Politische Ökologie und die Notwendigkeit eines langen Atems

Ein Gespräch mit dem anarchistischen Umweltaktivisten Michael Wilk

Der 1956 geborene libertäre Autor (1) und Aktivist Michael Wilk arbeitet als Arzt und Psychotherapeut in Wiesbaden. In seinen theoretischen Auseinandersetzungen widmet er sich u.a. den Themen Macht, Herrschaft und Staatskritik. Seiner kritischen Bewertung von Herrschaftskonzepten, u.a. dem Mediationsverfahren, stellt er Ansätze emanzipatorischer Strategien gegenüber. Mit ihm sprachen GWR-Redakteur Bernd Drücke und die GWR-PraktikantInnen Monika und Jonathan. (GWR-Red.)

 

Bernd Drücke: Wie schätzt Du die Situation der Anti-Atomkraft-Bewegung, jetzt, ein Jahr nach Beginn des Super-GAUs in Fukushima, ein?

 

Michael Wilk: Man kann leider feststellen, dass ein gewisser Teilerfolg in Sachen Atom-Ausstieg in der Bevölkerung als Ge­samterfolg verbucht wird. So ist die Anti-Atom- Bewegung, nach dem großen Aufschwung nach Fukushima, leider wieder im Niedergang, da die Leute sich nach dem, in unseren Augen faulen, Ausstiegskompromiss, haben zufrieden stellen lassen.

 

Monika: Du bist promovierter Arzt und engagiert in der Anti-Atomkraft-Bewegung sowie in anderen Organisationen und Zusammenhängen. Wie schaffst Du es, Dein Engagement und den oft als stressig beschriebenen Beruf, unter einen Hut zu bringen?

 

Michael Wilk: Ich versuche die Arbeit, die ich leidenschaftlich gerne mache, ein Stück weit zu begrenzen und habe es irgendwie geschafft mich, neben meinem Job, der sozial-ökologischen Politik zu widmen, ohne mich in irgendeiner Partei zu engagieren. Das geht nur dadurch, dass man die professionelle Arbeit begrenzt. Ich habe in meiner Gemeinschafts-Praxis z.B. eine Vier-Tage-Woche.

Auch die Arbeit als Notarzt habe ich etwas begrenzt, so dass genügend Zeit für politische Aktivitäten bleibt.

 

Jonathan: Wann hast Du Dein kritisches Verhältnis zur Atomkraft entwickelt?

 

Michael: Das war schon relativ früh. Ich wurde im Grunde genommen schon Anfang der 70er Jahre politisiert. Dann haben wir 1974 die Platzbesetzung des AKWs in Wyhl, bei Freiburg, begeistert aufgenommen. Das hat mich vom politisch-em­anzipatorischen Aspekt schon sehr beeindruckt und das führte zu einer genauen Auseinandersetzung mit Atomenergie und der Problematik von atomarer Energieerzeugung an sich.

 

Bernd Drücke: Du bist aktives Mitglied u.a. im Arbeitskreis Umwelt Wiesbaden. Was sind da Eure Arbeitsschwerpunkte?

Was macht Ihr als Gruppe?

 

Michael Wilk: Dieser Arbeitskreis ist eine der ältesten Initiativen der Republik. Er wurde 1976 anlässlich der großen Brokdorf-Demonstration gegründet. Wir haben als Schwerpunkte hauptsächlich Anti-AKW, allerdings jetzt auch regionalbezogene Themen wie den Ausbau des Flughafens in Frankfurt.

Der Arbeitskreis hat aber auch immer Regional- und Stadtentwicklungspolitik gemacht und wenn das anliegt, auch antifa­schistische Aktionen.

 

Monika: Du bist schon lange in der Umweltbewegung aktiv. Hast Du merkliche Veränderungen wahrgenommen, z.B. im Bezug auf das Engagement der Bevölkerung und die Wahrnehmung in der Politik?

 

Michael Wilk: Als wir Anfang der 70er Jahre angefangen haben überhaupt die breite Öffentlichkeit zu informieren, ging es einem oftmals so, dass man als Spinner verschrieen wurde, oder die Leute haben gedacht wir würden im Strickpullover bei Kerzenlicht an der Möhre knabbern, was natürlich Unsinn ist. Aber es ist uns gelungen, auch nach Tschernobyl, ein realistisches Bild der Gefahren von Atomkraft so zu verbreiten, dass die Meinung gekippt ist und ein Großteil der Bevölkerung der Bundesrepublik sich gegen atomare Energie ausspricht.

Am Anfang war das Verbreiten dieses Bildes der Gefahren von Atomkraft eine mühselige Kleinarbeit, sozusagen vom po­litischen Abseits in das Zentrum einer sozialen Bewegung. Hier oft auch leider den Okkupationsversuchen politischer Parteien ausgesetzt.

