Brückenschläge im Spätkapitalismus

Die Rolle von Forschungsförderung und Politikberatung

Wie schon bei der Humangenomforschung vor fünfzehn Jahren wird auch der Hype um die individualisierte Medizin von einer personell und finanziell eng verzahnten Struktur getragen. Das Zusammenspiel von Forschungsinstitutionen, Beratungs- und Lobbyorganisationen und nicht zuletzt pharmazeutischen und biotechnologischen Unternehmen erhellt der folgende Beitrag anhand einiger Schlaglichter.


Wir ebnen den Weg für eine individualisierte Medizin und damit für Therapien, die wirksamer und verträglicher sind“ - bis in den Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung hat es der Begriff „individualisierte Medizin“ geschafft.(1) Das ist kaum verwunderlich. Denn das neue Feld ist wie geschaffen für den „Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft“, von dem Forschungsministerin Annette Schavan so gern spricht. Sie hat 2010 die sogenannte „Hightech-Strategie 2020“ ausgerufen, die unter anderem „eine starke Partnerschaft aus Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen und anderen am Innovationsprozess beteiligten Akteuren“ befördern soll. Wobei Unternehmensinteressen per se mit dem gesellschaftlichen Wohl gleichgesetzt werden: „Forschungsergebnisse mit Innovationspotenzial müssen erkannt und am Markt umgesetzt werden, um Wachstum und Beschäftigung zu sichern.“(2) Damit kommt die Bundesregierung vor allem Industrieinteressen entgegen.(3) Aber auch wenn die neue Hightech-Strategie nicht wirklich etwas Neues ist - Bundesregierungen haben seit Beginn der Genomforschung ihre forschungspolitischen Prioritäten im Bereich Gesundheit bei der Wirtschafts- und Wachstumsförderung gesetzt - ist es doch interessant, einmal die politischen Dynamiken näher zu betrachten, die so einen Hype befeuern.


Forschungsförderung…
Da ist zunächst die Förderpolitik. Die vom Bundesforschungsministerium (BMBF) ins Leben gerufenen Spitzencluster beispielsweise sind gleichzeitig Förderinstitutionen, Lobbyverbände und Forschungsverbünde. Sie zeichnen sich durch eine besonders enge Verzahnung von Industrie und Forschung aus: Die kommerzielle Verwertbarkeit steht im Vordergrund, und die Vermarktung von Ergebnissen bleibt den beteiligten Unternehmen überlassen. Bei drei der vier medizinisch orientierten Spitzencluster sind das in der Regel Biotech-Startups. Sie tragen die „personalisierte Medizin“ mehr oder minder ausdrücklich im Programm: Die „Zellbasierte & Molekulare Medizin in der Metropolregion Rhein-Neckar“ (BioRN), das Cluster „Personalisierte Medizin und zielgerichtete Therapien - Eine neue Dimension in der Medikamentenentwicklung“ (m4) und das neu gegründete „Cluster für Individualisierte ImmunIntervention“ (CI3).(4) Hier ist die Nähe von Industrie und Forschung besonders deutlich: Alle drei Vorstände des „Clustermanagements“ sind zugleich Gründer oder Vorstandssprecher der Firma Ganymed Pharmaceuticals, einem Unternehmen, das monoklonale Antikörper-Medikamente für die Krebstherapie entwickelt.
Auch im Gesundheitsforschungsprogramm des BMBF werden im Schwerpunkt „Individualisierte Medizin“ viele solcher Kooperationsprojekte gefördert. Im Gegensatz zu den Spitzenclustern findet sich hier aber Einiges, das nur entfernt mit dem Titel des Schwerpunktes zu tun hat. Auch andere Forschungsförderprogramme wie etwa die der Max-Planck-, Helmholtz- oder Fraunhofer-Verbünde haben eine mal stärkere, mal schwächere Verbindung zur personalisierten Medizin. Als „Ziel“ der Forschungsförderpolitik wird sie dennoch überall propagiert.


…Forschergemeinden…
Das hat viel mit bestehenden Strukturen zu tun. In den Entscheidungsgremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beispielsweise, die Projekte der personalisierten Medizin vor allem durch Sonderforschungsbereiche und klinische Forschergruppen fördert, sitzen nahezu ausnahmslos altbekannte Protagonisten der Genomforschung und bringen den neuen, „viel versprechenden“ Ansatz an den Start.
Solche Mechanismen charakterisieren nicht nur die Förderpolitik, sondern auch die Forschung selbst. Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie München zum Beispiel demonstriert, wie aus Forschungen zur Depression Beiträge zur personalisierten Medizin werden: Unter dieser Überschrift setzt der Leiter des Institutes in einem Video voraus, dass es von genetischen Variationen abhänge, wie sich eine medikamentöse Behandlung der Depression bei Patienten auswirkt. Einen Beweis liefert Florian Holsboer zwar nicht, erklärt dafür aber die Hälfte aller Depressionsfälle für erblich und verspricht: „Wir wollen individuelle Medizin machen, indem wir herausfinden: Was hat der einzelne Patient - oder der einzelne Noch-Nicht-Patient - für ein Risikoprofil?“ Das Ziel sei Prävention, und zwar eine „maßgeschneiderte, höchstpersönliche, auf das Individuum zurecht geschneiderte“.(5)
So werden Forschungsziele dem Trend angepasst und verstärken ihn zugleich: Weil es überall darum geht, die Fortsetzung eigener Forschungen zu sichern, formulieren die allermeisten medizinischen Forscher deren Ziele entlang der gerade gültigen Maximen und Begrifflichkeiten, um weiter am Förderkuchen teilzuhaben. Dieses Wechselspiel zwischen Förderpolitik und bestehenden Forschungsbereichen ist ein weiteres Feld, auf dem sich Hegemonie herstellt.


