Zwischen Landwirtschaft und Ernährungsindustrie – Essen und Trinken als komplexer Bezugspunkt politischer Interventionen

Dass Menschen sich ernähren müssen, ist eine anthropologische Universalie. Wie die menschliche Ernährung organisiert ist, hängt jedoch von soziokulturellen und ökonomischen Faktoren ab. Eine sozialdemokratische Politik, die besonders nahe am Menschen sein will, sollte diesen durch und durch alltäglichen sowie unumgänglichen Bereich des menschlichen Lebens nicht vernachlässigen. Auf dem SPD-Parteitag 2011 gab es zwar einige (wenige) Anträge, die dem Bereich Ernährung, Landwirtschaft oder Lebensmittelproduktion zuzuordnen waren, doch diese wurden spät am Abend im Schnellverfahren en bloc im Sinne der Antragskommission ohne Diskussion durchgewinkt. Dabei gibt es auf diesem Feld eine Reihe von Problemen, die einer intensiveren politischen Diskussion und der politischen Entscheidung bedürfen. Ein aktuell auch auf der Medienagenda dankenswerterweise etwas prominenter platziertes Thema stellt die Debatte um die außer Kontrolle geratenen Spekulationen mit agrarischen Rohstoffen dar, mit dem sich auch die SPD-Bundestagsfraktion in einem Antrag (Drs. 17/3413) auseinander gesetzt hat. Eine Bundestagsdebatte am 27.1.2012 zum Thema „Weltweite Ernährungssicherheit“ endete jedoch mit der Annahme eines zwar wortreichen, aber wenig weitgehenden Antrages der schwarz-gelben Koalition (Drs.17/7185), der nicht zuletzt unter seiner mangelnden finanziellen Ausstattung krankt.

Einige Eckdaten zu Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie

2010 gab es rund 299.100 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland (7,3 Prozent davon sind sogenannte „Öko-Betriebe“), die zusammen genommen 16,7 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzten. 60 Prozent dieser Flächen gehören aber den Landwirten nicht selbst, sondern sind von ihnen gepachtetes Land. 2010 arbeiteten 1,1 Millionen Menschen in der deutschen Landwirtschaft (Tendenz rückläufig), aber nur ca. 18 Prozent sind dauerhaft in der Landwirtschaft beschäftigt. 550.900 Menschen arbeiteten 2011 in der Lebensmittelindustrie (Tendenz ansteigend), der viertgrößten Industriebranche Deutschlands. 2010 arbeiteten 252.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Gastronomie, Tendenz steigend. Darüber hinaus arbeiten zahlreiche Menschen in angrenzenden Berufen wie BäckerInnen, FleischerInnen, GetränkehändlerInnen etc., also in Berufen, die sich ebenfalls im Feld der modernen „Ernährung“ ausgebildet und professionalisiert haben. 2011 wurden im Bereich der deutschen Ernährungsindustrie 162,2 Milliarden Euro umgesetzt. Davon entfielen 30 Prozent auf das Auslandsgeschäft wobei 80 Prozent der Exporte im EU-Binnenmarkt abgesetzt werden. Zunehmend werden aber auch mehr Lebensmittel nach Russland, in die USA und China verkauft. Erstmals seit 25 Jahren war Deutschland 2011 kein Selbstversorger beim Getreide mehr und auf Importe angewiesen.

Deutungshoheit vom Acker bis zur Gabel

Eine Deutungshoheit über die Themenfelder Ernährung, Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion zu gewinnen, sollte für die politische Linke aus mehreren Gründen eine Rolle spielen. Exemplarisch seien einige im Folgenden ausgeführt:

