Krieg gegen die Bevölkerung

Die Grenzstadt Ciudad Juárez steht im Zentrum der Gewalteskalation in Mexiko

Seit drei Jahren leben die Menschen in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez im Ausnahmezustand. Im Rahmen des von Präsident Felipe Calderón ausgerufenen „Drogenkrieges“ landeten am 28. März 2008 Militärflugzeuge außerhalb der Stadt; Truppenverbände hielten einen Tag später Einzug. Neben den alltäglich gewordenen Toten – von der Regierung immer noch als „Kollateralschäden“ bezeichnet – hat die Anwesenheit von Militär und Polizei auf den Straßen von Ciudad Juárez zu einem horrenden Anstieg von Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen geführt.

Zehn Polizeiwagen rasen durch die Stadt. Eine Szene wie im Film. Über die Schnellstraßen preschen sie in den Westen, dort wo die Armenviertel liegen. Langsam werden die Straßen steiler, enger und staubiger. Irgendwann verschwindet der Asphalt. In den Hügeln oberhalb des Viertels Galeana kommen die glänzenden Geländewagen abrupt zum Stehen. Rund 50 maskierte, schwer bewaffnete Polizeibeamte springen von den Autos herunter, umstellen Häuser, sichern Dächer, sperren einen Straßenzug ab. Neugierig sammelt sich eine Gruppe Jugendlicher am Absperrband. „Nehmen sie jemanden fest?“ Die Vermummten geben keine Auskunft. Zehn Minuten später zieht sich die Polizei zurück, drei Personen werden mit Handschellen auf die Ladefläche eines Pick-Ups gekettet. Die Fahrzeugkolonne setzt sich mit quietschenden Reifen in Bewegung und verschwindet wie ein Spuk in einer rötlichen Staubwolke.
„In Ciudad Juárez befinden wir uns im Auge des Wirbelsturms“, konstatiert Gerardo Rodríguez, Direktor der Tageszeitung El Diario de Juárez. „Schon 2006 sandte Calderón die Bundespolizei mit 10.000 Mann nach Ciudad Juárez, das als Fokus der Kämpfe verfeindeter Kartelle gilt.“ 2008 ließ er das Militär einmarschieren. In den folgenden Monaten nahm die Gewalt in der Stadt ungeahnte Ausmaße an. „Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen wurden alltäglich.“ Im Jahre 2010 wurden in Ciudad Juárez 3.117 Menschen getötet; eine höhere Mordrate wies weltweit lediglich Bagdad auf. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Toten knapp unter 2.000. Vor dem Einmarsch der Truppen im März 2008 kamen jährlich „nur“ rund 300 Menschen gewaltsam zu Tode.
Die Diario de Juárez ist eins der wenigen Printmedien in Mexiko, die die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Regierung verweigerten, im „Drogenkrieg“ stets regierungstreu zu berichten. Angesichts der horrenden Todesopfer muss Präsident Calderón von der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN) viel in das öffentliche Image seiner Regierung investieren. Das Sicherheitsministerium sponserte mit 10 Mio. US-Dollar die Telenovela El Equipo („Das Team“) innerhalb ihrer Öffentlichkeitskampagne „Bundespolizei – Anonyme Helden“. Der Fernsehsender Televisa bezeichnet die von ihm ausgestrahlte Serie als „Bildungsmaterial“. „In Ciudad Juárez ist die Bundespolizei mit Raub und Erpressungen zur Geißel der Bevölkerung geworden“, konstatiert hingegen Zeitungsdirektor Rodríguez. „In zahlreichen Kontrollposten der Innenstadt werden von korrumpierten Beamten Autos beschlagnahmt und Löhne gestohlen. Oft fragen die Polizisten Anwohner nach ihrer Adresse. Abends stehen sie dann in zivil vor der Tür und erpressen große Geldbeträge.“ Bewaffnet sind die Funktionäre nicht selten mit dem Maschinengewehr G36 der deutschen Firma Heckler & Koch.
Sicherheitsminister Genaro García und der ihm unterstehenden Bundespolizei wird nachgesagt, dem Sinaloa-Kartell nahezustehen und das ansässige Juárez-Kartell aus der Stadt zu verdrängen. „Man muss davon ausgehen, dass rund ein Viertel der Beamten infiltriert sind“, schätzt Gerardo Rodríguez. „Angst und Terror sind unsere ständigen Begleiter geworden, seit Präsident Calderón die Büchse der Pandora öffnete“, beschreibt es Rodríguez. „Um seine schwache Regierung zu stabilisieren, holte er das Militär an seine Seite. Der Krieg gegen die Drogen hat sich jedoch längst zum Krieg gegen die eigene Bevölkerung entwickelt. Vor allem die Armen sind in Ciudad Juárez Opfer der Gewalt. Die Reichen gehen über die Grenze ins Exil.“
