunistischen Politik der ArbeiterInnenbewegung v.a. durch sein Konzept der relativen Autonomie des Staates sowie durch seine Auseinandersetzung mit dem britischen Marxisten Ralph Miliband (1924-1994), dem Vater des gegenwärtigen Vorsitzenden der Labour-Party Ed Milliband und dessen gleichfalls in der Labour-Party aktiven Bruders David Milliband. Zugleich betätigte sich Poulantzas auch aktiv in mehreren politischen sowie gewerkschaftlichen Organisationen der sozialistischen Bewegung, wie der Kommunistischen Partei Griechenlands (Inland), der Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT), für deren Zeitungen und Zeitschriften er zahlreiche Artikel schrieb. Dieses auch aktive politische Engagement reflektiert Nicos Poulantzas' Unterstützung des demokratischen Sozialismus und der radikal-demokratischen Positionen beispielsweise von Rosa Luxemburg (1871-1919), Antonio Gramsci (1891-1937) und der eurokommunistischen Bewegungen seiner eigenen Zeit.

Geboren in einer prominenten Familie in Griechenland, studierte Poulantzas zunächst in den Jahren 1953 bis 1957 Rechtswissenschaften an der Universität von Athen . Während seines Studiums war er in der Studierendenbewegung aktiv, außerdem wurde er Mitglied in der Eniea Dimokratiki Aristera (Vereinigung der Demokratischen Linken), die als politischer Ersatz für die verbotene kommunistische Partei gegründet worden war.

Nach einem dreijährigen Militärdienst ging Poulantzas nach Frankreich, wo er im Jahr 1961 in Paris mit einer Arbeit über das Thema Renaissance des Naturrechts in Deutschland in Rechtsphilosophie promovierte. Hier fand er in den 60er Jahren seine zweite Heimat. Seine Absicht, in München zu promovieren, scheiterte an dem damals noch sehr konservativen, für ihn wenig attraktiven akademischen Milieu. Im Jahr 1964 habilitierte Nicos Poulantzas anschließend auch in Frankreich. Die Theorie des Marxismus lernte er vor allem über die Werke von Jean-Paul Sartre (1905-1980) kennen, denn die ›klassischen‹ Werke des Marxismus waren in Griechenland während der Jahre der Militärdiktatur nur schwer zugänglich gewesen. Neben dem existentialistisch ausgerichteten Werk Jean-Paul Sartres waren in dieser Zeit besonders die Schriften von Lucien Goldmann (1913-1970) sowie von Georg Lukacs (1885-1971) für das Marxismusverständnis von Nicos Poulantzas von Bedeutung, sein damaliges Verständnis der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels wurde durch sie zunächst noch stark beeinflusst. Allerdings erkannte er auch immer stärker die Grenzen seines theoretischen Verständnisses und wandte sich deshalb den Theorien Antonio Gramscis zu. Er begann zu lehren, schrieb für die Zeitschrift Les Temps Modernes und bewegte sich in den Kreisen um Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir (1908-1986) und Maurice Merleau-Ponty (1908-1961). Durch einen Artikel in Les Temps Modernes wurde Louis Althusser (1918-1990) auf ihn aufmerksam und es entwickelte sich eine Zusammenarbeit. Zu dieser Zeit begann Poulantzas mit seinen eigentlichen staatstheoretischen Arbeiten, wobei er nun in seinen Überlegungen besonders von dem Werk Antonio Gramscis sowie der strukturalistischen Marxismusauffassung Louis Althussers beeinflusst wurde.

Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und politischen Überzeugungen veranlassten ihn 1968 zu seinem Engagement in der damals existierenden eurokommunistischen griechischen Partei KKE tou Esoterikoú (KP des Inlands), einer Abspaltung von der zu dieser Zeit sehr ›orthodox kommunistischen‹ und ›an Moskau orientierten‹ Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), in deren Nachfolge heute in Griechenland der Synaspismos steht. Mit seiner Kritik wandte er sich von einem wie auch immer begründeten ökonomischen Determinismus für die historischen Entwicklungen ab, der zu dieser Zeit innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Bewegung weit verbreitet war, wie er auch eine grundsätzlich anti-stalinistische Haltung gegenüber dem damals bestehenden System des ›Staatssozialismus‹ und den mit diesem mehr oder weniger eng verbundenen orthodox-kommunistischen Parteien einnahm.

