Meistbietend zu Verkaufen: Demokratie

Mark Hanna, ein amerikanischer Bergwerkskonzern-Tycoon und Großgeldgeber für die konservativen Republikaner im 19. Jahrhundert, schlug den Nagel auf den Kopf mit seiner bodenständigen Polit-Weisheit. Zwei Dinge, so sprach der millionenschwere Hanna, zählen wirklich in der Politik. „Zuallererst Geld“, erklärte der durchtriebene Geschäftsmann augenzwinkernd, und fügte verschmitzt hinzu „und an das zweite erinnere ich mich nicht mehr.“ Wirtschaftsbosse investieren massiv in die Wahlkämpfe von Politikern nicht nur in den USA und erwarten am Ende natürlich, dass ihre Investitionen die entsprechende Einfluss-Rendite bringen. Politiker werden so immer mehr zu bloßen Erfüllungsgehilfen der Geldelite. Die Konsequenzen sind für jeden sichtbar. Öffentliche Kassen gähnen vor lauter Leere, während die Konzern-Profite höher als je zuvor sind. Physische und geistig-kulturelle Armut sowie soziale Abstiegsängste wachsen, während unsere Politiker ihre von der Wirtschaft finanzierte Rolle auf abgesteckter Weide im Demokratie-Zirkus spielen. Wir, die Bürger und Wähler, werden in erster Linie als passives Stimmvieh gebraucht und sollen ansonsten ruhig gestellt werden.
In den USA ist diese Deformierung und schließlich Zerstörung von demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung besonders krass, greift aber zunehmend auch auf Europa über. Daher sollten demokratieinteressierte Europäer die Entwicklungen in Übersee angespannt verfolgen und analysieren. Denn aus Fehlern und Niederlagen ist zu lernen.
Fallbeispiel Wisconsin: Traditionell ist das besonders für deutsch-stämmige und skandinavische Einwanderer im 19. und frühen 20. Jahrhunderts attraktive Wisconsin einer der fortschrittlichsten amerikanischen Bundesstaaten. Die Metropole Milwaukee, mit Abstand die größte Stadt in Wisconsin, hatte sogar einige sozialistische Bürgermeister. Der bekannteste von ihnen, Frank Zeidler, war für drei Wahlperioden in Rang und Würden. Noch heute erinnern sich zahlreiche alteingesessene Einwohner mit leuchtenden Augen an die Zeit zwischen 1948 und 1960, als Bürgermeister Zeidler für eine sozial ausgewogene und zukunftsweisende Stadtentwicklung kämpfte. Die mit dem innerstädtischen Verfall in zahlreichen anderen amerikanischen Metropolen vertrauten Milwaukee-Besucher schätzen besonders die exzellente Infrastruktur und das gut ausgebaute öffentliche Verkehrsnetz in dieser Stadt der Biertrinker und Würstchen-Esser. Erstklassige Museen, Schulen und Universitäten gehören seit langer Zeit zu den Markenzeichen nicht nur von Milwaukee, sondern auch vom gesamten Bundesstaat Wisconsin.
