Mehr Klagerechte für Umweltverbände

Der Europäische Gerichtshof erklärt das deutsche Umweltrechtsbehelfsgesetz für europarechtswidrig

Die Bundesrepublik hat es einmal mehr vollbracht, sehenden Auges gegen geltendes Umwelt-Europa- und -Völkerrecht zu verstoßen. Das vermeintliche „Vorzeigeland“ im Umweltschutz setzt damit eine unrühmliche Geschichte partizipationsfeindlicher Umsetzungs-Blockaden im Umweltrecht fort.

Im Jahr 1998 unterzeichnete Deutschland neben 39 anderen Staaten der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN-ECE) das „Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“, die sogenannte Aarhus-Konvention[1]. Die Konvention befasst sich umfassend mit der Partizipation der Öffentlichkeit in Umweltangelegenheiten. Neben dem „klassischen“, auch aus dem deutschen Umwelt- und Bauplanungsrecht bekannten Instrument der „Beteiligung“ der Öffentlichkeit an staatlichen Entscheidungen im Sinne erweiterter Anhörungsverfahren enthält die Konvention mit Vorschriften zum Informationszugang und zu Klagerechten von Umweltverbänden Instrumente, die dem deutschen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht eher fremd sind. So galt in der Bundesrepublik lange der Grundsatz der „begrenzten Aktenöffentlichkeit“ und klagen kann wegen der von § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geforderten Klagebefugnis grundsätzlich nur, wer selbst in eigenen Rechten betroffen ist.

 

Deutsche Blockade

Jedenfalls der Informationszugang ist mittlerweile im Umweltrecht zugunsten von weitgehender Aktenöffentlichkeit reformiert worden – sowohl der Bund als auch die Länder verfügen über Umweltinformationsgesetze. Allerdings ging dies nicht ohne eine veritable juristische „Schlacht“ vonstatten: Noch weit im Vorfeld der Aarhus-Konvention hatte die Europäische Gemeinschaft (EG) 1990 das Thema in der Umweltinformationsrichtlinie[2] aufgegriffen. Umgesetzt wurde diese Richtlinie von Deutschland aber nicht nur zu spät, sondern inhaltlich auch ungenügend – erst auf eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH)[3] in einem von der Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren hin wurde die deutsche Gesetzeslage dem Gemeinschaftsrecht gerecht. Zuvor waren die Hürden für den Informationszugang unangemessen hoch. In einigen Ländern musste sogar noch Jahre später auf das Instrument der „unmittelbaren Anwendung“ der Richtlinie zurückgegriffen werden, weil diese sich ihrem Umsetzungsauftrag gänzlich verweigerten – so erließ Baden-Württemberg sein Umweltinformationsgesetz mit knapp 14 Jahren Verspätung im Jahr 2006, Bayern im Jahr 2007. Damit knüpfte Deutschland an eine Tradition der verspäteten und ungenügenden Umsetzung von europäischem Umweltrecht an, wenn dieses Instrumente vorsah, die dem deutschen Recht noch fremd waren. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Umweltverträglichkeitsprüfungs-(UVP-)Richtlinie[4], wo es 1995 auch erst zu einer Verurteilung durch den EuGH kommen musste, bevor Deutschland seiner Umsetzungspflicht nachkam.[5]

Ebenso unrühmlich verlief nun die Einräumung von Klagerechten für Umweltverbände, die in der Aarhus-Konvention und der darauf beruhenden Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie[6] der EG vorgesehen sind. Auch hier versäumte Deutschland zunächst die Umsetzungsfrist: Statt zum 25. Juni 2005 trat das deutsche Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) erst am 8. Dezember 2006 in Kraft. Und auch dies erst, nachdem die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte. Einen damit verbundenen Völkerrechtsverstoß konnte die Bundesrepublik nur vermeiden, indem sie die bereits 1998 unterzeichnete Aarhus-Konvention erst nach dem Erlass des UmwRG ratifizierte, wodurch eine völkerrechtliche Bindung erst am 15. Januar 2007 entstand.