Landwirtschaft: Die landwirtschaftliche Produktion mit ihren beiden Faktoren „Natur“ und „Arbeit“ ist, wie Marx schon erkannte, die „Basis aller Mehrarbeit“, also die Quelle allen Reichtums. Doch obwohl sie die notwendigsten Verbrauchsgüter zur Erhaltung des menschlichen Lebens produziert und darüber hinaus ein zentraler Rohstofflieferant für die verarbeitende Industrie darstellt, ist ein zentraler Punkt in der Agrarpolitik die Subventionspolitik. Hier gibt es vielfältigen Änderungsbedarf, aber nicht jede Faustregel (bspw. „klein statt groß“) ist für linke Politik brauchbar. So sollen ab 2014 Agrarsubventionen der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) gekürzt werden. Die Bemessung  nach Förderung wird verstärkt nach der Größe des Betriebes berechnet. Je größer der Betrieb desto weniger Förderung wird er (relativ) erhalten. Dieses Verfahren, das kleinbäuerliche Landwirtschaft pauschal fördert, ist aber in Bezug auf soziale und ökologische Faktoren fragwürdig. Sind kleine Betriebe per se die besseren Betriebe? Sollte sich Förderung nicht eher an Mitarbeiter- und Ausbildungszahlen, fairen Löhnen und ökologischer Nachhaltigkeit festmachen lassen? Warum werden größeren landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die auch trotz einer relativ guten ökonomischen Leistungsbilanz nicht selten all diese Kriterien erfüllen, die Mittel, ohne die auch sie nicht überlebensfähig wären, gekürzt? Die Kappungsgrenze nach bewirtschafteter Fläche ist offensichtlich unsinnig. Man müsste eher fragen, wie sich genossenschaftliche Modelle, die einen hohen Anspruch an soziale und ökologische Verantwortung an sich selbst stellen, durch politische Entscheidungen unterstützen ließen. Zwar erhält auch der Faktor Arbeit in der geplanten Neuregelung einen höheren Stellenwert, was an sich schon einmal begrüßenswert ist, aber die konkrete Umsetzung bleibt, gerade auch im Verhältnis zu den „grünen“ Nachhaltigkeitskriterien (Umwelt, Artenvielfalt, Kulturlandschaft) unzureichend. Es sollte aber ein zentrales Ziel sein, arbeitsintensive Betriebe nie zu benachteiligen und in Folge dessen auch die Qualität der Arbeit stärker zum Thema zu machen. Ungerechtigkeiten könnten beispielsweise reduziert werden, indem man Direktzahlungen von kapitalintensiven zu personalintensiven Betrieben umschichtet. Berücksichtigt werden muss, dass in Deutschland 91 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe Einzelunternehmen sind. Diese bewirtschaften 66 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Gerade diese haben traditionell einen niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, wofür auch die kleinbetriebliche Struktur in diesem Sektor ein Grund ist. In Deutschland ist hier die IG BAU (2011: 305.775 Mitglieder) zuständig, die etwa 10 Prozent der in der Landwirtschaft Beschäftigten als Mitglieder hat, was bedeutet, dass sie ungefähr 20 Prozent der dort arbeitenden Menschen anzusprechen vermag.

 Industrielle Lebensmittelproduktion: Man muss zur Kenntnis nehmen, dass nur noch ein Bruchteil aller Lebensmittel ausschließlich in der Landwirtschaft oder im Ernährungshandwerk produziert werden. Der überwiegende Teil wird unter den Bedingungen einer hochindustrialisierten Wirtschaft hergestellt, zu der Global Player wie Unilever, Nestle oder Kraft Foods zählen, die auch auf dem deutschen Lebensmittelmarkt Umsätze in Milliardenhöhe erzielen. Vordringlich sind freilich in der Lebensmittelindustrie – wie auch im landwirtschaftlichen Sektor oder in den Arbeitsfeldern der Gastronomie – die klassischen sozialen Kämpfe gegen Niedriglöhne und für bessere Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten hatte im Jahr 2011 205.637 Mitglieder. Darüber hinaus muss sich die Politik im Bereich der Lebensmittelindustrie aber auch mit komplizierten Problemen wie der Patentierung von Biomaterial beschäftigen, wo es nicht nur um Gentechnik, sondern auch um Präzisionszuchtverfahren wie Smart Breeding geht, wozu glücklicherweise auf Bundes- und EU-Ebene inzwischen politische Debatten geführt werden, die aber der Unterstützung einer aufgeklärten Bevölkerung bedürfen. Nur sporadisch, aber nicht weniger dringlich, flackert immer wieder die Debatte um die immer weiter voranschreitende Privatisierung und Kommerzialisierung von Trinkwasserressourcen auf. Unter Gebrauch von Semantiken des vorgeblichen Ressourcenschutzes wird das Lebensmittel Wasser immer mehr zur Handelsware und Wasserquellen zu Privateigentum.

Ernährung: Linke Politik muss sich Gedanken machen, wie sich Ernährung sozial und umweltverträglich gestalten lässt. Soll es einen durch Marktmechanismen gezogenen Spalt durch die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung geben? Ein Beispiel: Kaum noch zu bestreiten ist, dass der immens hohe Verbrauch von Tierfleisch in Industrie- und Schwellenländern sozial-ökologische Probleme mit sich bringt. Ökokonservative an der Vorstandsspitze des BÖLW (Bund Ökologischer Lebensmittelwirtschaft) werben bereits, dies über drastisch erhöhte Preise für Fleisch zu steuern, weil sie sich nicht vorstellen können, den Fleischverzehr über verteilungspolitische Maßnahmen zu steuern. Solche Aussagepraktiken legen die Karten offen, wohin sich die Ernährung der Gesellschaft in Zukunft noch stärker hinbewegen wird: Wer Geld hat, wird weiter autonom und frei entscheiden können, wie der eigene Speiseplan aussehen soll – egal wie rücksichtslos dabei gehandelt wird. Wer kein Geld hat, soll sich nach der Logik der konservativen Schöpfungsbewahrer im ökologisch korrekten Zwangsverzicht üben. Hinzu kommt, dass der OECD-FAO Agricultural Outlook 2010-19 aufgrund erhöhter Nachfrage mit einem Anstieg der Preise für Agrarrohstoffen rechnet: etwa 15 – 40 Prozent bei Weizen und Getreide, 40 Prozent + x bei Pflanzenöl oder bis zu 45 Prozent bei Milchprodukten. Dies wird selbstverständlich auch einen Anstieg der Lebensmittelpreise nach sich ziehen. Gleichzeitig treiben die Spekulationen mit Agrarrohstoffen die Preise zusätzlich nach oben. Hier ist eine internationale Regulierung dringen notwendig. Seit 1980 sind die Verbraucherpreise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in Deutschland um 52 Prozent angestiegen.

