Räume des Ausnahmezustands

Carl Schmitts Raumphilosophie, Frontiers und Ungoverned Territories

Keywords: land appropriation, ungoverned territories, violence, Carl Schmitt, Giorgio Agamben; Schlagwörter: Landnahme, unregierte Räume, Gewalt, Carl Schmitt, Giorgio Agamben

Räume, physisch wie sozial oder symbolisch, stehen häufig im Vordergrund politischer Auseinandersetzungen. Der spatial turn, der in der Wissenschaft in den letzten beiden Jahrzehnten in den Gesellschafts‑ wie Kulturwissenschaften zu beobachten war, betont die Bedeutung von Raum in gesellschaftlichen Prozessen.[1].Diese Wiederentdeckung des Raumes bringt gleichzeitig die Fragen nach den Grenzen auf, die Raum in gesellschaftlichen Prozessen spielt. So weist die Globalisierungsdebatte auf Phänomene wie Entgrenzung, Deterritioralisierung, Raum-Zeit-Kompression und die Ablösung von Territorialstaat und Containerraum durch Netzwerke hin. Zumindest der vermessene, materialisierte Raum scheint in einer Phase intensivierter Globalisierung an Bedeutungshoheit zu verlieren. Somit stellt sich die Frage, inwiefern tatsächlich Gesellschaft und Raum miteinander korrespondieren oder sich gar in analogen Beziehungen befinden (vgl. Schetter & Weissert 2007).

Wohl der letzte Vertreter einer grand theory, dessen Gesamtwerk solch eine Korrespondenz von Raum und Gesellschaft konstatiert, ist Carl Schmitt (1888-1985). Die Bezugnahme auf Carl Schmitt geht jedoch immer mit dem Eintritt in eine Gefahrenzone einher (Müller 2007). So ist Schmitts Weltauffassung grundsätzlich anti-universalistisch, anti-liberal und weist dem Krieg eine grundsätzliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Politischen zu. Trotz oder gerade wegen der Polarisierung von Carl Schmitt gewann in den letzten zwei Dekaden der Bezug auf Schmitt unter konservativen wie auch linken Denkern an enormer Popularität. Ob Jürgen Habermas, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Slavoj Žižek oder Giorgio Agamben – alle beziehen sich in ihren Theoriebildungen in der einen oder anderen Weise auf ihn.

Auffällig in dieser Schmitt-Rezeption ist, dass dessen Raumbezug oftmals nicht wahrgenommen wird und damit ein wesentliches Leitmotiv des Schmitt’schen Denkens ausgespart bleibt. So stellt gerade dieser Raum­bezug für Carl Schmitt ein essentielles und über sein gesamtes Lebenswerk kontinuierlich verfolgtes Leitmotiv für seine Auseinandersetzung mit dem Politischen dar. Er findet sich nicht allein in seiner Definition des „Ausnahmezustands“ oder „des Politischen“, sondern schlägt sich in der „großen Erzählung“ nieder, die Schmitt in einer Vielzahl an Veröffentlichungen zwischen den 1920er und 1960ern niedergelegt hat. So basiert letztlich Schmitts Vorstellung des Politischen auf der (gewaltsamen) Aneignung und Abgrenzung von Raum. Mit anderen Worten: Schmitt geht von einer Analogie räumlicher und politischer Bezüge aus.

So stellt sich in einem Zeitalter fortgeschrittener Globalisierung die Frage, inwiefern Schmitts Diktum der „Ordnung und Ortung“ überhaupt noch Relevanz zukommt, sofern es jemals gegolten hat. Handelt es sich bei Schmitts Raumphilosophie nicht um einen Anachronismus aus Zeiten, in denen der nationalstaatliche Souverän noch eindeutig benannt werden konnte? Schmitt selbst konstatierte bereits 1950, dass die von ihm erkannte, auf Raumteilungen basierende Weltordnung im Untergang begriffen sei und das Endzeitalter einer totalen Vernichtung angebrochen sei (Schmitt 1997: 298f.). Dennoch stellt sich die Frage nach der heutigen Gültigkeit von Schmitts Raumphilosophie. Wir wollen in diesem Beitrag daher überprüfen, inwiefern Schmitts Ausführungen zu Raum und Landnahme für die Analyse gegenwärtiger „umkämpfter Räume“ analytisch nutzbringend sind, was wir an dem Beispiel von Räumen im Ausnahmezustand tun wollen. Wir erläutern diese Überlegungen anhand von zwei Beispielen: Zuerst diskutieren wir die frontier, die auch heute noch bestehende Bedeutung territorialer Landnahme für die Sicherung souveräner Macht. Im zweiten Beispiel zeigen wir auf, wie das Konzept der „unregierten Räume“ in einer Schmitt’schen Raumontologie verharrt. Die beiden Beispiele eröffnen damit eine analytische Spannung, die wir anhand der Diskussion von Schmitts versus Giorgio Agambens Begriff der Ausnahme aufzulösen suchen. Als Hinführung dazu legen wir zuerst Schmitts Raumphilosophie dar und diskutieren daran anschließend Schmitts und Agambens unterschiedliche Auslegung des Begriffs des Ausnahmezustands.

Zur politischen Raumtheorie Carl Schmitts[2]

Carl Schmitt ist wohl einer der letzten universalen Denker, der seine Analysen noch explizit in einen (territorialen) Raumbezug gestellt hat. Schon aus diesem Grund lohnt sich eine genauere Analyse seiner Raummetaphern und ihre Anwendung auf seine ideengeschichtlich inspirierte historische Analyse der raumordnenden und raumimmanenten Logik von Recht, Staatlichkeit und Souveränität in ihrer historischen Entstehung. Folgt man zentralen Schriften von Carl Schmitt, von Politische Theologie (2004) über Der Begriff des Politischen (2002), Völkerrechtliche Großraumordnung (1991), Land und Meer (2008), Der Nomos der Erde (1997) bis hin zu Theorie des Partisanen (2006), fällt auf, dass der Bezug zum Raum die wesentliche rote Linie im Werk von Carl Schmitt darstellt. Während im Begriff des Politischen oder in der Theorie des Partisanen der Raumbezug eher am Rande aufblitzt, steht er in Land und Meer, in Völkerrechtliche Großraumordnung und in Der Nomos der Erde explizit im Vordergrund.

In seinen Schriften entfaltet Schmitt eine politische Raumtheorie – eine Art Philosophie des Raumes. Obgleich Schmitt an verschiedenen Stellen durchscheinen lässt, dass ihm die geopolitische Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bekannt war (Mahan 1890; Mackinder 1904; vgl. Sprengel 1996), findet sich interessanterweise in keinem seiner Werke ein Verweis auf die Geopolitik. Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass Schmitt in seiner Theoriebildung dem Raum keinen Primat gegenüber dem Politischen einräumte, sondern eher von einer Analogie des Politischen und des Räumlichen ausgeht, die in seiner Politischen Theologie verankert ist. Schmitt entfaltet eine historische Meta-Erzählung über den Wandel der globalen Ordnung aus der Sicht eines religiösen Katholiken, wie Heinrich Meier (1994) überzeugend darlegte. Räumliche Referenzen befinden sich in einem analogen Wechselspiel mit seinem tief theologischen Verständnis des Politischen. Im Gegensatz zu einer geopolitischen Kontextualisierung stehen die räumlichen Bezüge in direkter Verbindung zum Begriff des Politischen, die Schmitt prägnant als die Unterscheidung zwischen Freund und Feind definiert (Schmitt 2002).