 

Berechtigte Kritik und unhaltbare Ausflüchte

Allerdings wurde diese Umsetzung von vielen Umweltrechtler_innen von Anfang an für ungenügend und damit europarechtswidrig gehalten, weil sie die Klagerechte von Umweltverbänden zu stark beschränke.[7] Deren Klagebefugnis in Umweltsachen wird durch § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG nämlich auf solche Vorschriften begrenzt, die „Rechte Einzelner begründen“. Insoweit sind Umweltverbände zwar auch dann klagebefugt, wenn sie nicht in eigenen Rechten betroffen sind, aber doch nur hinsichtlich solcher Vorschriften, die subjektive öffentliche Rechte gewähren. Gerade im Umweltrecht begründen viele für den Umwelt- und Naturschutz bedeutsame Vorschriften aber keine solchen Rechte. Das betrifft insbesondere Normen, die der Vorsorge vor Umweltgefahren dienen; auch weite Teile des Natur- und Artenschutzrechts fallen so aus der Verbandsklagebefugnis nach dem UmwRG heraus.[8] In den Augen vieler Autor_innen widersprach dies dem von der Aarhus Konvention und der sie umsetzenden EU-Richtlinie geforderten „weiten Zugang zu Gerichten“ (Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention).

Von konservativer Seite wurde dagegen versucht, die „Errungenschaften“ des deutschen Verwaltungsprozessrechts vor der Gefahr einer europarechtsinduzierten „Aufweichung“ der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht zu bewahren. Manch einer ging so weit, in weiteren Verbandsklagebefugnissen die Überschreitung des rechtsstaatlichen Rubikons diagnostizieren zu müssen.[9] Hier wurden altbekannte Vorurteile gegen das Instrument der Verbandsklage aufgewärmt: Umweltverbände erhielten in ungleichem Maße Gestaltungsmacht; die rechtsstaatlich gebotene Verantwortlichkeit des Staates für seine Entscheidungen sei gefährdet. Dass den Umweltverbänden durch Klagemöglichkeiten lediglich das Recht eingeräumt wird, auf die Einhaltung von Gesetzen zu pochen und damit den rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzesbindung der Verwaltung durchzusetzen, wird von dieser Argumentation ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass ungleiche Einflusschancen aktuell regelmäßig der Vorhabenträger_innenseite (und damit zumeist der Industrie) zugutekommen, die in Genehmigungsverfahren informell umfassend mit den Genehmigungsbehörden „kooperieren“. Als weiterer Einwand wurde die im europäischen Vergleich hohe Kontrollintensität des deutschen Verwaltungsprozessrechts angeführt, die dann aber notwendig einen engen Zugang zu den Gerichten bedinge. Und natürlich wurde nicht versäumt, vor drohenden „Prozesslawinen“ und der Verzögerung von Genehmigungsverfahren zu warnen.

Dementsprechend war man sich auch nicht zu schade, an Intention und Wortlaut von Aarhus-Konvention und Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie vorbei zu argumentieren, dass die Bundesrepublik für Verbandsklagen eine subjektive Rechtsverletzung zur Klagevoraussetzung machen könne.[10] Während es zutreffend ist, dass es den Konventionsstaaten hinsichtlich von Individualklagebefugnissen freisteht, als Zulässigkeitsvoraussetzung bereits ein „ausreichendes Interesse“ genügen zu lassen oder eine „Rechtsverletzung“ zu fordern (Art. 9 Abs. 2 S. 1 Aarhus-Konvention), so stellt Satz 3 der gleichen Vorschrift klar, dass Umweltverbände von vornherein als Träger ebendieser Rechte gelten. Nach Satz 2 ist die Vorschrift zudem im Einklang mit dem Ziel auszulegen, der Öffentlichkeit einen „weiten Zugang zu Gerichten“ zu gewähren.