Forschung: Immer mehr rückt die gesundheitsunterstützende Funktion von guter Ernährung ins Bewusstsein. Gleichzeitig bergen Essen und Trinken sowie gemeinsame Mahlzeiten ein hohes Potential an Genuss und sozialer Vergemeinschaftung. Progressive, am Wohle der Menschen orientierte Forschung, sollte beides in den Blick nehmen und versuchen miteinander zu verbinden. Weder ist es wünschenswert, dass Ernährung zu Lasten gustatorischer Genüsse, weil gesundes und leckeres Essen zu teuer ist, allein als hocheffizienter Faktor für die Reproduktion von Humanarbeitskraft berechnet wird. Ebenso wenig sollten aus demselben Grund ganze Bevölkerungsschichten ernährungsphysiologisch abgehängt werden, weil genussreiche billige Speisen per se ungesunde Speisen sind. Zumal ist inzwischen bekannt, dass sich der alltägliche Vorgang der Ernährung als Repressionsmechanismus anbietet, der gezielt den Körper zur Angriffsfläche überindividueller Machtdiskurse in Anspruch nimmt. Die politische Debatte um die Forschung im Bereich ökologisch-nachhaltiger sowie High-Tech-Lebensmittelproduktion sind noch längst nicht erschöpfend geführt worden bzw. gehen auch hier über die, oftmals auch mehr populistisch als sachlich elaboriert, geführte Diskussion um die Grüne Gentechnik hinaus (bspw. Nano-Food oder Nutriogenomics).

Weltgesellschaft: Zynisch gesagt gehört es quasi zur Allgemeinbildung, dass alle fünf Sekunden ein Mensch an den Folgen von Mangelernährung stirbt. Das Nord-Süd-Gefälle in der Bekämpfung des Hungers ist weiterhin gegeben und auch ein Produkt der Nahrungs-, Agrar- und Umweltpolitik der Industriestaaten gegenüber Entwicklungs- und Schwellenländern. Dazu kommen Fragen der Ausbeutung von ArbeiterInnen in der dortigen Landwirtschaft und Ernährungsindustrie zugunsten günstiger oder exklusiver Lebensmittel die von gutsituierten Schichten in wohlhabenden Regionen der Welt konsumiert werden. Immer wieder kommt es aufgrund gestiegener Nachfrage und kurzfristiger Gewinnschöpfung zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen in einem lokalen Territorium. Sind dort die agrarischen Lebensgrundlagen durch temporäre Übernutzung zerstört, wandert das Kapital einfach weiter, die ansässige Bevölkerung wird jedoch mit den externalisierten Kosten der Verödung zurückgelassen. Hier schließen sich ebenso Fragen der globalen Migration an.

Hiermit sind einige Felder in gegebener Kürze angeschnitten worden, auf denen linke Politik sich profilieren muss. Die hier zur Illustration aufgeführten wenigen Beispiele ließen sich nahezu beliebig vermehren oder binnendifferenzieren. Ernährung ist, von der Lebensmittelproduktion über Verarbeitung und Handel bis hin zum Konsum eine ökonomisch sowie kulturell geformte und sozialisierende Variable und ebenso ein volkswirtschaftlicher Faktor. Fraglos erschwert die Durchkapitalisierung der Agrar- und Lebensmittelindustrie sowie das ausgeprägt individual-wirtschaftliche Selbstverständnis zahlreicher landwirtschaftlicher Unternehmer die Entwicklung eines linkspolitischen Agrarprogramms. Die strukturelle Kopplung der Ernährung an verschiedenste Teilbereiche der Gesellschaft (Recht, Medizin, Wirtschaft etc.) qualifiziert sie jedoch zu einem Dreh- und Angelpunkt des politischen Gestaltungswillens. Ihre anthropologische Unvermeidbarkeit macht sie zudem zu wertvoll, um sie dem freien Markt zu überlassen.