Das deutsche Kapital und die Krise des Euro

Es gibt Argumente, die einfach nicht totzukriegen sind, auch wenn sie von den Fakten hundertmal widerlegt werden. So wird seit Beginn der Eurokrise von einigen Beobachtern die These vertreten, es seien Kapitalströme aus dem Norden gewesen, die in den südeuropäischen Ländern einen Boom entfacht hätten, einen Bauboom vor allem, der die ungesunde Entwicklung dort begründet und in der Folge hohe Lohn- und Preissteigerungen nach sich gezogen habe, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit geschwächt worden wäre. Vor allem Hans-Werner Sinn hat sich mit dieser These hervorgetan.
Hergeleitet wird diese „Analyse“ einfach aus der Tatsache, dass Überschüsse in der Leistungsbilanz eines Landes immer genau dem Nettokapitalexport entsprechen und dieser als die „Ersparnis“ eines Landes interpretiert wird. Der Zusammenhang beschreibt aber eine Identität; derjenige, der mehr importiert als exportiert, muss die Differenz durch Kredite ausgleichen. Nichts ist dabei gesagt über Kausalität, also die Frage, welche Bewegung die jeweils andere hervorruft.
Kausale Fragen übergeht der moderne Ökonom aber gerne und behauptet, die Kapitalströme seien dominant. Ökonomie, sagt er, sei im Kern die Lehre von den Entscheidungen der privaten Haushalte und die wichtigste Entscheidung, die ein Haushalt treffe, sei nun mal die Entscheidung über Sparen und Investieren. Wollten in einem Land die Haushalte aber mehr sparen, als im Inland investiert werde, müssten sie ihr Kapital exportieren. Daraus entstünden Leistungsbilanzüberschüsse bei den Sparern und Defizite bei den Investoren. Das ist eine seltsame Theorie, die viele Fragen nicht beantwortet. Warum werden die Sparer von den Kapitalmärkten gut und die Investoren schlecht behandelt? Wieso ist so viel deutsches Spargeld in Bauprojekte geflossen, die auf Dauer nicht rentabel waren? Ich will das nicht vertiefen.
Es gibt ein viel einfacheres Gegenargument : Wenn es in der Vergangenheit tatsächlich so gewesen wäre, dann müssten doch spätestens nach Ausbruch der Krise alle deutschen Sparer ihre Taschen zugenäht haben, weil sie nun ja wissen, dass den anderen EWU-Ländern nicht zu trauen ist. Also müssten auch die Leistungsbilanzüberschüsse und Defizite verschwunden sein, denn ohne Kapitalexport gibt es keinen positiven Saldo der Exporte über die Importe.
Mit der Leistungsbilanz für das vergangene Jahr gibt es nun die Überraschung: Auch 2011 haben die deutschen „Sparer“, in der Lesart von Herrn Sinn, über 80 Milliarden Euro ihrer Ersparnisse in die Euroländer gegeben und damit deren Leistungsbilanzdefizite finanziert. Das ist kaum weniger als in den Vorjahren (2009: 84 Milliarden; 2010: 87).
Da fragt man sich, ob der deutsche Sparer bei Trost ist, wenn er mitten in der Krise in fast gleicher Höhe wie vor der Krise den Konsum in Ländern wie Spanien und Italien finanziert, wo die Investitionstätigkeit derweil zusammengebrochen ist, und die offenkundig wenig kreditwürdig sind. Weil er das nicht für möglich hielt, hat Herr Sinn schon 2010 vorhergesagt, das Modell mit den deutschen Sparüberschüssen sei nun zu Ende und die Sparer in Deutschland würden sich von nun an dem Heimatmarkt widmen und in die boomende Binnenkonjunktur investieren. Das war falsch. Eine lahmende Binnennachfrage, ein Exportboom und Sparüberschüsse waren auch 2011 Kernelemente der Wirtschaft.
Herr Sinn hat aber seinen Irrtum klammheimlich zum Anlass genommen, eine neue These aus dem Hut zu zaubern, die erklären soll, wieso trotz sich verschärfender Krise die Finanzierung der Defizitländer lustig weitergeht. Er hat die so genannten TARGET-Salden der Europäischen Zentralbank (EZB) entdeckt, die hohe Forderungen Deutschlands und hohe Verbindlichkeiten der Südländer zeigen, und daraus gefolgert, es gebe direkt eine Zentralbankfinanzierung der Salden und indirekt eine Finanzierung durch den deutschen Steuerzahler, weil die Forderungen irgendwann einmal eingelöst werden müssten.
Das ist schon deswegen eine lustige Wende, weil jetzt das Argument mit den dominanten Kapitalströmen nicht mehr stimmen kann. Denn, dass die Zentralbanken wie früher die Sparer in Vorleistung treten und dadurch die deutschen Exportüberschüsse möglich machen, ist ja nicht besonders einleuchtend. Die nationalen Zentralbanken im EZB-System finanzieren Transaktionen erst an zweiter oder dritter Stelle. Wenn eine spanische Bank im Auftrag eines Kunden den Kauf eines deutschen Automobils finanziert, begründet das eine Forderung zugunsten Deutschlands. Refinanziert sich die spanische Bank bei der spanischen Zentralbank, die sich bei der EZB refinanziert, wird im Eurosystem eine Verbindlichkeit zu Lasten der spanischen Zentralbank aufgeschrieben, für die deutsche Bundesbank eine Forderung. Das ist sinnvoll, denn für das europäische Bankensystem insgesamt entsteht durch diese Transaktion per Saldo weder eine Verbindlichkeit noch eine Forderung.
Das ist in einer Währungsunion auch vollkommen unproblematisch, weil die nächste Aktion, sagen wir der Kauf einer Immobilie eines Deutschen in Spanien, die Salden bei den Zentralbanken wieder ausgleicht. Das System hat jedenfalls zunächst nichts mit der Entscheidung, zu Sparen oder zu Investieren, zu tun und würde die Sinnsche These klar widerlegen, wenn es ein allein aus Güterkäufen abgeleitetes System wäre.
TARGET hat aber auch mit der Entscheidung, zu Sparen, zu tun. Wenn den spanischen Banken die Sparer davonlaufen und diese, sagen wir, ihr Kapital in Deutschland anlegen, müssen die spanischen Banken vermehrt ihre normalen Transaktionen durch die EZB finanzieren lassen, während die deutschen Banken fast kein EZB-Geld mehr brauchen, weil ihre Konten voll mit spanischem Geld sind. Wieder entstehen TARGET-Salden. Das aber ist der Todesstoß für die These von den dominanten Kapitalmärkten, denn ums Investieren geht es gar nicht mehr.