Schmitt stellt in seiner Metaerzählung der Marx’schen Dialektik eine andersartige historische Dynamik gegenüber: Während Marx vom Primat der Ökonomie ausgeht, sieht Schmitt (ebd.: 14) im Politischen den eigentlichen Motor der Geschichte und ihrer dialektischen Entfaltung, die aus der Unterscheidung von Freund und Feind resultiert. Aus jeder Idee, die zeitlich fixiert werden kann, folgt mit Notwendigkeit ihre Negation. In Schmitts Verständnis folgen daher historische Prozesse stets einer Dialektik, der ein theologisches Verständnis innewohnt. In Politische Theologie schreibt Schmitt, dass „…. alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe sind“ (Schmitt 2004: 49). So findet für Schmitt das Wunder in der Theologie seine säkularisierte Analogie im Ausnahmezustand des Staates. Ebenso wird auch die Freund-Feind-Dichotomie existentiell – oder theologisch als Kampf zwischen gut und böse, zwischen Gott und Teufel, zwischen Himmel und Hölle – gedeutet.

Schmitts Feind-Freund-Dichotomie ist bewusst gegen jeglichen Universalismus – den Versuch einer Auflösung von Gegensätzen – ausgerichtet. Analog zu dieser politischen Dialektik muss es nach Schmitt stets unterscheidbare und voneinander abgrenzbare Räume geben, durch die das Politische als Unterscheidung zwischen Freund und Feind seine Wirkmächtigkeit entfalten kann. Damit avanciert der Raum bei Schmitt zur Grundlage, zum Ort politischer Auseinandersetzungen, in den Worten Carl Schmitts:

„Die verschiedenen Weltbilder und ‑vorstellungen, die aus den verschiedenen Religionen, Traditionen, geschichtlichen Vergangenheiten und sozialen Organisationen entstanden sind, bilden eigene Räume. Geschichtliche Erinnerungen, Sagen, Mythen und Legenden, Symbole und Tabus, Abbreviaturen und Signale des Denkens, Fühlens und Sprechens, alles das zusammen macht die Ikonographie eines bestimmten Raumes aus. (…) Indem diese Ikonographie in ihrer geographischen Raumhaftigkeit erkannt wird, erscheint sie verortet und geschichtlich konkret.“ (Schmitt 1995: 526)

Mit der Betonung der Analogie von Idee und materialisiertem Raum verwirft Schmitt die Vorstellung eines „leeren Raumes“, die sich im Übergang von der Theologie des 16. zur Metaphysik des 17. Jahrhunderts durchsetzte.

Schmitts (2008: 66-68) horror vacui erklärt sich aus seinem festen katholischen Glauben. Ein nicht-materieller Raum ist nicht nur undenkbar, sondern Ausdruck der Leere des Todes und eines nihilistischen Blickes auf die Welt. Schmitts Verständnis von Raum als materialisiertem Containerraum ist daher untrennbar in seinem theologischen Verständnis verankert, das keine anderen Raumvorstellungen zulässt. Die essentielle Analogie von politscher Idee und Raum verdeutlicht Schmitt mit dem Begriffspaar „Ordnung und Ortung“ (1997: 13): „Jede Ordnung ist … zugleich eine territorial konkrete Raumordnung.“ (1991: 11) Sämtliche Rechts‑ und Ordnungsvorstellungen sind auf den physischen Raum zurückzuführen insofern hier „[d]as Recht [als] erdhaft und auf die Erde bezogen“ (Schmitt 1997: 13) dargestellt wird. Schmitt stellt weiter fest: „Die großen Ur-Akte des Rechts dagegen bleiben erdgebundene Ordnungen“ (ebd.: 15). Demnach erwächst aus dem Boden das Recht und ist das Recht als Ordnung an eine bestimmte Ortung gebunden, nämlich im Grund und Boden verortet: „Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen“ (ebd.: 13).

Zur Untermauerung dieses engen Zusammenhangs von Ordnung und Ortung führt Schmitt den Begriff Nomos auf den „konstituierenden Raumordnungsakt“ (ebd.: 40) zurück: „Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß…“ (ebd.). Gesellschaftliche Ordnung findet stets ihren Niederschlag in der räumlichen Ortung:

„Die Erde [trägt] auf ihrem sicheren Grund Umzäunungen und Einhegungen, Grenzsteine, Mauern, Häuser und andere Bauwerke. Hier werden die Ordnungen und Ortungen menschlichen Zusammenlebens offenkundig.“ (ebd.: 13)

Bei Schmitt basiert die Ordnung der Welt auf der Trilogie „Nehmen, Teilen und Weiden“. Hierunter versteht er letztlich eine Geographie der Gewalt. Erst durch die Landnahme mutiert der Raum zu einem Rechtsraum:

„So ist die Landnahme für uns nach Außen (gegenüber anderen Völkern) und nach Innen (für die Boden‑ und Eigentumsordnung innerhalb eines Landes) der Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorganges.“ (ebd.: 17)

Beispielhaft verdeutlicht Schmitt die antithetische Gegenüberstellung von Raum und Gegenraum sowie Idee und Gegenidee in räumlicher Hinsicht am Verhältnis von Land‑ und Seemächten (Schmitt 2008). Das Gegensatzpaar Land und Meer verbindet Schmitt mit unterschiedlichen Ideen, die in ihrer gegenseitigen Negation in einer politischen Dialektik stehen. Land und Meer repräsentieren divergierende Ideen: Anders als auf dem Land, wo der Nomos durch die „Landnahme“ zur vollen Geltung kommt und eine Rechtsordnung entsteht, „[ist] auf den Wellen… alles Welle“ (Schmitt 1997: 13). So stellt in seinen Augen das Meer das Riskante, das Unwägbare dar, in dem sich eine Rechtsordnung nicht verorten lässt. Schmitt deutet analog den Kampf zwischen Spanien und Großbritannien als einen Konflikt zwischen Land und Meer, dem letztlich die Ideen von Weltkatholizismus und Weltprotestantismus zugrunde liegt.

Schmitt verknüpft die großen Sprünge in der Weltgeschichte stets mit Momenten einer Raumrevolution. Raumrevolutionen entstehen, weil durch sich verändernde Lebensformen auch ein neues Raumbewusstsein entsteht, das wiederum zur Schöpfung neuer (materialer) Raumordnungen beiträgt. Die letzte Raumrevolution – mit dramatischen Folgen für seine Konzeptio­nalisierung des Politischen – sieht Schmitt nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Entwicklung der Luftfahrt:

„Die große Veränderung zeigt sich bei einer raumhaften Betrachtung darin, dass man mit Bezug auf den Luftraum nicht mehr, wie bisher, von einem Schauplatz des Krieges sprechen kann.“ (Schmitt 1997: 296)

So bedingen die Möglichkeit des Luftkrieges und die Entwicklung der Atombombe das Ende seiner Freund-Feind-Dichotomie. Die Möglichkeit der völligen Vernichtung durch Luftkriege und nukleare Schläge transformiert ‘echte’ Feindschaft in eine ‘absolute’ und macht damit das Politische obsolet; es verliert analog seinen konkreten Raumbezug. So muss – laut Schmitt – vor dem Vernichtungsschlag der Gegner „… als Ganzes für verbrecherisch und unmenschlich..., für einen totalen Unwert“ (Schmitt 2006: 95) erklärt werden. Damit setzt die moderne Kriegführung die Moralisierung des Krieges voraus, die zur Begründung absoluter Feindschaften und zur totalen Vernichtung führen. Eine moralische Verdammung, die in der Vernichtung mündet, kann jedoch ein politisches Freund-Feind-Verhältnis nicht hervorbringen, denn „… der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind und setzt beides, Freund und Feind voraus“ (ebd.: 93). So geht bei Schmitt die Auflösung des Politischen einher mit dem Verlust einer Raumordnung … oder anders ausgedrückt, eine Geographie der Gewalt löst sich auf, da die Eroberung der Lüfte den Raum per se entgrenzt.