Die Miliband-Poulantzas-Debatte

Das erste Werk von Nicos Poulantzas, das eine bedeutende Aufmerksamkeit erlangte, war das im Mai 1968 in Frankreich veröffentlichte Buch Political Power and Social Classes (Politische Macht und gesellschaftliche Klassen). In diesem Werk formulierte er zum ersten Mal die Idee der "relativen Autonomie des Staates im Kapitalismus". Dahinter steht die Erkenntnis, dass der Staat im Kapitalismus in der Lage sein muss, gegebenenfalls auch gegen die individuellen und besonderen Interessen von Kapitalisten zu agieren, um im allgemeinen Interesse der kapitalistischen Klasse handeln zu können. Dieses impliziert nach Meinung von Nicos Poulantzas, dass der Staat nicht bloß auf die mehr oder weniger reine Reflexion der wirtschaftlichen Beziehungen oder Interessen der herrschenden Klassen reduziert werden könne, so wie es allgemein die ›orthodoxen‹ MarxistInnen oftmals getan haben. Im Gegensatz zu diesen argumentiert Poulantzas, dass der Staat im Kapitalismus den institutionellen Raum für verschiedene Fraktionen der kapitalistischen Klasse sowie anderer mächtiger Klassen biete, damit diese zusammen langfristige Strategien und Allianzen bilden. Dadurch schaffen diese Klassen das, was Poulantzas als den "Power-Block" - den "Block an der Macht" bezeichnet. Durch die damit zusammenhängende ›Isolationswirkung‹ werde vor allem die Arbeiterklasse desorganisiert und desorientiert.

Im Jahr 1969 erschienen in der Zeitschrift New Left Review dann anschließend an das Werk Politische Macht und gesellschaftliche Klassen mehrere kritische Artikel von Nicos Poulantzas zu dem Buch von Ralph Miliband The State in Capitalist Society (Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft), die gleichfalls große Aufmerksamkeit erlangt haben. Diese Kritiken sind die erste Etappe von dem gewesen, was anschließend und bis heute allgemein als die "Miliband-Poulantzas-Debatte" bekannt ist.

Sie entzündete sich vor allem an der Problematik, ob die jeweilige klassenmäßige Orientierung des Staates entweder weitgehend davon abhängig ist, von welcher Klasse diejenigen Personen gekommen sind und welcher Klasse sie angehören, die die wesentlichen wichtigen Positionen innerhalb der staatlichen Institutionen innehaben (Miliband) - oder ob die jeweilige klassenmäßige Orientierung des Staates jeweils ein Produkt seiner Strukturen und Funktionen ist (Poulantzas). Etwas vergröbert gesagt haben sich die MarxistInnen zu dieser Zeit weitgehend in zwei Lager geteilt: einerseits in diejenigen, die in der Denkweise von Ralph Miliband stehend als InstrumentalistInnen bezeichnet werden können, - und andererseits in diejenigen MarxistInnen, die in der Denkweise von Nicos Poulantzas stehend als StrukturalistInnen bezeichnet werden können. Diese Debatte hat auf jeden Fall das wesentlich gestiegene und erneuerte Interesse von MarxistInnen an einer Theorie der Politik offenkundig gemacht, und vor allem hat sie mit den offenen Fragestellungen ein erhebliches Anwachsen der materialistischen Forschungen über die Staatstheorie seit Ende der 60er Jahre veranlasst.

Nach den Pariser Mai-Ereignissen im Jahr 1968 wurde Nicos Poulantzas an die neu gegründete Reformuniversität von Vincennes berufen, an der auch andere bekannte Persönlichkeiten wie Michel Foucault (1926-1984) und Gilles Deleuze (1925-1995) tätig waren und lehrte und forschte dort im Bereich der Sozialwissenschaften. In den Jahren 1974 und 1975 lehrte Nicos Poulantzas als Gastprofessor an der Universität in Athen. Ebenfalls im Jahr 1974 erhielt er auch einen Ruf an die Universität Frankfurt. Diese Stelle nahm er zwar an und unterrichtete dort für einige Wochen im Sommersemester 1974. Auf Grund von offensichtlich unüberbrückbaren Verhandlungsschwierigkeiten mit dem zuständigen hessischen Ministerium gab er die Stelle jedoch sehr schnell wieder auf.

