Regulierung von Sexualität und Sittlichkeit in Britisch-Indien

Ein koloniales Projekt und sein Vermächtnis

in (23.04.2012)

Indigene sowie britische Sexualität und Sittlichkeit wurden im kolonialen Indien weitgreifenden, aber nicht immer kohärenten rechtlichen Regulierungen unterworfen und prägen auch im heutigen Indien immer noch öffentliche Debatten. Betroffen von diesen Regulierungen waren unter anderem gleichgeschlechtlich orientierte Männer und Eunuchen.

Debatten um Inhalte und Ausmaß der rechtlichen Regulierung von Sexualität und Sittlichkeit sind fester Bestandteil des öffentlichen, urbanen Diskurses im postkolonialen Indien. Positionen zu Fragen von sexueller Identität werden dabei oft aus den beiden unreflektierten Extrempositionen der westlichen Moderne und der indischen Tradition heraus bezogen. Eine historische Einordnung oder Problematisierung dieser Phänomene kommt dabei oftmals zu kurz. Gerade die Genese bestimmter sexueller Identitäten und Sittlichkeitsvorstellungen kann Aufschluss geben über die Ambivalenzen und Widersprüche in der Wahrnehmung dieser Phänomene, mit denen sich die postkoloniale Gesellschaft auch gegenwärtig noch auseinandersetzt.

 

Kriminalisierung von Homosexualität

Ein prägnantes Beispiel hierfür liefert die Debatte um die Entkriminalisierung konsensualen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs. Obwohl die gesetzliche Verankerung des Verbotes von „widernatürlichem“ Geschlechtsverkehr in der Sektion 377 des Indian Penal Codes (IPC) eine koloniale Gesetzgebung aus dem Jahre 1860 darstellt, wird die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität im indischen Mainstream-Diskurs als in der indischen Tradition verankert verstanden.[1] Aus historischer Perspektive kann in der vorkolonialen Zeit jedoch keine Grundlage zur Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten beobachtet werden; vielmehr sprechen HistorikerInnen von einer relativen Flexibilität und Toleranz der Rechtsauffassungen.[2] Und auch die koloniale Rechtsprechung weist in diesem Bereich viele Ambivalenzen und Unstimmigkeiten auf, konnte jedoch eine große Wirkungsmacht entfalten. Im heutigen Indien wird Homosexualität von linksorientierten wie konservativ geprägten IdeologInnen und PolitikerInnen als Fremdimport der angeblich moralisch degenerierten MuslimInnen und EuropäerInnen verunglimpft, wobei sich homophobe mit xenophoben Tendenzen vermischen. Der indischen Kultur, so die Argumentation, sei Homosexualität grundsätzlich fremd gewesen, weswegen die Gesellschaft sie nicht akzeptieren dürfe.[3] Dabei kann weder von einer generellen Ablehnung noch überhaupt von einer kollektiv anerkannten Kategorie der Homosexualität als Identitätsmarker außerhalb eines spezifischen, urban geprägten Mittelklasse-Kontextes die Rede sein. Stattdessen existieren diverse akzeptierte indigene Konzepte der gleichgeschlechtlichen Sexualität, die mitunter religiös sanktioniert sein können, aber nicht immer absolut als eine universale Identitätskategorie betrachtet werden.[4]

 

Koloniale Gesetzgebung als Herrschaftsmechanismus

Neben einer rein politischen und wirtschaftlichen Beherrschung des Subkontinents strebten die britischen Kolonialherren ab dem späten 18. Jahrhundert auch eine weitreichende soziokulturelle Disziplinierung der indischen Bevölkerung an. Eines der wichtigsten Machtinstrumente der Kolonisatoren war in diesem Kontext die Gesetzgebung: Unter der Fremdherrschaft wurden verschiedene indigene Gesetzestraditionen kodifiziert und in einen vereinheitlichenden Verwaltungs­apparat integriert. Obwohl das endgültige Ziel der britischen Herrschaft der Ersatz indigener Gesetzespraktiken durch ein normatives System unanfechtbarer staatlicher Souveränität war, wurden in diesem Prozess indigenes Wissen und schon existente Gesetzesbücher selektiv verarbeitet und diesbezüglich mit indischen Eliten kollaboriert.[5] Die Kodifizierung nahm dabei eine wichtige Rolle in der Legitimationsstrategie der Fremdherrschaft ein und war ebenso eng verknüpft mit der angeblichen Bürde der Zivilisierungsmission, mit der die Kolonialisierung Indiens gerechtfertigt werden sollte.[6]