In genau diesem Moment, in dem Schmitt zum Apologeten einer Endzeitstimmung wird, entwickelt er die Figur des Partisanen (ebd.) als des letzten Akteurs, der für das Politische steht. So zeichnet sich der Partisan durch seine Fähigkeit zur ‘echten’ Feindschaft aus und nicht durch den Anspruch auf ‘absolute’ Feindschaft. Hinter dem Partisan kommt schlussendlich wieder die theologische Perspektive zum Ausdruck: So ist es für das Verständnis des Schmitt’schen Denkgebäudes wichtig, dass der Partisan die Rolle des Katechons, des Aufhalters, einnimmt. Für Schmitts Glauben ist es essentiell, dass die Dialektik der Weltgeschichte niemals einen Endzustand erreichen darf – daher auch seine bereits früh geäußerte Kritik am Pazifismus und am bürgerlich-liberalen Universalismus.[3] Denn hierin sieht Schmitt den fatalen – weil aus seinem theologischen Blickwinkel zum Scheitern verurteilten – Versuch, das „… Paradies auf Erden zu errichten“ (Meier 1998: 55). Denn das Paradies auf Erden bedeutet die Ankunft des Jüngsten Tages und damit das Ende des Weltengeschehens. Analog zum letzten Aufbäumen des Politischen in Form des Partisanen erfährt dieser in Carl Schmitts Denkgebäude eine räumliche Ortung. So betont Schmitt den ‘tellurischen Charakter’ des Partisanen, dessen „…Verbindung mit dem Boden, mit der autochthonen Bevölkerung und der geographischen Eigenheit des Landes – Gebirge, Wald, Dschungel oder Wüste – unvermindert bleibt“ (Schmitt 2006: 26-27).

Nicht ohne Sympathie steht der Partisan bei Schmitt daher für ein „Stück echten Bodens“ (ebd.: 74). Die Begrenzung der Feindschaft, die Schmitt dem Partisanen einräumt, deutet zudem auf den politischen Charakter dieser Figur hin, die von dem räumlichen Charakter untrennbar ist. So schreibt Schmitt:

„Seine Fundierung auf den tellurischen Charakter scheint mir notwendig, um die Defensive, d. h. die Begrenzung der Feindschaft evident zu machen und vor dem Absolutheitsanspruch einer abstrakten Gerechtigkeit zu bewahren.“ (ebd.: 26)

Für Carl Schmitt korrespondiert jede Idee mit einer Gegenidee, die sich in Analogie in Räumen und Gegenräumen niederschlägt. Mit anderen Worten: Räume sind immer „umkämpfte Räume“, da Raum und das Politische nicht voneinander getrennt werden können. Schmitt kommt zu dieser Ansicht aufgrund seiner Politischen Theologie, die im Universalismus eine antichristliche Vorstellung zu erkennen meint. Er verfolgt also – gerade im Gegensatz zu vielen essentialistischen Geopolitikern – einen bewusst konstruktivistischen Ansatz: die konkrete Idee und die Wahrnehmung des Raumes produziert die materiale Raumordnung. Raum beinhaltet nicht eine konstante Bedeutung per se, sondern Ideen stehen in einem dialektischen Verhältnis zu Raumbezügen, in den Worten Schmitts: „Es [gibt] weder raumlose politische Ideen noch umgekehrt ideenlose Räume oder Raumprinzipien“ (Schmitt 1991: 29).

Mit seiner Raumphilosophie avancierte Schmitt – als Gegenpol zum diskursiven Mainstream – zum wichtigen Impulsgeber für die Theorie der Internationalen Beziehungen und für die Politische Geographie[4]. Die meisten Autoren stimmen Schmitts kritischer Rechtsgeschichtsschreibung zu, die das Westfälische Staatensystem als eine explizit europäische Raumordnung identifiziert und die mit Beginn des 20. Jahrhunderts sich abzeichnende unilaterale Vorrangstellung der USA kritisiert. Interessant ist, dass apologetische Bezüge auf Schmitt sowohl für „konservative“ als auch für „linke“ Positionen gezogen werden. Dies zeigt sich z.B. in der Diskussion um den „War on Terror“ – hier vor allem die Frage nach der Definition des Ausnahmezustands (vgl. kritisch: Korf 2009) – wie auch in der Debatte um eine multipolare Weltordnung (u.a. Habermas 2004; vgl. kritisch: Brumlik 2004). Doch verharren diese Diskussionen in der Regel auf der Ebene einer Makro-Geographie globaler Raumordnungen und lassen damit das Potenzial der Schmitt’schen Raumphilosophie zur Analyse auch kleinräumiger, multi-lokal aufgespannter Geographien der Gewalt ungenutzt.

Räume des Ausnahmezustands

Nachdem wir in die Raumphilosophie Carl Schmitts eingeführt haben, wenden wir uns nun dem Begriff der „Ausnahme“, oder genauer des „Ausnahmezustands“ und dessen räumlichen Implikationen zu. Der Begriff des „Ausnahmezustands“ ist in Carl Schmitts politischem Verständnis zentral. In „Politische Theologie“ (Schmitt 2004) bringt er ihn mit dem Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (ebd.: 1) prägnant auf den Punkt. Mit Schmitt könnte man sagen, dass raumordnende, insbesondere raumrevolutionierende Ereignisse und Taten der Landnahme, der Kriegsführung usw. in umkämpften Räumen stattfinden, die meist auch Räume des politischen Ausnahmezustandes darstellen. Doch wie stehen der Raum des Ausnahmezustandes und der territoriale Raum begrifflich und analytisch in Beziehung?

Der Ausnahmezustand bei Carl Schmitt ist räumlich und zeitlich eingegrenzt (Elden 2010; Korf 2009). Er ist für Schmitt primär ein „… temporäres Auseinandertreten von politischer Handlung und rechtlicher Normierung“ (Lembcke u.a. 2009: 42) in einer Krisensituation, dem Ernstfall, der schnelles Handeln erforderlich macht. Die Frage, was zu tun ist, wird von einer Rechts‑ zu einer Machtfrage – und damit zu einer Frage der Entscheidung eines Handelnden, des Souveräns. Der Souverän wird dadurch personalisiert, die souveräne Macht kann zugeordnet, verortet werden. Die Macht des Souveräns, die Rechtsordnung aufzuheben, bleibt latent auch im Normalzustand bestehen, doch ist die Aussetzung der Rechtsordnung zwar zugleich der Ursprung der rechtsetzenden Souveränität und doch eben: die Ausnahme.

Giorgio Agamben (2004; 2003; 2002) hat sich besonders intensiv mit Carl Schmitts Schriften zum Ausnahmezustand auseinandergesetzt und diesem eine dezidiert deterritorialisierende oder besser: topologische Richtung verliehen. Bei ihm ist der Ausnahmezustand – im Gegensatz zum Begriff bei Carl Schmitt – raumordnend, aber nicht räumlich verortet. Damit enthebt er die Ausnahme dem raum-zeitlichen Container, wo ihn noch Schmitt verortet hatte. Die Ausnahme wird topologisch, zur Beziehungsfigur. Während für Schmitt der Ausnahmezustand als Ereignis des Rechts noch im Recht verortet ist, verwischen sich für Agamben Gewalt und Gerechtigkeit im Inneren des Rechts.