Dozententätigkeit in Paris

Während der Zeit seiner Dozententätigkeit wurde im Jahr 1970 die Untersuchung Faschismus und Diktatur veröffentlicht. Dieses Werk ist vor allem eine empirische Fallstudie über seine theoretischen Erkenntnisse. Poulantzas untersuchte in dieser Analyse besonders die klassenmäßigen Grundlagen des Faschismus. Er argumentiert, dass der faschistische Staat eine außergewöhnliche Form des kapitalistischen Staates sei. Der Faschismus ist seiner Ansicht nach weder unvermeidlich noch eine natürliche Phase in der Entwicklung des Kapitalismus, vielmehr eine Art Reaktion auf eine Krise der Politik, die sich auch in Zukunft durchaus wiederholen könne. Ähnliche Argumentationen sind auch in der Studie von Poulantzas Die Krise der Diktaturen: Spanien, Portugal, Griechenland aus dem Jahr 1975 zu finden. In dieser ersten materialistischen Analyse der Demokratisierung faschistischer Systeme argumentierte Nicos Poulantzas, dass der Übergang zur Demokratie in jedem dieser Länder vor allem das Ergebnis eines politischen Konflikts zwischen zwei wichtigen Fraktionen der kapitalistischen Klasse gewesen sei, einerseits der inländischen Bourgeoisie und andererseits der Kompradorenbourgeoisie, die er als "Träger und Agent des ausländischen Kapitals" begreift.

In einer weiteren theoretischen Arbeit Klassen im gegenwärtigen Kapitalismus lieferte Poulantzas im Jahr 1974 einen bedeutenden Beitrag zur Theorie der Klassen, indem er gegen die traditionelle Vorstellung einerseits der Klasse "an sich" und andererseits der Klasse "für sich" argumentiert, so wie sie von zahlreichen SozialistInnen und KommunistInnen vertreten worden ist. Nach Poulantzas Analyse würden Klassen gar nicht außerhalb von Konflikt und Klassenkampf existieren. In dieser Untersuchung, einer der wohl ersten und grundlegenden materialistischen Analysen der Globalisierung, behandelte Nicos Poulantzas auch die politischen Folgen der wachsenden Transnationalisierung des Kapitals sowie das Wachstum des ›neuen‹ Kleinbürgertums und dessen Folgewirkungen.

In seinem letzten Werk State, Power, Socialism kritisierte Poulantzas im Jahr 1978 unter anderem die Theorien von Michel Foucault und von Giles Deleuze. Dabei vervollständigte und differenzierte er zugleich auch seine eigenen früheren Theorien. Nicos Poulantzas definiert den Staat hier jetzt als eine soziale Beziehung und argumentiert, dass die Frage der relativen Autonomie des Staates im Kapitalismus eine Funktion des Klassenkampfes sei. Da der Staat eine jeweils spezifische materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen Klassen sowie Klassenfraktionen sei, sei die relative Autonomie des Staates keine fixe Größe, sie sei vielmehr variabel und immer in Bewegung. Keine Klasse habe jemals die volle Kontrolle über den Staat im Kapitalismus, der Staat müsse immer auch die Interessen der beherrschten Klassen in integrierender Funktion berücksichtigen.

Angesichts seiner Beiträge zu ganz wesentlichen Fragen der politischen Strategie und Taktik der demokratischen sowie der sozialistischen Bewegung und seine Unterstützung für einen demokratischen Übergang zum Sozialismus, sowie auch angesichts der Aneignung seiner Ideen durch radikal-demokratische Strömungen in Frankreich, Italien und vor allem Portugal, Spanien und Griechenland, ist Nicos Poulantzas ein wichtiger Theoretiker des historischen Eurokommunismus und des gegenwärtigen demokratischen Sozialismus. Trotz seines frühen Todes sind seine konzeptionellen wissenschaftlichen und politischen Beiträge immer noch äußerst relevant.