 

Schallende Ohrfeige des Europäischen Gerichtshofs

So sah es nun auch der EuGH, der in kaum zu übertreffender Klarheit feststellte, dass § 2 UmwRG dem Ziel eines weiten Zugangs zu Gerichten diametral entgegensteht. Die Vorschrift nehme den Umweltverbänden die Möglichkeit, „die Rolle zu spielen, die ihnen sowohl die Richtlinie [...] als auch das Übereinkommen von Aarhus zuerkennen.“[11] Sie widerspreche „dem Ziel [der Richtlinie], der betroffenen Öffentlichkeit ‚einen weiten Zugang zu Gerichten‘ zu gewähren“. Auch sei es unvereinbar mit „dem Effektivitätsgrundsatz, wenn die betreffenden Verbände nicht auch eine Verletzung von aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangenen Rechtsvorschriften geltend machen können, nur weil Letztere Interessen der Allgemeinheit schützen.“[12] Ihren krönenden Abschluss fand diese Schelte des EuGH für die deutsche Umweltpolitik in der Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie: Bis zur europarechtskonformen Umsetzung sei Umweltverbänden in Deutschland entsprechend der Richtlinie eine Klagebefugnis zuzuerkennen; die Umsetzungsfrist sei abgelaufen und die entsprechenden Vorschriften hinreichend bestimmt, um sie unmittelbar anzuwenden.[13] Der klagende Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) hatte damit auf ganzer Linie Erfolg. In dem zugrundeliegenden Verfahren geht es um die Standort-Teilgenehmigung des Trianel-Steinkohlekraftwerks in Lünen (NRW). Der BUND macht Verstöße gegen immissionsschutzrechtliche Schutz- und Vorsorgevorschriften sowie gegen wasser- und naturschutzrechtliche Bestimmungen geltend; diese werden vom Oberverwaltungsgericht Münster nun geprüft werden müssen.

Weiterführende Bedeutung dürfte das bislang auf europarechtliche Umweltrechtsvorschriften begrenzte Urteil[14] für ein Verfahren vor dem „Compliance Committee“ der Aarhus-Konvention haben. Dieses war im Hinblick auf das beim EuGH anhängige Verfahren ausgesetzt worden und ist nun wiederaufgenommen worden.[15] Hier hat Deutschland mit der Feststellung eines Konventionsverstoßes zu rechnen – es sei denn, die Bundesregierung räumt den Umweltverbänden endlich umfassende Klagemöglichkeiten ein.

Thorsten Deppner ist Referendar in Berlin.



[2]     Ursprünglich Richtlinie (RL) 90/313/EWG vom 7. Juni 1990; mittlerweile aufgehoben und neu gefasst in RL 2003/4/EG vom 28. Januar 2003.

[3]     EuGH, Slg. 1999, I-5087.

[4]     RL 85/337/EWG vom 27. Juni 1985.

[5]     EuGH, Slg. 1995, I-2189.

[6]     RL 2003/35/EG vom 26. Mai 2003.

[7]     Vgl. Alexander Schmidt / Peter Kremer, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz und der »weite Zugang zu Gerichten«. Zur Umsetzung der auf den Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten bezogenen Vorgaben der sog. Öffentlichkeitsrichtlinie 2003/35/EG, Zeitschrift für Umweltrecht 2007, 57 (59 ff.).

[8]     Allerdings ist insoweit die naturschutzrechtliche Verbandsklage gem. § 64 Bundesnaturschutzgesetz als eigenständiger Rechtsbehelf zu beachten.

[9]     So Jörn Ipsen, Gefahren für den Rechtsstaat?, Niedersächsische Verwaltungsblätter 1999, 225 (228); vermittelnd Thomas v. Danwitz, Aarhus-Konvention: Umweltinformation, Öffentlichkeitsbeteiligung, Zugang zu den Gerichten, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2004, 272.

[10]    Robert Seelig / Benjamin Gündling, Die Verbandsklage im Umweltrecht - Aktuelle Entwicklungen und Zukunftsperspektiven im Hinblick auf die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes und supranationale und internationale rechtliche Vorgaben, NVwZ 2002, 1033 (1039 ff.).

[11]    EuGH, Urt. v. 12. Mai 2011, Rs. C‐115/09, Rn. 44.

[12]    Ebenda, Rn. 46.

[13]    Ebenda, Rn. 54.

[14]    Vgl. ebenda, Rn. 48.