Für Agamben ist der Ausnahmezustand eine topologische Figur und durchdringt das Recht:

„Der Ausnahmezustand ist demnach nicht so sehr eine raumzeitliche Aufhebung als vielmehr eine topologische Figur, in der nicht nur Ausnahme und Regel, sondern Naturzustand und Recht, das Draußen und das Drinnen, ineinander übergehen.“ (Agamben 2002: 48)

Ausnahmezustand und Regel werden ununterscheidbar. Der Unterschied wird deutlich, wenn man zum Vergleich Schmitts Nomos der Erde heranzieht. Dort verortet Schmitt noch den Ausnahmezustand als die Aufhebung der rechtlichen Ordnung in einer bestimmten Raumzeit – der Ausnahmezustand bleibt auf die territorialen Grenzen und die Herrschaftsdauer des Souveräns beschränkt. Interessant ist bei Schmitt, dass eben auch die Landnahme als grundlegender souveräner Akt der Territorialisierung über eine Art Ausnahmezustand erfolgt: „Der landnehmende Staat kann das genommene koloniale Land hinsichtlich des Privateigentums... als herrenlos behandeln“, schreibt Schmitt (1997: 171). Die souveräne Macht wird zur ordnenden Instanz im Naturzustand. Für Carl Schmitt ist die „Landnahme“ der zentrale Akt der Souveränität, die territoriale Ortung eines Gebietes, für das dann eine Ordnung gelten kann. Für Agamben ist nicht die Landnahme zentral, nicht die Ortung, sondern die Ausnahme als Entortung. Für Carl Schmitt liegt der Ausnahmezustand im Ereignis des Rechts begründet, für Agamben durchdringt der Ausnahmezustand das Recht. Nicht um die Landnahme als Territorialisierung der Ordnung geht es Agamben, sondern er betont die Entortung des Ausnahmezustandes.

Agamben fragt, wie sich der Ausnahmezustand als Nomos der Moderne zur bestimmenden Logik des Regierens entwickeln konnte. Er verortet den originären Akt der Souveränität in der Grenzziehung zwischen dem Menschen als Gegenstand oder Subjekt des Rechtes (Staatsbürger, Untertan – aristotelisch gesprochen der bios) und dem Menschen als (bloßem) Lebewesen (aristotelisch gesprochen der zoon). Die scheinbar getrennten Sphären des Rechts und des Lebens rücken so dicht aufeinander, dass sie ununterscheidbar werden. Der Unterschied zwischen Agamben und Schmitt scheint uns demnach, dass Schmitt sich primär mit der Macht des Souveräns beschäftigte, den er im Container des Nationalterritoriums verortete, während Agamben mit Michel Foucault die gouvernementale Macht der Biopolitik in den Vordergrund rückt (Foucault 2006). Im Gegensatz zu Foucault sieht Agamben in der Biopolitik jedoch eine originale Tat souveräner Macht und merkt an, dass „die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht [ist]“ (Agamben 2002: 16), nicht eine neue Form des Regierens jenseits der Macht des Souveräns. Der Ausnahmezustand, schreibt Agamben und beruft sich hier auf das Diktum Walter Benjamins (1965: 84), wird zur Regel, zu einer Logik des Regierens, die eben nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt ist – und damit zu trennen von Räumen, in denen kein Ausnahmezustand gilt, sondern es verwischen sich diese Grenzen, das Ausnahmedenken diffundiert in den Alltag des Regierens, es wird zum Paradigma des Regierens.

Paradoxerweise re-territorialisiert Agamben den Ausnahmezustand dann doch, wenn er das Lager als Lokalisierung des Ausnahmezustandes schlechthin bezeichnet: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt“ (Agamben 2002: 117). Agamben versteht das Lager als lokalisierten Ausnahmezustand, als verräumlichte Form der Logik des Ausnahmezustandes. Das Lager als nomos, als Logik wird von drei Prinzipien geprägt: erstens einem disziplinarischen Dispositiv, zweitens, einer Unterscheidung von innen und außen, und drittens einem Mechanismus von Ein‑ und Ausschließung. Doch führt die Logik der Überschreitung des Ausnahmezustandes zur Verwischung dieser Unterscheidung, dieser Trennlinie von innen und außen. Das biopolitische Grundprinzip, das bios vom zoon trennt, stellt die Exklusion-Inklusion-Unterscheidung wieder her.

Damit zeigt sich in der Diskussion um Schmitts versus Agambens Begrifflichkeit geradezu die zentrale Bedeutung der Räumlichkeit des Ausnahmezustands – eines territorial fixierten versus eines diffusen Raumbegriffs. Im zweiten Teil unseres Aufsatzes zeigen wir, dass für die Analyse gegenwärtiger „umkämpfter Räume“, in denen ein Ausnahmezustand konstatiert werden kann, eine rigide Antinomie à la Schmitt versus Agamben analytisch wenig hilfreich ist. Vielmehr treten in konkret verortbaren umkämpften Räumen beide Elemente eines territorialen Raumes und eines diffusen Raumes des Ausnahmezustandes in Erscheinung, doch je nach Kontext in unterschiedlicher Ausprägung. Wir zeigen diese Überlagerung fixierter und diffuser Räume des Ausnahmezustandes an zwei Beispielen: erstens am Phänomen der gewaltsamen Landnahme in den Peripherien fragiler Staaten (hier am Beispiel Äthiopiens) und zweitens anhand der Metapher der „unregierten Räume“, die im Kontext der Aufstandsbekämpfung im Afghanistankrieg Räume des Ausnahmezustandes als Räume der sozialen Anomie und des Chaos bezeichnet.

Frontier und Landnahme

Ein Phänomen gegenwärtiger umkämpfter Räume ist das der gewalttätigen Landnahme in den globalen Peripherien, das mit diffuser und offener Gewalt einhergeht (Peluso & Lund 2011; Hagmann & Korf 2012; Watts 2000). In vielen Fällen sind dies dünn besiedelte, meist abgelegene Grenzräume, entweder Bergregionen (Scott 2009), riesige Waldregionen (Peluso & Vandergueest 2011) oder nomadisch genutzte Trockengebiete (Hagmann & Korf 2012; Turner 2004). Diese Regionen sind politisch und militärisch schwer zu kontrollieren, entweder aufgrund des schwierigen Terrains (im Berggebiet), weil sie wenig einsehbar sind (Wälder) oder aufgrund ihrer schier endlosen Weite mit wenig intensiv nutzbaren Ressourcen. Sie werden oft als frontier bezeichnet – Räume, in denen in einer Art Ausnahmezustand eine gewalttätige Landnahme vonstattengeht. In seinem Klassiker The Frontier in American History beschreibt Frederick Jackson Turner (1893) die gewalttätige Landnahme Nordamerikas. Sie bewegte sich westwärts, und das sukzessive Aufeinandertreffen von Kolonisten und „primitiven“ Ureinwohnern bedeutete eine graduelle Entfernung von „Europa“ – und seiner Zivilisation. Diese Frontier-Besiedlung fand in immer neuen Wellen statt, die langsam, aber stetig die „leeren Räume“ des amerikanischen Westens zivilisierten. Wir sind uns heute bewusst, dass es sich im „Wilden Westen“ nicht um leere Räume handelte; sie waren besiedelt, aber aus der Sicht der Mächtigen, derjenigen, die die Siedlungs-frontier erfolgreich vorantrieben, mussten es leere Räume sein, um die Rechtmäßigkeit der Landnahme begründen zu können. Schmitt sprach in Nomos von „herrenlosem Land“, um dieses Phänomen zu beschreiben.

Danilo Geiger (2008) hat den Begriff der frontier auf heutige Staatsprojekte der Territorialisierung (oder: Landnahme) übertragen und identifiziert dabei folgende Muster: Erstens handelt es sich um Räume mit meist nur sporadischer, nicht substantieller territorialer Präsenz des Staates. Zweitens scheint es in diesen Räumen frei verfügbare Naturressourcen zu geben (auch wenn dies meist nur scheinbar der Fall ist, da diese bereits indigen genutzt werden). Drittens steht aus Sicht des landnehmenden Staates und seiner Agenten die indigene Bevölkerung außerhalb der moralischen Gemeinschaft der fortschrittlichen Gesellschaft (unzivilisiert, „Wilde“). Viertens setzen die Eindringlinge – sogenannte frontiermen – eine privatisierte Gewaltordnung durch, die jedoch vom Staat gedeckt wird. Fünftens entsteht eine Ausbeutungsökonomie, die auf schnellen Gewinn ausgerichtet ist und vornehmlich von den frontiermen, nicht der indigenen Bevölkerung, dominiert wird.