Für die spezielle materialistische Analyse der Konstituierung von Staatlichkeit im Kapitalismus und der Veränderung des Staates unter den Bedingungen der Globalisierung hat sich die Theorie von Nicos Poulantzas schon bisher als grundlegend und sehr fruchtbar erwiesen. Denn er hat mit seiner an Gramsci anschließenden Erkenntnis, dass der Staat die materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses ist, nicht nur einerseits eine fundamental andere Konzeption über die Staatlichkeit im Kapitalismus und die darauf wiederum begründete Strategie und Taktik der sozialistischen Bewegung entwickelt als es die ProtagonistInnen des konventionellen "Marxismus-Leninismus" propagierten. Nicos Poulantzas hat zugleich auch einen anderen konzeptionellen Pfad eingeschlagen als es die in den 1960er und 1970er Jahren die Diskussionen dominierenden kapitallogischen und demokratietheoretischen Vorstellungen nahe legten. Der Staat im Kapitalismus ist für Poulantzas ein spezielles Gebiet der gesellschaftlichen Konfliktaustragung. Dieses besondere Terrain konstituiert sich dabei sowohl in als auch durch die Austragungen der gesellschaftlichen Konflikte. Die Austragungen der gesellschaftlichen Kämpfe selber verdichten sich für Nicos Poulantzas in der institutionellen staatlichen Materialität. Seiner Meinung nach ist der Staat als strategisches Feld der Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Klassen sowie Fraktionen der einzelnen Klassen zugleich sowohl ein Medium der Kämpfe als auch selber ein umkämpftes Medium. Nur mittels des Staates ist es nach der Konzeption von Nicos Poulantzas für die herrschenden Klassen möglich, sich als jeweiliger ›Block an der Macht‹ zu konstituieren. Dieser dient gleichzeitig auch der Desorganisierung der beherrschten Klassen und Schichten der Bevölkerung des jeweiligen Landes.

Gegen Sozialdemokratie und Stalinismus

Nicos Poulantzas vertrat das Konzept einer radikalen Transformation des Staates im Kapitalismus, die auf das umfassende Eingreifen der BürgerInnen in den Staat zielt. Die Übernahme der Staatsmacht setze einen langen Prozess der Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses und die gleichzeitige Transformation des Staates voraus. Für ihn ist jeder Sozialismus entweder demokratisch oder aber er ist kein Sozialismus. Aus der geschichtlichen Erfahrung heraus müssen die beiden ›Klippen‹ der politischen Konzeption der Sozialdemokratie und des Stalinismus umschifft werden, um sowohl autoritäre und diktatorische als auch reformistische Ansätze, die der Illusion einer instrumentellen ›Neutralität‹ des Staates aufsitzen, zu vermeiden. Beiden politischen Typen seien ein überdimensionierter Etatismus sowie damit zusammenhängend eine Angst vor dem selbständigen Agieren der Bevölkerung gemeinsam. Dagegen müsse nach Meinung von Nicos Poulantzas die wesentliche politische Bedeutung der Selbstverwaltung und die Basisdemokratie betont werden. Die (durchaus solidarische) Kritik Rosa Luxemburgs an der politischen Konzeption von Lenin teilend betonte Nicos Poulantzas neben der Schaffung und Erweiterung direkter und basisdemokratischer Strukturen auch die Bedeutung und Erweiterung der repräsentativen demokratischen Elemente und der politischen Freiheiten.

Nicos Poulantzas kritisierte die von Lenin und der Kommunistischen Internationale entwickelte politische konzeptionelle Vorstellung einer Doppelherrschaft von organisierten Massen neben dem Staat, der eine gegnerische Festung mit Schutzgräben usw. bilde, die von Außen eingenommen werden müsse, generell und grundlegend. Seiner Meinung nach sind die Klassenkämpfe vielmehr in diesen Staat selber eingeschrieben, wobei es dann auch mehr oder weniger unwesentlich sei, ob diese Klassenkämpfe entweder unmittelbar in den Staatsapparaten oder aber außerhalb dieser stattfinden, d.h. sowohl in als auch zugleich außerhalb des Staates. So richtig die Kritik von Nicos Poulantzas an der staatspolitischen Konzeption von Lenin zweifellos im Lichte der Erfahrungen des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts ist, so scheint bei ihm - anders als etwa bei Antonio Gramsci sowie anders als bei Wolfgang Abendroth und der von ihm nach 1945 angesichts der Resultate des Zweiten Weltkrieges grundlegend veränderten globalen Kräfteverhältnisses für die BRD entwickelten Konzeption eines ›potentiell systemtransformierenden Charakters der Rechtswissenschaften und des Rechtssystems‹ - der sehr wichtige historische Aspekt und der damit zusammenhängende Aspekt der grundlegenden Veränderungen des Staates im Kapitalismus zumindest sehr ungenügend berücksichtigt zu sein.