Ohne Beispiel sind natürlich die Grünen, die mit dieser Bewegung groß geworden sind und jetzt leider in den letzten Jahrzehnten eine faule Kompromisspolitik betreiben, die auch zum Weiterbetrieb atomarer Anlagen in Deutschland beiträgt.

 

Bernd Drücke: Zu den Grünen noch einmal konkret: Siehst Du Parallelen zwischen den Protesten gegen Stuttgart 21 und der Flughafen-Bewegung? Auch im Zusammenhang mit den Mediationsverfahren und der Befriedigungspolitik, die von Seiten der Parteien ausgeht?

 

Michael Wilk: Es ist schon sehr früh feststellbar gewesen, dass dort die emanzipative Bewegung aktiv war, also Leute, die sich vorher nicht engagiert hatten, dann anfangen Dinge zu hinterfragen, sei es Stuttgart 21 ebenso wie Fluglärm oder Zerstörung des ökologischen Umfelds durch den Frankfurter Flughafen. Wenn dann große Menschenmassen anfangen, sich zu engagieren, ist das der herrschenden Politik natürlich ein Dorn im Auge.

Entsprechend gibt es Methoden, das dann relativ früh wie­der einzubinden oder besser noch zu unterbinden. Was da­mals an der Startbahn West noch eine gewalttätige Auseinandersetzung wurde, das fürchtet die offizielle Politik natürlich, wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb hat man jetzt verschiedene Methoden ins Leben gerufen bzw. übernommen, vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum, wie z.B. Mediationsverfahren. Das sind Verfahren, die der Bevölkerung als Kompromissfindungsverfahren verkauft werden. Sie haben aber letztendlich oft nur den Zweck, Protestbewegungen, die auf der Straße ihre Highlights feiern und andere Leute motivieren können, an den Verhandlungstisch zurückzukriegen und dort Proteste in zivilem Rahmen, von der Straße weg an den „Grünen Tisch“ zurückzuführen, um diese zu entschärfen und harmlos zu machen. Das hat sich gezeigt in den Verhandlungen mit Hei­ner Geissler in Stuttgart.

Meiner Meinung nach hätte man sich gar nicht darauf einlassen sollen.

Hier am Frankfurter Flughafen mit der geplanten, jetzt in Betrieb genommenen Landebahn Nord, hat man aufgrund der Proteste damals bei der Startbahn West direkt von Anfang an auf ein Mediationsverfahren gesetzt. Da haben sich aller­dings über sechzig Bürgerinitiativen verweigert, so dass das Verfahren zwar durchgeführt wurde, aber letztendlich ohne Beteiligung der Bürgerinitiativen. Das war ein richtiger Schritt, denn das absolut magere Ergebnis dieses Mediationsverfahrens, wird heute von den Politikern und den Flughafenbetreibern nicht eingehalten, was zeigt, dass dieses Verfahren eine Verarsche der Bevölkerung war.

 

Bernd Drücke: Welche emanzipatorischen Ansätze, mit denen man dagegen vorgehen könnte, siehst Du?

 

Michael Wilk: Gesellschaftliche Veränderungen entwickeln sich nur aufgrund des Drucks der Straße.

Natürlich ist es dann ein Problem wie dieser Druck umgesetzt wird, auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Wir stoßen dann auch irgendwann an die parlamentarische „Verwurstung“ und da ist man dann natürlich mit der einen oder anderen Partei konfrontiert. Aber diese Parteien handeln letztendlich nur nach dem Druck, der von außen kommt.

Parteien denken immer nur unter dem Aspekt von vier oder fünf Jahres-Legislaturperioden. Sie denken nicht darüber hinaus, sondern orientieren sich am Machterhalt. Grundsätzlich ist das eine Maxime, die wir ablehnen. Grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen, ob ökologischer oder sozialer Natur, werden nur dadurch erreicht, dass die Leute konsequent ihre Meinung auf der Straße umsetzen und proklamieren.

 

Bernd Drücke: Du bist seit 1976 auch aktiv im Anarchistischen Forum Wiesbaden. Was ist für Dich Anarchismus?

 

Michael Wilk: Anarchie ist für mich erst einmal ein großer Lernprozess. Man muss Eigenverantwortung lernen und das ist natürlich nicht immer bequem. Auf der einen Seite hat die Anarchie, oder die Suche nach einer anarchistischen Lösung, also einer möglichst herrschaftsfreien Gesellschaft, viel mit dem Lernen eigener Verantwortung zu tun.

Andererseits ist Anarchie durchaus auch ein Lustprozess, weil die kleinen Erfolge, die wir in dieser Auseinandersetzung haben, erheblich zum Wohlbefinden des einzelnen Menschen beitragen können.