Dieses Denken in einer frontier-Logik lässt sich beispielhaft an der Politik der Landnahme des derzeitigen äthiopischen Regimes in seiner peripheren Somali-Region aufzeigen (nicht: im ehemaligen Staat Somalia), die für eine grundlegendere Herrschaftsstrategie des äthiopischen Staates in seinen vornehmlich nomadisch besiedelten (pastoralen) Grenzräumen steht. Der Fall der äthiopischen Landnahme in der somalischen frontier ist dabei aus folgenden Gründen analytisch interessant: Erstens zeigt sich hier eine klassische staatliche Landnahme als Projekt der Vollendung staatlicher Souveränität und Territorialisierung bislang ungezähmter Räume. Zweitens wird aber diese Landnahme überlagert durch einen ideologisch und kulturell aufgeladenen Diskurs eines vermeintlichen clash of civilizations – vorerst zwischen sesshafter und nomadischer Lebensweise, doch zunehmend auch mit religiös-weltanschaulicher Grundierung (christlich-orthodox versus islamisch). Erst durch diesen zweiten Aspekt verwischen sich die Grenzen des Ausnahmezustandes von einem territorialen zu einem räumlich diffuseren, wenn auch nicht weniger gewaltsamen Projekt.

Die äthiopische Herrschaftselite, die seit 1991 (vorher: Amhara bzw. amharisierte Elite) von der Ethnie der Tigray aus dem sesshaften Hochland dominiert wird, erkennt in diesen pastoralen Trockengebieten im semi-ariden Tiefland, den „lowlands“, eine „backward region“ oder auch eine „peripheral region“, die es zu territorialisieren und zu zivilisieren gilt. Diese peripheren Räume erhielten in der Politik des ethnic federalism nach 1991, die den Ethnien politische Eigenständigkeit in territorialen Containern von Regionen übertragen sollte, eine neue Bedeutung in den umstrittenen Zentrum-Peripherie-Beziehungen des äthiopischen Staates (Abbink 2011; Hagmann 2005; Donham u.a. 2002). Diese Neuordnung des Raumes bediente sich bestimmter Strategien politischer Herrschaft, die denen früherer Regime nicht unähnlich waren und auf eine Konsolidierung territorialer Kontrolle der Peripherien abzielte.

In dieser Territorialisierungslogik gelten pastorale Räume der „lowlands“, nicht nur in der Somali-Region, als no-man’s land, als leere Räume, die es „zu füllen“ und „zu nutzen“ gilt. Somit wird die Peripherie der pastoralen lowlands zur frontier und der staatliche Herrschaftsanspruch auf die Landressourcen, der sich in den Landgesetzgebungen zeigt, entwickelt für die meist von kommunalen, klan-basierten Nutzungsrechten von Weideressourcen geprägten lowlands eine gefährliche Problematik. In der 2005 überarbeiteten Fassung der äthiopischen Landrechtsgesetzgebung heißt es:

„Da die Regierung Eigentümerin des ländlichen Grund und Bodens ist, kann kommunales Land, wenn notwendig, in privates Eigentum überführt werden.“[5]

Durch diese Klausel werden dem Staat die Akquisition kommunalen Landes und seine Transformation in privatrechtliche Eigentumsformen ermöglicht. Während die Landrechtsdiskussion im durch bäuerliche, sesshafte Landwirtschaft geprägten, dicht besiedelten Hochland vor allem Landumverteilung und fehlende Rechtssicherheit problematisiert (Crewett & Korf 2008), geht es in den lowlands stärker um die Inbesitznahme und Privatisierung von kommunalem Klanland. In den lowlands wird dies rechtlich weiter abgesichert durch das Bild vom „leeren Land“ – empty space, eben nicht: kommunales Klanland, das sehr wohl als Weidegrund genutzt wird. Dieses leere – oder, wie Schmitt es nennt, „herrenlose“ – Land wird zum Staatseigentum erklärt und kann damit vom Staat akquiriert werden (Abdulahi 2007; Beyene & Korf 2012). Die gefährliche Problematik dieser Landrechtsklausel besteht also darin, dass die pastoralen Gebiete zur frontier erklärt werden (wenn auch nicht unter diesem Begriff), in der der Staat jederzeit eine Landnahme vornehmen kann. Im Ort der frontier finden wir eine delikate Konstellation von Rechtsordnung, Gewalt, Grenzen des Staates, aber auch grenzenlose Handlungsspielräume für den Staat und seine Agenten.

Das frontier-Denken wird untermauert durch eine zivilisatorische Ideologie, in der der Pastoralismus noch in einer Art Naturzustand verortet wird. Der äthiopischen Elite, die aus dem Hochland stammt, erscheint die nomadische Lebensform als archaisch, im Naturzustand verhaftet, die entlang eines teleologischen Fortschrittsmodells zur Sesshaftigkeit – und damit in die Zivilisation überführt werden soll. Dabei zeigt sich ein Diskurs moralischer Überlegenheit der Herrschaftselite und auch der aus dem Hochland kommenden frontiermen, meist aus Tigray oder anderen Hochlandregionen Äthiopiens, die z.B. in der Provinzhauptstadt Jijiga lange Zeit Handel und Administration dominiert haben.

Doch ist die Somali-Region nicht erst durch das derzeit herrschende Regime zur frontier gemacht worden. Sie wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts in das äthiopische Kaiserreich integriert – und die derzeitigen Prozesse der Landnahme sind eine Weiterführung der bis heute andauernden territorialen, politischen und ökonomischen Durchdringung der frontier durch den Staat (Bahru Zewde 2002). So versuchte schon Kaiser Haile Selassie in Gode, im Süden der Somali-Region, in einem riesigen Bewässerungsprogramm pastorale Gruppen zur sesshaften Bewässerungslandwirtschaft zu bewegen, um „leere“, „ungenutzte“ Räume produktiv zu machen. Doch gipfelte dieser lange, historisch nie vollendete Versuch der Zähmung der frontier in einer bürgerkriegsartigen Gewalteskalation, in der die äthiopische Armee die Widerstandsbewegung des mächtigen somalischen Ogaden-Klan im Jahr 2007 blutig niederzuschlagen versuchte (Hagmann & Korf 2012).

Die territoriale frontier wird also von einer kulturell aufgeladenen, politischen frontier überlagert, in der das territoriale Projekt der Landnahme über eine Logik zivilisatorischen Fortschrittes auf eine zeitliche Skala übertragen wird. Seit 2003 werden die marginalisierten Regionen des Tieflandes (Gambela, Bela Shangul, Afar und Somali) nicht, wie die anderen Regionen, mit Hilfe von der herrschenden Partei der EPRDF angegliederten Regionalparteien, sondern direkt über das Ministry of Federal Affairs regiert. Die Somali-Nation und auch die anderen Regionen wurden als noch nicht reif genug angesehen, um über ihre Regionalparteien (im Fall Somalis die SDPD) direkt zum Mitglied der EPRDF-Familie zu werden – und dennoch bleibt die SDPD ein wichtiges Werkzeug der tigrayischen Elite in der Kontrolle der Somali-Region (Hagmann 2012; 2005). Gleichzeitig präsentiert sich der äthiopische Staat als oberster Schlichter in inter-ethnischen Konflikten, z.B. zwischen Somalis und Oromos (Beyene 2009; Kefale 2010), und stellt sich in Zeiten des Notstands in einer Art Ausnahmezustand über die Regionalregierungen und Regionalparteien, was auch den Einsatz des Militärs und militärischer Gewalt legitimiert.