Juárez‘ Zwillings­stadt El Paso auf der US-amerikanischen Seite der Grenze gilt zynischerweise als eine der sichersten Städte der Vereinigten Staaten. Hier ereignen sich rund 5 Morde im Jahr. Davon können die Menschen in den marginalisierten Vierteln von Ciudad Juárez nur träumen. Zahlreiche Menschen werden dort von Polizei oder Militär entführt und „verschwinden“. Um diese kümmert sich der bundesstaatliche Ombudsmann für Menschenrechte, Gustavo de la Rosa. Und ausschließlich um diese. „Es gibt so viele Menschenrechtsverletzungen in Ciudad Juárez. Ich kann mich nur noch um die schwersten Fälle kümmern.“ Und das sind die „Verschwundenen“. Diese Personen versucht De la Rosa innerhalb von 24 Stunden ausfindig zu machen, da sie sonst nur noch tot aufgefunden werden. „Die schlimmste Menschenrechtsverletzung ist die Hinrichtung, die ohne Strafe bleibt. Straflosigkeit ist in Mexiko kein Versagen des Systems, sondern dient höheren Interessen. Rund 96 Prozent der Verbrechen bleiben ohne juristische Ahndung.“
De la Rosa streicht sich durch seinen dichten weißen Vollbart. „Wir versuchen, die Zahl der Toten gering zu halten, je schneller wir handeln desto besser sind die Chancen, dass jemand lebend nach Hause zurückkehrt. Diejenigen, die unter Folter sterben, werden von der Polizei selbst ins Leichenschauhaus gebracht. Die Beamten gehen davon aus, dass sie eh nicht belangt werden.“ Doch auch der 65-jährige Menschenrechtsverteidiger hat keinen einfachen Stand in Ciudad Juárez. „In Mexiko-Stadt ärgert man sich über mich. Ich würde meine bundesstaatlichen Kompetenzen übertreten, wenn ich Bundespolizei und Militär angehe. Diese sind aber nun mal die größten Aggressoren gegen die Menschenrechte.“
Die Generäle verstanden nicht, warum De la Rosa sie dazu anhalten wollte, die Menschenrechte zu achten, wenn der Präsident selbst ihnen doch sämtliche Freiheiten zugesagt hatte. Der Ombudsmann musste 2009 seinen Wohnort sechs Monate nach El Paso verlegen. Heute begleitet ihn eine Polizeieskorte. „Die meisten Opfer dieses Krieges sind einfache Menschen“, schließt De la Rosa. „Nur die allerwenigsten sind Angehörige der organisierten Kriminalität. Ihre Familien würden niemals Anzeige stellen, denn sie begreifen es als Geschäftsrisiko, unter brutalen Umständen zu sterben. Wenn jemand zu mir kommt, dann weiß ich sicher, dass Unschuldige in Lebensgefahr schweben. Medien und Politik begehen schnell Rufmord. In Juárez stirbt man mindestens zweimal.“
Heute trifft es zwei junge Männer, die von der Polizeibehörde von Juárez der Presse präsentiert werden. Ihre Gesichter sind von Schlägen so entstellt, dass sie kaum aus ihren verschwollenen Augen sehen können, ihre Hemden sind blutgetränkt und zerrissen. „Diese beiden Subjekte haben im Viertel Postales einen Minderjährigen umgebracht und dann versucht in einem Lieferwagen zu fliehen“, sagt Adrian Sánchez Contreras, Polizeisprecher von Ciudad Juárez, selbstsicher in die Kameras. Die Presse dürfe den beiden jetzt Fragen stellen. Dass er 24 Jahre alt sei und in einer Maquila arbeite, antwortet Luis E. mit verhaltener Stimme auf die Fragen der Journalist_innen. Juan Carlos R. ist erst 16 Jahre alt und arbeitet an einem Hamburgerstand. Dass die beiden einen Mord begangen haben sollen, leugnen sie. Sie hätten lediglich den Lieferwagen stehlen wollen; eine spontane Aktion, der Schlüssel habe gesteckt. Dass es der Fluchtwagen von Auftragskillern war, hätten sie erst bemerkt, als die Sirenen der Polizei hinter ihnen aufheulten. Diese wartete mit ihrer Selbstjustiz nicht einmal bis zur Bestandsaufnahme des Falls.
„Menschen werden ohne Verfahren der Presse in entwürdigender Art und Weise als „Drogenhändler“ und „Killer“ präsentiert. Die Medien machen sich zu Mittätern, denn sie übersehen die Übergriffe der Polizei“, sagt Leobardo Alvarado, Gründer der Internetzeitung JuarezDialoga. „Der Sinn für Menschlichkeit geht verloren unter einem autoritären Regime.“ Die Militarisierung führt den Terror als Strategie der Kontrolle über die Bevölkerung mit sich. Ciudad Juárez gilt als eine der gewalt­tätigsten Städte der Welt. „Es sollte besser heißen: eine der Städte, der am meisten Gewalt zugefügt wurde“, konstatiert der Künstler und Aktivist. Mehrere Familienangehörige von ihm gelten seit zwei Jahren als „verschwunden“. Augenzeug_innen berichteten von ihren Verhaftungen durch das Militär.
Mit seiner Internetzeitung hofft Alvarado die Zivilgesellschaft zu stärken, die sich gegen die Militarisierung stellt. Im letzten Jahr wurden Proteste gegen den „Drogenkrieg“ und die Explosion der Gewalt in Mexiko auch auf nationaler Ebene laut. „Der Regierungsdiskurs im Bezug auf die Opfer des Krieges lautet: ‚Sie bringen sich gegenseitig um‘. Calderón diffamiert die Toten per se als Angehörige der Drogenmafia. Doch die Menschen haben nun das Schweigen durchbrochen.“ Gegen Felipe Calderón wurde im November eine Anklage wegen Völkermord vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht. Juristisch könnte dies schwer zu belegen sein, doch in jedem Fall ist es ein politisches Zeichen, das für Aufmerksamkeit in den Medien sorgte. „Währenddessen leben wir weiter im Krieg“, schließt Leobardo Alvarado.