…und das Erklärungs- und Beratungswesen
Hinzu kommt das Feld der Öffentlichkeitsarbeit und der Politikberatung. Wissenschaft ist kompliziert, und Kompliziertes muss erklärt werden, vor allem der Politik. Damit beauftragt wird seit einigen Jahren bevorzugt auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Dort erarbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe eine Stellungnahme zur personalisierten Medizin, die Ende 2012 veröffentlicht werden und eine Handlungsleitlinie für die Politik entwerfen soll. Interessanterweise setzt sich die Arbeitsgruppe vor allem aus Forschern und Medizinern zusammen, die der personalisierten Medizin vermutlich eher positiv gegenüber stehen werden, ist der Ansatz doch Teil ihres direkten Arbeitsgebietes. Ein besonders bedrückendes Beispiel: Klaus-Peter Koller, im Mitgliederverzeichnis der AG als Professor am Fachbereich Biowissenschaften der Universität Frankfurt am Main geführt, arbeitet außerdem bei der deutschen Abteilung des Pharmamultis Aventis, und zwar als „Head of Scientific Networking“ - vermutlich nur in der Freizeit, möchte man sarkastisch hinzufügen. Für die Einbindung von Industrie-Interessen in die Stellungnahme ist also wohl gesorgt. Und solche wissenschaftlichen Stellungnahmen und Gutachten sind es dann, die die Ausrichtung der Förderpolitik beeinflussen.
Womit der Kreis sich beinah schließt. Erwähnt werden muss noch, dass die Industrie nicht nur versucht, Einfluss auf die Politikberatung zu gewinnen (und zu halten); mit Gutachten, Prognosen und einem stetigen Strom von Pressemitteilungen wird auch die Öffentlichkeit mit der Idee der personalisierten Medizin, ihren „Erfolgen“, „Meilensteinen“ und „Durchbrüchen“, vertraut gemacht - manchmal wenig offenkundig und dadurch umso machtvoller. Ein Beispiel ist eine Broschüre zum Thema für Oberstufenschüler, an deren Erstellung auch der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller mitgearbeitet hat, um „dieses zukunftsweisende Konzept weithin bekannt und verständlich zu machen“.(6) Entsprechend affirmativ wird der Ansatz der individualisierten Medizin vorgestellt - es fehlt jegliche Kontroverse oder gar Kritik.
Im Angesicht der skizzierten Strukturen muss der Trend zur „personalisierten Medizin“ - als Begründungszusammenhang für Forschungsprojekte und Förderprogramme, als Verkaufsargument, als ‚Das-was-jetzt-gemacht-werden-muss‘ - im wahrsten Sinne des Wortes als gesetzt gelten. Es ist deshalb nicht nur höchste Zeit, die individuell-genetische „Selbstverantwortung“, die mit diesem Trend transportiert wird, in Frage zu stellen und stattdessen nach gesundheitsförderlichen gesellschaftlichen Lebensumständen zu suchen. Es geht auch um die Struktur der Gesellschaft, in der wir leben.


Ulrich Wernitz ist Biologe und freier Autor.
Uta Wagenmann ist Redakteurin des GID und betreut den Bereich Mensch und Medizin im GeN.


Fußnoten:
(1)    „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“ Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, 26.10.2009, S.64. Im Netz unter www.kurzlink.de/GID213_m.
(2)    Alle Zitate aus BMBF (2010): „Deutschlands Spitzencluster“, Bonn/Berlin, Vorwort S. IV. Im Netz unter: www.kurzlink.de/GID213_n.
(3)    Zu diesen Interessen vgl. den Artikel von Uta Wagenmann in diesem Heft, S. 11.
(4)    Außerdem gibt es im Medizinbereich noch das Cluster „Medical Valley - Europäische Metropolregion Nürnberg (EMN): Exzellenzzentrum für Medizintechnik.“ Vgl. www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/ 2103.php.
(5)    Vgl. den etwa dreizehnminütigen Film auf youtube, im Netz unter: www.kurzlink.de/GID213_o.
(6)    Zeitbild Verlag und Agentur für Kommunikation GmbH: Personalisierte Medizin. Heute schon die Medizin von morgen, Berlin 2011, Impressum, S. 32. Im Netz unter: www.kurzlink.de/GID213_q.