In der gewalttätigen Landnahme in den äthiopischen lowlands überlagern sich Landnutzungsprojekte, zivilisatorische Fortschrittsideologien und politischer Ausnahmezustand in einem inszenierten clash of civilizations, der von religiös-zivilisationskritischen Tönen überlagert wird: denn die Hochlandkultur ist mehrheitlich christlich-orthodox geprägt, während die somalische Bevölkerung muslimischen Glaubens ist. Hier zeigt sich die Entortung des Ausnahmezustandes, die diffuse Durchdringung globaler und lokaler Ausnahmezustände in umkämpften Räumen globaler Peripherien. So gelang es der äthiopischen Regierung nach 2001, ihre Aufstandsniederschlagung als Kampf gegen islamistische Fundamentalisten in der Rhetorik des globalen War on Terror zu verorten, was militärische Unterstützung und politische Rückendeckung durch die USA sicherte, insbesondere für die grenzüberschreitenden Militäraktionen im somalischen Reststaat. Gleichzeitig mit ihrer Intervention in Somalia verschärfte die äthiopische Regierung auch die Verfolgung oppositioneller Bewegungen in anderen Regionen und insbesondere in der Hauptstadt. Diese Diffundierung des Ausnahmezustands von den Peripherien ins Zentrum spiegelte sich in paradoxen Allianzen zwischen Tieflandrebellen (z.B. die Ogaden National Liberation Front, ONLF) mit zentralistischen pan-äthiopischen Gruppen, doch existieren diese Allianzen primär auf dem Papier.[6]

Für Carl Schmitt ist die „Landnahme“ der zentrale Akt der Souveränität, die territoriale Ortung eines Gebietes, für das dann eine Ordnung gelten kann. Die frontier führt zur Lokalisierung des Ausnahmezustandes (als territorialer Raum, in dem die Logik des Ausnahmezustandes zur Anwendung kommt). Die frontier wird zur „Schwelle der Ordnung“, um eine Terminologie Agambens aufzugreifen, an dem sich die Ordnung (hier staatliche Souveränität) mit dem berührt, was nicht mehr zu dieser Ordnung gehört bzw. noch wenig von dieser Ordnung durchdrungen ist. Als Schwelle der Ordnung ist sie der Ort, der geographische Raum, in dem der Ursprung, die Konstitution von Ordnung (Souveränität) „gemacht“ wird. Frontier ist aber nicht bloß eine geographische Zone, sondern eine Logik des Regierens, ein Akt der Souveränitätsausübung, die über einen bestimmten Ort hinausgeht. Durch sie wird der Ausnahmezustand permanent, zur topologischen Figur (Agamben 2004). Die frontier fasst begrifflich demnach beides – den umkämpften Raum als (territorialen) Ort und eine topologische, aräumliche Logik des Regierens im Ausnahmezustand mit bestimmten Rationalitäten. Diese Logik wird jedoch wieder verräumlicht in den territorial verortbaren Handlungen des Souveräns, des Staates, der frontiermen. In der frontier finden sich also die Schwelle der Ordnung und ihre gleichzeitige Auflösung in anderen Räumen des Politischen.

So bleibt die frontier der lowlands essentiell für die Konstitution des äthio­pischen Staates (wie der Wilde Westen für die USA), als Vergewisserung des Innen und Außen des äthiopischen Staates als ideologisches Projekt. Die Somali-Region ist aber auch eine frontier, eine Schwelle der Ordnung, im globalen Antiterrorkampf, im Kampf gegen den Islamismus. Sie ist die Schwelle zur Invasion, zur Kontrolle der islamistischen Bedrohung, halb noch im christlich-abendländischen Äthiopien verankert, halb schon im Diskurs der „morgenländischen islamistischen Gefahr“ verfangen. In dieser frontier verschmelzen Ausnahme und Regel, Hobbes’ Naturzustand, der Kampf aller gegen alle, und die Rechtsordnung des abendländischen Äthiopiens gehen ineinander über und werden – im Sinne von Agambens topologischem Begriff des Ausnahmezustandes – potentiell ununterscheidbar. Dies zeigt: Schmitts Begriff des Ausnahmezustandes mit seiner klar umrissenen Eingrenzung in Raum und Zeit reicht hier analytisch nicht aus, die diffusen Geographien der Gewalt in der frontier zu analysieren.

Ungoverned Territories und homo sacer

Die Konzeptionalisierung der frontier steht im direkten Kontrast zu dem Diskurs über ungoverned territories/ungoverned spaces, der in den letzten Jahren in US-amerikanischen Think Tanks (v.a. Rand Corporation) vorherrschte und einen starken Einfluss auf die US-Sicherheitspolitik ausübt (Schetter 2010a). Dieser Diskurs betont nicht die Schwelle, sondern die klare Abgrenzung. Anders als beim frontier-Gedanken ist das Moment der Landnahme nicht mehr vorgesehen. Dem staatlich durchdrungenen Territorium als dem Normalzustand werden ungoverned territories als territorialisierte Ausnahmezustände gegenübergestellt, in denen Anarchie und Chaos herrschen und in die sich Terroristen, Drogenbarone und Widerstandsgruppen zurückziehen. Diese Regionen avancieren zu neuen Gewalträumen.

Analog zur Debatte um fragile Staatlichkeit wird in der Diskussion um ungoverned territories einem idealbildlichen, „regierten“ Staat dessen Gegenbild – also politische Strukturen, die sich negativ hieraus ableiten lassen – als „unregierte“ Ausnahme gegenübergestellt. Hieran schließt die Vorstellung an, dass in ungoverned territories vormoderne und/oder illegitime Gesellschaftsformen dominieren müssen. Der Begriff „ungoverned“ suggeriert, dass allein der Staat über politische Legitimität verfügt und nicht-staatliche Institutionen und Akteure im Grunde genommen illegitim sind (Elden 2009: 171). Der Ansatz der ungoverned territories vernachlässigt zudem, dass sich Menschen im Raum bewegen und über raumübergreifende Netzwerkstrukturen verfügen, ja politische Entscheidungen jenseits von starren Raumbezügen treffen.

Die Auswahl der Räume, die Think Tanks als unregiert bezeichnen, ist von einem klassisch staatlichen Territorialdenken geleitet (vgl. Schetter & Prinz 2012). So werden ungoverned territories an der Peripherie staatlicher Kontrollmöglichkeiten identifiziert, zu welchen Grenzregionen, aber auch Luftwege und maritime Transportwege zählen. In den letzten Jahren entstand in US-amerikanischen Think Tanks geradezu ein Wettlauf darum, neue unregierte Räume auf dem Globus zu identifizieren (vgl. Rabasa u.a. 2007; Lamb 2008). Diese Konjunktur von ungoverned territories verdeutlicht die grundlegende Problematik, Räume abzugrenzen, die als ‘governed’ bzw. als ‘ungoverned’ gelten. So gibt gerade die ins Unendliche erweiterbare Auflistung von ungoverned territories guten Grund für das Argument, dass die Bewertung des Regierens stets einer normativen Betrachtung unterliegt. So weist die Flut an „neu“ entdeckten unregierten Räumen auf Agambens Diktum hin, dass der Ausnahmezustand ein permanenter ist, der stets und überall konstatiert werden kann.