 

Konstruktion sexueller Identitäten

Gründend auf der Annahme einer stereotypisierten, negativ konnotierten Andersartigkeit der indischen Gesellschaft, wurde diese objektiviert und einer umfassenden Reformagenda unterworfen. Die europäische Imagination verstand Indien hierbei zunehmend in Essenzen.[7] Einer der kolonialen Topoi war der angebliche moralische Verfall der indischen Gesellschaft, was sich insbesondere in Narrativen zügelloser und entarteter Sexualität widerspiegelte. Diese wurde in verschiedenen Bereichen vermutet: Indische Herrscher wurden als wollüstige Lebemänner dargestellt, die nicht davor zurückschreckten, verheiratete Frauen für den eigenen Harem zu entführen; der Hinduismus wurde, beispielsweise unter Bezugnahme auf die Institution der Tempeltänzerinnen, die einseitig als Prostitution verstanden wurde, verallgemeinernd als unmoralisch und lasterhaft diffamiert. Das Phänomen der Kinderheirat wurde als Zeichen einer generellen Verkommenheit der indigenen Gesellschaft gewertet.

Eine Reihe von Gesetzesinitiativen wurde gestartet, die diesen, als unsittlich empfundenen Praktiken entgegenwirken sollten. Später erregten nicht-heteronormative Sexualpraktiken die Aufmerksamkeit der kolonialen Gesetzgebung: Unter Sektion 377 des IPC wurde „carnal intercourse against the order of nature with any man, woman or animal“[8], also jede Sexualpraktik außer der vaginalen Penetration einer Frau durch einen Mann, als Straftat festgeschrieben und mit maximal zehn Jahren Haft belegt. Dabei wurden konsensuale, im privaten Raum stattfindende gleichgeschlechtliche Aktivitäten sowie heterosexueller Analverkehr neben Pädophilie und Zoophilie unter die unscharfe Kategorie der Sodomie subsumiert. Zur gleichen Zeit wie in Indien wurde das Anti-Sodomie-Gesetz auch in England eingeführt. Dort bedeutete es die Reduktion des Strafmaßes von einer möglichen Exekution auf zehn Jahre Haft. In Indien, wo es vorher keine einheitliche Grundlage zur Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten gegeben hatte, stellte dies jedoch eine regressive Entwicklung dar.

 

Sodomie, Homosexualität und Eunuchen

Das koloniale Regime handelte in seiner Gesetzgebung nicht immer kohärent. Die Unschärfe der Begrifflichkeiten, mit denen Identitäten greifbar und regulierbar gemacht werden sollten, wurde bereits am Beispiel der Sodomie problematisiert. Auch der uns heute so gegenwärtige Terminus „Homosexualität“ erfuhr im britischen Herrschafts- und Regulierungsdiskurs eine ambivalente Deutung.

Bei der Imagination gleichgeschlechtlicher Identitäten spielten neben der sexuellen Komponente auch Überlegungen zu „Rasse“ eine Rolle. So versuchte die koloniale Rechtspraxis im 19. Jahrhundert, die indische Gesellschaft anhand verschiedener Zuschreibungen wie „Rasse“ oder Kaste zu kategorisieren. Ein Resultat dieses Klassifikationsdranges war die Vorstellung, bestimmten indigenen Gruppierungen spezifische Eigenschaften zuschreiben zu können. So wurde auch die Idee der kriminellen Stämme geboren, denen eine Neigung zu verbotenen Handlungen nachgesagt wurde. Die rechtliche Regulierung dieser Stämme trug bei zur Konstruktion vermeintlicher „Rassen“ im indischen kolonialen Kontext, die auch in der Gegenwart noch von Bedeutung sind.[9]