Die größte Gefahr für den demokratischen Sozialismus geht entsprechend der Theorie von Nicos Poulantzas von der Bourgeoisie und den (politischen, ideologischen, ökonomischen, Gewalt-) Mitteln, die ihnen besonders auch durch die Gewährleistung weitgehender politischer und freiheitlicher Rechte zur Verfügung stehen, aus. Die einzige Sicherung gegen diese Gefährdung besteht für Nicos Poulantzos in der aktiven Beteiligung eines möglichst großen Teils der ArbeiterInnenklasse sowie anderer Volksschichten an dem Transformationsprozess des Staates und in der Einführung von direkter Demokratie und Selbstverwaltung.

Dem ökonomischen Staatsapparat maß Nicos Poulantzas eine besondere Bedeutung bei. Dieser müsse einerseits radikal transformiert, andererseits könne er jedoch nicht sofort vom einen auf den anderen Tag zerschlagen werden, ohne eine Wirtschaftskrise zu riskieren. Auch wären viele weitere Staatsapparate zur Reproduktion der Produktionsverhältnisse erforderlich. Der harte Kern der kapitalistischen Produktionsverhältnisse müsse nach Auffassung von Nicos Poulantzas in einer ersten Phase der Transformation beibehalten werden, die Transformation der Produktion müsse demnach schrittweise verlaufen. Nicos Poulantzos betonte in seinen Schriften nicht zuletzt auch die wesentliche Bedeutung des ökonomischen Staatsapparats während der Transformation für die politische und ökonomische Sicherung einer selbstverwalteten Produktion.

Perspektiven des Werks

Manches immer noch vorhandene Defizit und manche Leerstelle im kritischen materialistischen Verständnis von Staatlichkeit im Kapitalismus in der Politik der sozialistischen Bewegung könnte sicherlich durch eine noch genauere, kritische und intensivere Rezeption der Schriften von Nicos Poulantzas ausgeglichen werden. Dabei ist es natürlich gleichzeitig erforderlich, die auch in seiner Theorie vorhandenen ›Weißen Flecken‹ zu klären. Auf jeden Fall hat Nicos Poulantzas schon die ganz wesentlichen der dafür notwendigen Instrumente und Begrifflichkeiten ausgearbeitet. Möglicherweise wäre in diesem Zusammenhang auch ein In-Beziehung-Setzen und Vergleichen zwischen der Theorie von Nicos Poulantzas und der von Wolfgang Abendroth wissenschaftlich sowie politisch anregend und ertragreich - zumindest bezogen auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen einer demokratisch-sozialistischen Politik der gesellschaftlichen sowie der parteipolitischen Linken in der BRD. Denn obwohl es zwischen den beiden Theoretikern zweifellos durchaus größere und spannende Differenzen gibt, so gibt es dennoch auch offensichtlich wichtige Übereinstimmungen. Diese sind nicht zuletzt ganz wesentlich in der Traditionslinie Rosa Luxemburg-Antonio Gramsci begründet, in der sowohl Nicos Poulantzas als auch Wolfgang Abendroth standen.

Mittels der Begrifflichkeiten von Nicos Poulantzas ist es möglich, in der materialistischen Analyse von Staatlichkeit im Kapitalismus nicht nur die ›traditionellen‹ Klassenproblematiken wissenschaftlich zu untersuchen - es ist auch generell möglich, über diese hinausgehende Aspekte gesellschaftlicher Konflikte und Kämpfe in die jeweiligen Analysen mit einzubeziehen und anregend sowie ertragreich zu behandeln, zum Beispiel Genderproblematiken, Herausforderungen an die materialistische Staatstheorie angesichts eines sich transnationalisierenden Staates und einer neuartigen vielschichtigen Konfiguration überstaatlicher, substaatlicher, parastaatlicher und staatlicher Apparate sowie privater Akteure, schließlich spezielle Fragen der europäischen Integration oder Thematiken der Ethnien, der Migration sowie des Rassismus.


Dr. Andreas Diers ist Jurist und freiberuflich wissenschaftlich tätig. Er veröffentlichte u.a. eine Biographie über Wolfgang Abendroth.