Die afghanisch-pakistanische Grenzregion stellt den Prototypen für die Entwicklung des Konzepts der ungoverned territories dar. Die Durand Line, die Afghanistan von Pakistan abgrenzt, wurde von Britisch-Indien Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt. Bis heute stellt Kabul aus geopolitischen und ethnopolitischen Gründen die Grenzziehung in Frage, da auf beiden Seiten der Grenze Paschtunen leben. Mehrfach standen beide Länder aufgrund der „Paschtunistanfrage“ am Rande eines Krieges (Schetter 2010b). Jedoch ist diese Grenzregion auch durch den Konflikt „Stamm gegen Staat“ geprägt (Tapper 1983). So vermochten es die Stämme entlang der Grenze, stets ihre Autonomie gegenüber der staatlichen Politik Kabuls und Islamabads zu bewahren. Während die seit 1979 anhaltende Kriegssituation in Afghanistan den Stämmen ihre Autonomie sicherte, richtete Pakistan mit den Federally Administrated Tribal Areas (FATA) Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan ein, in denen die Stämme die Grenzsicherung übernehmen (Frontier Corps), eine eigene Gerichtsbarkeit herrscht, in denen aber den Bewohnern Grundrechte wie etwa die Teilnahme an Wahlen vorenthalten werden. Schließlich gewannen in dieser Grenzregion seit dem Afghanistan­krieg islamistische Gruppierungen zunehmend an Bedeutung, was auf eine Radikalisierung der Gesellschaft infolge von Krieg, Flüchtlingsdasein und Entwurzelung zurückzuführen ist (Edwards 1996).

Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern es sich hierbei um eine Region handelt, die sich tatsächlich der staatlichen Kontrolle entzieht, oder vielmehr um eine Region, der der pakistanische Staat ganz bewusst eine Sonderbehandlung zukommen lässt. In der Raumvorstellung der britischen Kolonialgeschichtsschreibung, die vom pakistanischen Staat übernommen wurde, stellte die Region westlich des Indus interessanterweise einst eine frontier dar. So trug die Provinz, die an den Punjab – als das wirtschaftliche, kulturelle und politische Zentrum Pakistans – grenzt, bis 2010 die Bezeichnung North-West Frontier Province (jetzt Khyber Pakhtunkhwa). Dieser frontier-Status drückt seit der britischen Kolonialzeit aus, dass es sich um eine Übergangszone hin von der „zivilisierten“ Industiefebene hin zum „wilden“ Afghanistan handelt. Eine Steigerung dieses Stereotyps der „Wildheit“ stellen die FATA dar – als letzte Bastion, auf die der Staat noch Einfluss nehmen kann, bevor weiter nordwestlich das „wilde Afghanistan“ wartet. Auch in Afghanistan wurde diese in der Kolonialzeit geborene Vorstellung der Grenzregion übernommen (Glatzer 1996) und bildete mitunter die Grundlage für eine Sonderbehandlung – etwa der Befreiung der Grenzstämme von Steuern und Militärdienst. Das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet stellt in den Köpfen vieler politischer Entscheidungsträger, nicht nur auf beiden Seiten der Grenze, eine frontier zwischen Zivilisation und angenommener Wildheit dar. So wandelte sich eine einstige frontier, in der die Landnahme durch den Staat nicht erfolgte, im Rahmen der Intervention in Afghanistan zur Vorlage für die Konstruktion von ungoverned territories. Die Drohnenangriffe in den FATA lassen sich aufgrund ihres Sonderstatus und der angenommenen Unzivilisiertheit ihrer Bewohner, in der stets auch die Bevölkerung des Punjabs eine Bedrohung erblickte, daher eher legitimieren als anderswo auf pakistanischem Territorium.

Die zentrale politische Funktion des Konzepts der ungoverned territories ist – ganz im Verständnis von Schmitts Ausnahmezustand – die Legitimation einer zumindest partiellen Suspendierung der Weltordnung, die aufrechtzuerhalten vordergründig als einer der Gründe für die Entwicklung des Konzeptes erscheint: So geht mit der Identifizierung von ungoverned territories einher, dass die Souveränität der Staaten, in denen diese verortet werden, angezweifelt wird. In den Augen derer, die die Deutungshoheit über die Bestimmung von ungoverned territories zu erreichen suchen, kommt der Souverän seiner Primäraufgabe – nämlich der territorialen Durchsetzung des Gewaltmonopols – nicht nach. Dies bedeutet, dass über die Identifizierung von unregierten Ausnahmeräumen die Möglichkeit der Delegitimierung gewisser Staaten und der Legitimation externer Interventionen angelegt ist. Ungoverned territories avancieren so zu Raumcontainern, in denen politische und militärische Interventionen legitimiert werden, was nicht weniger als die Einschränkung der Souveränität der betreffenden Staaten bedeutet (Gregory 2004).

Die konzeptuelle Neuerung der ungoverned territories ist damit durch die Permanenz des Ausnahmezustands geprägt, die sich in einer spannungsgeladenen und politisierten Aufspaltung des Souveränitätsbegriffs niederschlägt: Einerseits ist diese Konzeption darum bemüht, den Status Quo der internationalen Staatenordnung und des staatsorientierten Raumdenkens aufrechtzuerhalten; andererseits steht das Gewaltmonopol, welches ein Staat über das eigene Territorium ausüben ‘muss’, um Staat sein zu ‘dürfen’, verstärkt auf dem Prüfstand.

Interessant ist, wie die Konstruktion dieser neuen Gewalträume mit neuen Formen der Gewaltanwendung einhergeht. Die Debatte um ungoverned territories kreist darum, dass diese das „Territorium des Anderen“ sind. Es werden also exotische Raumbilder entworfen, die gerade das „Tribale“, das „Ungeordnete“, das „Unwägbare“ betonen (vgl. Schetter & Prinz 2012). Ungoverned territories erscheinen daher als Regionen, die durch eine militärische Mission kaum nachhaltig beherrscht oder gar „zivilisiert“ werden können. Es sind – was sich im Mittel der Drohnenangriffe spiegelt – „... Zonen der unkontrollierten Machtausübung“ (Buck-Morss 2003: 29), in denen nicht nur die Gesetze des Staates, sondern der Zivilisation ausgesetzt werden, in denen eine Schmitt’sche Landnahme gar nicht mehr erfolgen kann, wie sie – wie oben gezeigt – noch der frontier-Gedanke beinhaltet. So zielt der ungoverned-territories-Diskurs nicht mehr auf staatliche Vereinnahmung ab, da dies von vornherein als ein aussichtsloses Unterfangen gesehen wird.[7] Zwar werden weiterhin die Schwächen der Staaten analysiert mit dem Wunsch, diese mögen ihr eigenes Territorium kontrollieren, doch ist die Bereitschaft zu zeit‑ und kostenintensiven Interventionen für einen Staatsaufbau nicht mehr vorhanden.

Es vollzieht sich daher der Übergang zu einer neuen Stufe der militärischen Interventionspolitik, die sich auf räumlich begrenzte, mobile Blitzschläge stützt – ganz wie es Schmitt (1997) mit der letzten Raumrevolution, nämlich der Eroberung des Luftraums, andeutete. Das Konzept der ungoverned territories, das ja gerade die außerordentliche Gesetzlosigkeit in diesen Räumen betont, lässt daher auch externe Interventionen ohne Rechtsbindung als ein legitimes Mittel erscheinen. So dient die Konzeptionalisierung von ungoverned territories der territorialen Festlegung einer Zone, in welcher die Gewaltausübung nicht mehr an den nomos, sondern einzig an die selbstgewählten Instrumente gebunden ist. Es findet eine Feinjustierung der Interventionspolitik auf Ausnahmeräume statt. Ungoverned territories sind somit Regionen, in denen verdeckte Operationen und Strafaktionen durch Spezialeinheiten, Geheimdienstkräfte oder Police Bombing stattfinden. Drohnen mit ihren künstlichen „Augen“ werden aufgrund ihrer hohen Mobilität und ihres Verzichts auf Besatzung zu einem prototypischen Kampf‑ und Machtmittel. Die Bewohner von unregierten Räumen werden auf den Status von homines sacri – um mit Giorgio Agamben zu sprechen – reduziert, denen jederzeit die Auslöschung durch eine Rakete, abgeschossen von einer in Nebraska gesteuerten Drohne, droht.