Auch sexuelle Eigenarten spielten eine Rolle bei der Zuschreibung von Kriminalität. So wurden in einer Erweiterung des Criminal Tribes Acts (1871) im Jahr 1876 auch Eunuchen als krimineller Stamm verbucht, unter Berufung auf deren angebliche Gewohnheit, Jungen für den Erhalt ihrer „Rasse“ zu entführen und auch für widernatürliche Praktiken zu missbrauchen.[10] Unklar blieb jedoch, wer überhaupt als Eunuch definiert werden konnte. Anfangs beschränkte sich das Kolonialregime darauf, Männer als Eunuchen zu kategorisieren, die in der Öffentlichkeit Frauenkleider trugen, später wurde Impotenz als entscheidendes Kriterium festgelegt. Vermischt wurden in diesem Gesetz somit Vorstellungen von dubioser Sexualität, krimineller Energie, männlicher Potenz und Transvestismus. Dieses Verquicken von Elementen, die in dieser Kombination schwerlich der gesellschaftlichen Realität entsprachen, lässt sich vor allem in rechtsmedizinischen Abhandlungen beobachten. Solche übernahmen in ihrer vermeintlichen Datenerhebung oftmals unreflektiert exotisierende und essentialisierende Reiseberichte und pseudowissenschaftliche ethnologische Betrachtungen.[11]

 

Indische Obszönität und britische Zivilisierungsmission

Während die Sinnhaftigkeit der Intervention des kolonialen Regimes in den privaten Bereich der indischen Bevölkerung auch in den eigenen Reihen immer wieder umstritten war, stellte die Regulierung von Sittlichkeit im öffentlichen Raum einen Imperativ der offiziellen britischen Reformrhetorik dar. Dies zeigte sich neben der Regulierung von ambivalent gekleideten und agierenden Männern auch in den Debatten um Anstand und Obszönität in den neu aufkommenden Printmedien gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Rechtliche Reglementierung war hier vor allem im Bereich der Zensur als Teil des biopolitischen Projektes der Kolonialregierung zu beobachten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchten weltweit und auch in Indien neue Formen von Obszönität auf. In globalen Netzwerken wurden sexuell explizite Romane, Postkarten, Fotografien, Sexologietexte sowie Werbung (im indischen Kontext insbesondere für Geburtenkontrolle und Aphrodisiaka) gehandelt und weiterverbreitet.[12] Zur Bewahrung der öffentlichen (Sexual-)Moral musste gegen diese vorgegangen werden. Auffällig ist dabei, dass es eher nicht-staatliche, sozio-moralische Reformorganisationen waren, die eine stringentere rechtliche Regulierung von Obszönität einforderten. Zu diesen zählten insbesondere global agierende Vereinigungen wie die National Vigilance Association und die Society for the Suppression of Vice, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in England entstanden und sich zügig mit Zweigstellen in den Kolonien etablierten. Von Indern initiierte Reformgesellschaften schlossen sich dem an, wie das Beispiel der 1873 in Kalkutta gegründeten Society for the Suppression of Public Obscenity in India zeigt.[13] Dies spiegelte die zunehmende aktive Involvierung in Reforminitiativen und die generelle Übernahme des Gedankens der angeblichen Reformbedürftigkeit Indiens durch indigene Akteure wider. Solche Gesellschaften initiierten die strafrechtliche Verfolgung von Verdächtigen, beispielsweise dem Literatur-Versandhaus A. H. Wheller & Co,[14] dem die Verbreitung von importierter obszöner Literatur vorgeworfen wurde, unter dem schon bestehenden IPC; weiterhin übten sie aber auch Druck auf die Regierung aus, die vorhandenen rechtlichen Regulierungsmaßnahmen auszuweiten und zu verschärfen.

 

Zensur im postkolonialen Indien

Die koloniale Rechtspraxis zur Sektion 292 des IPC (1860) verstand alle visuellen oder schriftlichen Materialien, die „lüstern“ seien und einen „korrumpierenden“ Einfluss hätten, als obszön. Diese Sektion ist auch heute noch in Kraft, allerdings erweitert durch den Indecent Representation of Women Act (1986), der ebenfalls die „öffentliche Sittlichkeit“ schützen will. Im Jahr 1991 wurden die Zensur-Richtlinien für Kinofilme ausgeweitet.[15] Angewendet werden diese Gesetze vor allem in der Regulierung vermeintlicher Obszönitäten in Literatur, Film und Werbung. So wurde im August 1995 beispielsweise gegen zwei weibliche Models, die nackt für eine Schuhwerbung posiert hatten, unter dem Indecent Representation of Women Act Anzeige erstattet.[16] Problematisch am Fortbestehen dieser teilweise kolonialen Gesetzgebung in der juristischen Regulierung von Sexualität ist der Versuch, konservative Vorstellungen von Sexualmoral über die Zuschreibung von Obszönität auf Frauenkörper zu verfestigen.