Angesichts dieser gerade für amerikanische Verhältnisse wirklich fortschrittlichen Entwicklungsgeschichte Wisconsins kam die brutale soziale und kulturelle Kahlschlagserie des neu gewählten republikanischen Gouverneurs Ron Walker wie ein Faustschlag ins Gesicht. 1932 wurde in Wisconsin die größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in den USA gegründet. Diese American Federation of State, County, and Municipal Employees hat durch ihren entbehrungsreichen Kampf dazu beigetragen, dass 1959 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes das Recht zu Tarifverhandlungen in Wisconsin errangen. Ron Walker und seine finanziellen Hintermänner, besonders die ultra-kapitalistischen rechtskonservativen Milliardäre David und Charles Koch, konzentrierten sich auf Wisconsin auch aus symbolischen Gründen. Der amerikanische Journalist und Autor John Nichols, beschreibt in einem ausgezeichneten Aufsatz über die politischen Lehren aus Wisconsin die Situation treffend: „Auf Grund der einzigartigen Geschichte Wisconsins verstand man auf Anhieb, was Walkers Attacke auf die organisierte Arbeitnehmerschaft bedeutete: Sollte er hier Erfolg haben, dann würde der Angriff auf den öffentlichen Sektor in Wisconsin sich bis in den letzten Winkel der Vereinigten Staaten ausweiten – ein Angriff nicht allein auf Gewerkschaften, sondern auf die öffentlichen Dienste selbst und ganz allgemein auf das Verständnis, dass Gemeinden, Staaten und Nationen bestimmte Dinge gemeinschaftlich anpacken müssen.“
Die berüchtigten Koch-Gebrüder und andere marktfundamentalistische Geldgeber lassen nichts unversucht, um das amerikanische politische System so weit nach rechts zu kippen, dass sie ohne jegliche demokratische Kontrolle schalten und walten können. In den vergangen Jahrzehnten ist es den reaktionärsten Kreisen der herrschenden Klasse gelungen, den amerikanischen Sozialstaat weitgehend zu zertrümmern. Dies konnte nur geschehen, indem sie zuerst die Gewerkschaften und andere Organisationen, welche Arbeitnehmerrechte vertreten, systematisch vernichteten. Heute sind weniger als sieben Prozent der im Privatsektor arbeitenden Amerikaner gewerkschaftlich organisiert – das ist die niedrigste Zahl seit 1932. Gewerkschaftlich organsierte Arbeitnehmer verdienen je nach Region und Branche zwischen zehn Prozent bis zu 30 Prozent mehr Gehalt als gewerkschaftlich nicht-organisierte Lohnabhängige. Kein Wunder also, dass die Konzerne und ihre politischen Helfershelfer Gewerkschaften wenig schätzen.
Nach der de facto Zerschlagung der Gewerkschaften im Privatsektor stehen nun diejenigen im öffentlichen Bereich auf der Abschussliste. Rechte Milliardäre und die von ihnen finanzieren Politiker wie Walker sind dabei, die tariflichen Interessenvertreter der Lehrer, der Feuerwehr und sogar der Polizei zu zerstören. Kaum gewann Walker die Landtagswahl und wurde Gouverneur von Wisconsin, begann er sein lange vorbereitetes und ausgezeichnet finanziertes Zerstörungswerk. Eine ganze Reihe von neuen Gesetzen sollte es den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes unmöglich machen, ihre Mitglieder in Tarifverhandlungen wirklich vertreten zu können. Gewerkschaften sollten finanziell ausgehungert werden, indem man sie zwang, keine Mitgliederbeiträge mehr zu erheben. Zusätzlich planten Walker und die ihn finanzierenden Milliardäre, jedwede effektive gewerkschaftliche Arbeit logistisch unmöglich zu machen. Eine neue Gesetzesvorlage sah vor von den Gewerkschaften zu verlangen, dass sie ihre Mitgliedschaft jährlich erneuern. Derartige Auflagen sind dazu gedacht, bewusst organisatorisches Chaos zu schaffen. Die Strategen des dominanten rechten Flügels der konservativen Republikaner versuchten durch das systematische Einschränken der Handlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes diese in die Bedeutungslosigkeit zu stürzen. Dieses Muster funktionierte bereits bei der Vernichtung der Gewerkschaften im privaten Sektor.
Dann kam die Schreckensnachricht für die rechten Milliardäre und ihre politischen Handlanger. Eine breite soziale Bewegung formierte sich, größtenteils auf Graswurzelebene, mit flachen Hierarchien, spontan und kreativ. Die Lehrergewerkschaft, die Feuerwehrgewerkschaft, ja sogar die Polizeigewerkschaft unterstützten die immer zahlreicher und vielfältiger werdende Protestbewegung. Spontane Streiks, Massendemonstrationen mit in die Hunderttausende gehenden Teilnehmern und schließlich die Besetzung des Landtagsgebäudes von Madison, der Hauptstadt von Wisconsin seitens der Protestierenden zeigten vor allem eines deutlich: Noch ist es den herrschenden ein Prozent nicht gelungen, die amerikanische Zivilgesellschaft und Demokratie zu zerschlagen. Selbst die offizielle Opposition im Landtag, die sich zumeist als das kleinere Übel zaghaft profilierenden Demokraten, entwickelte plötzlich ein Rückgrat und verweigerte den regierenden extrem-kapitalistischen Republikanern die Mithilfe bei ihrem Kreuzzug gegen Gewerkschaften und andere essentielle zivilgesellschaftliche Strukturen. Die 14 demokratischen Senatoren umgingen Walkers Überrumpelungsstrategie, indem sie in Nachbarbundestaaten flohen und durch ihre geschlossene Abwesenheit vom Landtag die parlamentarischen Schachzüge der Republikaner zumindest kurzfristig unterminierten.