Fazit

Umkämpfte Räume können, müssen nicht Räume des Ausnahmezustandes sein. In der frontier und in ungoverned territories zeigt sich jedoch in unterschiedlicher Weise das „herrenlose Land“, von dem Schmitt in nomos schreibt. Herrenlos sind diese Räume, weil sie entweder als „leer“, d.h. ohne zivilisierte Bewohner (frontier), oder als anomisch, d.h. ohne zivilisierte Herrschaft (ungoverned territories), gedacht werden. Diese vermeintliche „Herrenlosigkeit“ definiert erst den Ausnahmezustand, in dessen Logik dann gewaltsame Landnahme oder Intervention von oben legitimiert wird – doch mit völlig unterschiedlichen Territorialisierungsstrategien. Im Fall der frontier geht es um die klassische Landnahme des souveränen Staates, die territoriale Durchdringung des Herrschaftsraumes durch den Staat bzw. das ihn regierende Regime. Im Fall der ungoverned territories hingegen geht es um eine Kontrolle ohne durchdringende Territorialisierung – also den Aufbau einer temporären, lokal begrenzten Herrschaft. In beiden Fällen handelt es sich damit um „umkämpfte Räume“, in denen sich der Nomos in konkreten, materialisierten Raumauseinandersetzungen niederschlägt. So wird deutlich, wie – ganz im Sinne Agambens – der Ausnahmezustand zur Permanenz politischer Handlungen erhoben wird. Zudem lassen sich beide Beispiele mit Carl Schmitts Raumphilosophie begreiflich machen, da eine Ordnung und Ortung miteinander einhergehen.

Am Beispiel der äthiopisch-somalischen frontier wird auch deutlich, wie sich Agambens Schmitt-Rezeption einseitig auf den „War on Terror“ bezieht. Dadurch entgehen Agamben die oft sehr viel subtileren und räumlich diffuseren Strukturen und Prozesse der Landnahme, die auch in der globalisierten Welt noch die fundamentale Bedeutung des Territoriums für die Ausübung von souveräner Macht verdeutlichen. „Umkämpfte Räume“ sind auch heute nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern beziehen sich in vielen Fällen auf konkrete territorial eingrenzbare Orte und Räume, in denen gewaltsam um den Zugang zu Ressourcen, um die Kontrolle über Territorien und Menschen und über kulturelle Dominanz gestritten und gekämpft wird. Staatliche und supra-staatliche Macht wird auch in Zeiten der Globalisierung noch über Territorialisierung ausgeübt. Die frontier verdeutlicht, dass in der Kontrolle über Territorien auch im 21. Jahrhundert ein essentieller politischer Akt erblickt werden muss – sei es zur Ausübung souveräner Gewalt über Leben und Tod oder aufgrund eines biopolitischen Imperativs, Bevölkerungen zu ernähren und hierfür Ressourcen auch über das eigene Territorium hinaus zu sichern, sei es einfach nur aus Macht­sicherung politischer Regime. Agambens Lager ist daher zu eng geführt, da es nur eine mögliche räumliche Form des Ausnahmezustands darstellt. So scheint es vielfältige räumliche Formen des Ausnahmezustandes zu geben, in denen sich Geographien der Gewalt ausbilden.

Im Sinne Schmitts bestünde der Unterschied zwischen den beiden Beispielen wohl darin, dass die frontier Ausdruck eines Umfelds ist, in dem der nationalstaatliche Souverän noch das Projekt einer Landnahme als Konsolidierung seines Territoriums verfolgt. Hier spielt die letzte Raum­revolution der Bemächtigung des Luftraums noch keine Rolle. Dies ist in den ungoverned territories dagegen anders. Hier drückt sich die Möglichkeit des Luftkrieges (Drohnen) in der Durchsetzung der „absoluten“ Feindschaft und in der Bereitschaft zur völligen Vernichtung aus. Die Ortung und Ordnung des „Unregierbaren“ erfolgt jedoch in einer Weise, in der eine Landnahme nicht mehr möglich erscheint und Agambens Lager Wirklichkeit wird.

Paradoxerweise handelt es sich beim Konzept der ungoverned territories um eine anachronistische Strategie des Souveräns: So entstehen mit ungoverned territories zwar neue „angenommene“ Container des „Chaos“; doch sind die Grenzen dieser ungoverned territories äußerst porös. Die Akteure in diesem vermeintlichen Container sind mobil und überschreiten die Grenzen dieser „Lager“. An dieser Stelle ist sicherlich Agambens Diktum des homo sacer zu kategorisch und ist Schmitts Gedanke der „Ordnung und Ortung“ zu sehr von dem Gedanken beherrscht, dass eine effektive staatliche Gebietskontrolle durchzusetzen ist. So werden ungoverned territories schnell zu politischen Halluzinationen, die gesellschaftliche Wirklichkeiten nicht einzufangen vermögen.

Und was würde Schmitt zu diesen Konstellationen sagen? Auf die Gefahr hin, am Schluss der Spekulation zu verfallen, möchten wir doch eine Antwort wagen: Sein Argument wäre wohl, dass wir uns in einer globalhistorischen Umbruchphase befinden, in der unterschiedliche Formen der Raumordnung noch nebeneinander existieren. Seine pessimistische, um nicht zu sagen apokalyptische Weltsicht würde ihn wohl zu dem Urteil verleiten, dass die frontier ein auslaufendes Modell der Landnahme darstellt, während sich das Phänomen der ungoverned territories konsequent weiter über den Globus ausbreiten und schließlich der ganzen Welt bemächtigen könnte. So verschwimmt die globale Raumordnung mehr und mehr, und Räume werden schließlich nicht mehr als umkämpft gesehen, da sie nicht mehr mit der Aufrechterhaltung einer politischen Ordnung einhergehen; dies wäre der Zustand, in dem dann nach Agamben der Mensch überall auf der Welt zum homo sacer avancieren würde. Am Ende wäre der gesamte Erdball ein unregierter Raum, der mit der Vernichtung der ganzen Welt einherginge. Aber, wie gesagt, dieser Gedanke ist spekulatives Schmitt’sches Gedankengut …

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[1]       Jessop u.a. 2008; Lippuner & Lossau 2004; Löw 2001; Maresch & Werber 2002.

[2]       Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Meyer u.a. (2012).

[3]       Carl Schmitt beruft sich auf den Katechon im Zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher (2 Thess 2,6-7), der den Tag des Jüngsten Gerichts hinauszögert.

[4]       Eher apologetisch: Hooker 2009; Odysseos & Petito 2007; Legg 2011; eher kritisch: Chandler 2008; Elden 2010; Korf 2009; Meyer u.a. 2012.

[5]       Federal Democratic Republic of Ethiopia Rural Land Administration and Use Proclamation (Nr. 456/2000, Paragraph 5,3); Übersetzung aus dem Englischen und Hervorhebung durch uns.

[6]       Tobias Hagmann, 13. 4. 2012, persönliche Kommunikation.

[7]       So fällt die Diskussion um den Begriff der ungoverned territories nicht von ungefähr zeitlich damit zusammen, dass sich die USA vom Aufbau eines funktionalen, normativ legitimen Staates in den Interventionen des Krieg gegen den Terrorismus im Irak und Afghanistan (spätestens seit 2005) distanzieren.