 

Sexuelle Identität als postkoloniales Vermächtnis?

Die koloniale Regulierung von Sexualmoral und Sittlichkeit wirkt im postkolonialen Indien noch immer nach. Von einer bewussten Aufarbeitung der kolonialen Rechtspraxis in der gegenwärtigen Gesellschaft kann jedoch nicht die Rede sein, da Debatten über Sexualmoral und Sittlichkeit selten historisch reflektiert werden. Vereinzelt regt sich Widerstand gegen die restriktive Gesetzgebung im Bezug auf sexuelle Identitäten, wie beispielsweise die (erfolgreichen) Proteste gegen die Kriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Sexualität unter dem Sodomiegesetz, doch dieser Protest beschränkt sich bislang auf eine gebildete, mittelständische und urbane Elite.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Schaffung von spezifischen sexuellen Identitäten erstens vorrangig durch koloniale Normierungsversuche zustande kam, jene aber zweitens eine begrenzte Wirkungsmacht im postkolonialen Indien innehaben, da sie keine Relevanz für alle Bevölkerungsteile haben. Sowohl im indischen Elite-Diskurs über Sexualität als auch an westlichen Universitäten bleibt der Zugang zu Sittlichkeitsvorstellungen und Sexualmoral der Subalternen Indiens begrenzt, was universale Aussagen unmöglich macht.

 

Manju Ludwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg.

 

Weiterführende Literatur

Brinda Bose / Subhabrata Bhattacharyya, The Phobic and the Erotic. The Politics of Sexualities in Contemporary India, 2007.

Deana Heath, Purifying Empire. Obscenity and the Politics of Moral Regulation in Britain, India and Australia, 2010.

Radhika Singha, A Despotism of Law. Crime & Justice in Early Colonial India, 1998.



[1] Zur Diskussion um Sektion 377 siehe Gautam Bhan, Challenging the Limits of Law. Queer Politics & Legal Reform in India, in: Arvind Narrain, Because I Have a Voice. Queer Politics in India, 2005, 40-48; Philip Rusche / Michael J. Zeder, Straffreiheit für gleichgeschlechtliche Sexualität, Forum Recht 2009, 140.

[2] Siehe Ruth Vanita / Saleem Kidwai, Same-Sex Love in India. A Literary History, 2008.

[3] Bose / Bhattacharyya, 2007, 165.

[4] Ebd., 164.

[5] Singha, 1998, viii-xii.      

[6] Harald Fischer-Tiné / Michael Mann, Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India, 2004.

[7] Ronald Inden, Imagining India, 1990; Thomas Metcalf, Ideologies of the Raj, 1994.

[8] IPC, Sektion 377, zitiert nach: Suparna Bhaskaran, The Politics of Penetration. Section 377 of the Indian Penal Code, in: Ruth Vanita, Queering India. Same-Sex Love and Eroticism in Indian Culture and Society, 2002, 15.

[9] Henry Schwarz, Constructing the Criminal Tribe in Colonial India. Acting Like a Thief, 2010.

[10] Gayatri Reddy , With Respect to Sex. Negotiating Hijra Identity in South India, 2005, 26f.

[11] Hierfür exemplarisch Norman Chevers, A Manual Jurisprudence for Bengal and the North-Western Provinces, 1856, 485 ff.

[12] Heath, 2010, 148 f.

[13] Alok Ray, Cross-Roads. Social Reforms in Nineteenth Century India, 2005, 148 f.

[14] Heath, 2010, 152.

[15] Ratna Kapur, Who Draws the Line? Feminist Reflections on Speech and Censorship, Economic and Political Weekly 31/16, 17, 1996, WS-21.

[16] Ebd., WS-23.