Nach so viel hoffnungsvollen Anfängen ging von nun an einiges schief. Die Demokraten, in Verbindung mit übervorsichtigen Gewerkschaftsbürokraten, begannen, die spontan entstandene Protestbewegung zu vereinnahmen und in konventionelle politische Bahnen zu lenken. Mit bereits aus der Vergangenheit bekannten Konsequenzen – nicht umsonst wird die Partei der Demokraten von vielen Linken als Friedhof von sozialen Bewegungen charakterisiert. Ruth Conniff von der Zeitschrift The Progressive hat durchaus Recht, wenn sie geknickt konstatiert, dass eben diese Vereinnahmung und Kanalisierung zum schließlichen Sieg von Gouverneur Walker führte. Die Demokraten kastrierten die Graswurzelprotestbewegung, indem sie auf ein Ende der Demonstrationen bestanden und alle Mittel auf eine Neuwahl konzentrierten. Zwar gelang es, die für eine Neuwahl notwendigen Unterschriften zu sammeln. In den ersten beiden Wochen allein unterzeichneten über dreihunderttausend Wahlberechtigte in Wisconsin die Petition, doch am Ende gewannen Walker und die Milliardäre das Rennen. Die Demokraten schickten, wie schon bei der vorherigen Wahl, die Walker ursprünglich an die Macht brachte, den zwar kompetenten doch am Ende eher blassen Tom Barrett ins Rennen. Viele Graswurzelaktivisten wendeten sich enttäuscht vom Wahlkampf ab, als die Demokraten die spontane Protest-Bewegung von Unten in eine von den Parteibossen gemanagte Kampagne von Oben transformierten.
Während Tom Barrett und sein Team das alte Wahlprogramm der Demokraten neu aufgewärmt anboten, gingen Walkers Republikaner auf Aggressionskurs. Sie sammelten Geld, sehr viel Geld. Scharf rechtslastige Milliardäre aus allen Teilen der USA füllten die republikanischen Kriegskassen. Am Ende verfügte Walker über siebenmal soviel Finanzen wie Barrett. Die republikanische Führungsriege auf Bundesebene unterstützte seinen Wahlkampf mit Volldampf. Der von Anfang an zögerliche Präsident Obama jedoch bekam kalte Füße und wollte mit den Vorgängen in Wisconsin immer weniger zu tun haben. Barrett kämpfte am Ende auf verlorenem Posten und musste in der Nacht vom 5. Juni 2012 das Handtuch werfen.
Was sind die Lehren aus diesen Entwicklungen? Zum einen ist da der riesige und nur zu oft entscheidende Einfluss des großen Geldes. Milliardäre vom Schlage der Koch-Gebrüder und des berüchtigten Sheldon Adelson können mit ihren Wahlkampf-Millionen selbst aus solch allgemein unbeliebten Kahlschlägern wie Walker politische Sieger machen. Mit lauwarmen, zaghaften und übervorsichtigen Polit-Strategien von Gestern und Vorgestern kann man da nicht mithalten. Schließlich geht es hier nicht um Tom Barrett oder Barack Obama, sondern um uns alle und um die Zukunft unserer Gemeinwesen, unserer Schulen und Universitäten, unserer Krankenhäuser und Altenheime. Der großartige und unverbesserliche Howard Zinn, hoch angesehener amerikanischer Historiker, nimmermüder progressiver Aktivist und Kämpfer für wirkliche Demokratie und Gerechtigkeit, pflegte zu sagen, dass Wahlen zwar durchaus wichtig sind aber am Ende zu den am wenigsten wichtigen und effektiven politischen Einflussmöglichkeiten gehören. In diesem Sinne sollten wir uns alle von der ungeplanten, hoch-dynamischen und bis zu ihrer Vereinnahmung durch den konventionellen Polit-Betrieb auch hoch-effektiven Protestbewegung von Wisconsin inspirieren lassen. Demokratie muss mehr sein als das Ritual, alle vier Jahre ein vorgefertigtes und vom großen Geld manipuliertes Kreuz bei einem Partei- oder Politikernamen zu machen.