 

Bernd Drücke: Welche libertären Perspektiven siehst Du momentan und wie schätzt Du die libertäre Bewegung in Deutschland, aber auch international ein?

 

Michael Wilk: Ich denke, dass gerade angesichts einer weltweiten ökonomisch-sozialen Krise, die Leute sehr schnell die Erfahrung machen werden, dass sie letztendlich ins Schleudern geraten, wenn sie sich immer nur auf die Parteien verlassen, so dass sie nicht weiterkommen.

Es gibt schlussendlich bezüglich der Eigeninitiative keine Alternative, nur im Lernen von Eigenverantwortung gibt es echte emanzipatorische Basisbewegungen. D.h., wir sind so­zusagen durchaus die Lösung eines Problems, was aber nicht heißt, dass die Lösung billig und um die Ecke zu haben ist.

Es bedeutet viel Arbeit und auch nach Land oder Situation, das Runterbrechen und Gucken was da anliegt.

Das ist in Griechenland z.B. ganz an­ders als im vergleichsweise in Fett und Wohlstand schwimmenden Deutschland, oder meinetwegen Situationen in der „Dritten Welt“, die ja ganz andere Lebensbedingungen haben.

Man kann da also nicht alle über einen Kamm scheren.

Was aber überall gleich ist, ist das Ausgehen von den Bedürfnissen der Bevölkerung, das solidarische Verhalten gegenüber anderen Leuten, das Sich-nicht-gegeneinander-ausspielen-lassen, dass man über den persönlichen Tellerrand hinausguckt und vor allem das Gucken, dass einzelne Menschen nicht wieder die Macht an sich reißen.

 

Jonathan: Welche Perspektiven siehst Du generell für den bundesweiten Atomausstieg?

 

Michael Wilk: Der bundesweite Teilausstieg ist für mich momentan in einer Art Zwischenschritt.

Was viele nicht wissen, oder verdrängt haben, ist, dass die eher neueren AKWs weiterlaufen.

Wir haben noch mindestens drei Bundestagswahlen, bis zu dieser geplanten endgültigen Abschaltung im Jahre 2021.

Das heißt, in dieser Zeit fallen Unmengen Atommüll an, die Produktion von Kernstoffen läuft weiter, wir haben die Probleme in Asse, die Probleme der Endlagerung generell, also sind wir im Grunde genommen von einer realen Umsetzung noch sehr weit entfernt und es ist noch viel Arbeit bis dahin.

Ganz abgesehen davon, dass unsere Nachbarländer munter weiter Atomkraft produzieren.

Strahlung macht an Landesgrenzen keinen Halt.

 

Bernd Drücke: Hast Du noch ein Schlusswort an die Leserinnen und Leser der GWR?

 

Michael Wilk: Lasst Euch nicht verdrießen. Genießt den Tag, aber bleibt bei der Stange!

 

Interview: Bernd Drücke, Jonathan und Monika

 

Das Interview mit dem telefonisch aus Wiesbaden zugeschalteten Michael Wilk wurde am 13. Februar 2012 im Studio des Medienforum Münster geführt und als Teil einer 55minütigen Radio Graswurzelrevolution-Sendung am 19. Februar im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz., www.antenne-muenster.de) ausgestrahlt.

 

Anmerkungen:

 1 Michael Wilk arbeitete am Trotzdem Verlag und an der „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“ Schwarzer Faden mit. Beiträge von ihm sind u.a. in der Graswurzelrevolution, der aaa, der FR, der jW und der Jungle World erschienen. Bücher: Der Malstrom (mit Wolfgang Haug) Aspekte anarchistischer Staatskritik. Grafenau 1995; Macht, Herrschaft, Emanzipation. Aspekte anarchistischer Staatskritik. Grafenau 1999; Technik des sozialen Friedens. Beteiligung als Akzeptanzmanagement. Kritik der Politik. Agnoli zum 75. Geburtstag Freiburg 2000; Turbulenzen. Gestern-Heute-Morgen. Widerstand gegen den Ausbau des Rhein-Main Flughafens. Geschichten, Facten Facetten. Grafenau 2002; Das Ziel sollte sein, Protest in Diskussion zu verwandeln… Wie das Mediationsverfahren gescheitert ist. Turbulenzen. Widerstand gegen den Ausbau des Rhein-Main-Flughafens. Grafenau 2002; Soziale Bewegungen im globalisierten Kapitalismus. Bedingungen für emanzipative Politik zwischen Konfrontation und Anpassung. Hg. (mit Rolf Engelke und Thomas Klein) FfM 2005, u.a.

 2 Siehe auch: Eine Region wird wach. Flughafen Frankfurt – Massive Proteste gegen die neu eröffnete Landebahn Nord, Artikel von Michael Wilk, in: GWR 366, Februar 2012, S. 1 f.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 368. 41. Jahrgang, April 2012, www.graswurzel.net