Preis des Patriarchats

in (17.10.2012)

 

Ein muslimischer Arzt führt bei einem vierjährigen Jungen auf Wunsch der Eltern eine Beschneidung durch. Zwei Tage nach der OP setzen Nachblutungen ein. Die Mutter bringt ihren Sohn in die Notaufnahme. Dort bleibt er nach weiteren Eingriffen und Narkosen schwerkrank 10 Tage. Die Staatsanwaltschaft Köln »bekommt Wind von dem Eingriff«, heißt es etwas dunkel in der Presse, und erhebt Anklage. Der Arzt wird freigesprochen, weil er im Irrtum gehandelt habe, der Wunsch der Eltern reiche aus. Aber das Landgericht entscheidet im 63. Jahr des Grundgesetzes selbiges auch anzuwenden und die Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Jungen als Körperverletzung zu werten und daher als in Deutschland strafbar. – Um das Recht werden schon einige Zeit Debatten geführt. So schreibt ein Strafrechtler zum jetzigen Urteil: »Inzwischen stuft die Mehrheit der Experten medizinisch nicht notwendige, also auch religiöse Beschneidungen, als rechtswidrige Körperverletzungen ein«. Für ihn ist das Urteil »eine Zäsur: Zukünftig wird sich kein Mediziner mehr darauf berufen können, er habe geglaubt, Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen Jungen aus religiösen Gründen vornehmen zu dürfen« (Financial Times Deutschland, die als erste über den Fall berichtete).

 

Nach dem Kölner Urteil aber melden sich sogleich in einhelligem Protest die sonst verfeindeten Obersten der 120 000 in Deutschland lebenden Juden und der vier Millionen Muslime. Der Präsident der europäischen Rabbinerkonferenz hält das Urteil »für den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holokaust« und faktisch für eine Ausweisung der Juden aus Deutschland. Der Zentralrat der Muslime protestiert weniger dramatisch, aber entschieden für den alten Brauch. Katholische Bischöfe schlagen sich auf die Seite von Muslimen und Juden im Namen der Religionsfreiheit. Sie haben aus dem Kruzifixurteil, das aus dem Kopftuchstreit hervorging, gelernt, dass die religiösen Fragen über die Grenzen der Einzelreligionen hinweg zusammenkleben. Den Holokaustvergleich nahm die katholische Kirche schon in Dienst für die Verdammung der Abtreibung. Vor diesem Block erschauern die Sprecher der Parteien im Bundestag. Sie vergessen die Trennung von Staat und Kirche, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Menschenrecht des Kindes auf Unversehrtheit und ducken sich in einer Mixtur von politischer Korrektheit und Angst vor Antisemitismusvorwurf – eigentlich müsste es ja im gegebenen Fall der Antiislamismusvorwurf sein, der jedoch in Deutschland nicht den gleichen Schatten wirft und nicht so brauchbar ist zur Unterwerfung in eiligem Gehorsam. Es winden sich die Vertreter von CDU, CSU, SPD und Grünen (die LINKE kommt nicht zur gemeinsamen Stellungnahme, ein Sprecher möchte jedoch das Alter auf 14 Jahre heraufsetzen, wie dies auch einzelne Abgeordnete aller Parteien betonen), bis im Bundestag fraktionsübergreifend das »uralte Ritual« im Namen der kulturellen und religiösen Vielfalt verteidigt wird. Die Penisse sollen dem gemeinsamen Wollen von Religion und Eltern überlassen bleiben. Freilich kann das Parlament ein Landgerichtsurteil nicht ungültig machen. Der Fall des religiös motivierten Kindesmissbrauchs wird weiter bearbeitet, öffentlich diskutiert und wohl dem Bundesverfassungsgericht überwiesen.

 

Den ganzen Sommer über beugt sich die veröffentlichte Meinung über die Penisse. »Die Entfernung der Vorhaut von Säuglingen ist buchstäblich einschneidender als die von Erwachsenen oder älteren Kindern. Da Vorhaut und Eichel […] noch fest verwachsen sind, […] müssen diese beiden Strukturen zunächst einmal auseinandergerissen werden. Danach wird […] die Vorhaut längs abgeklemmt und eingeschnitten, mit einem Beschneidungsinstrument rundum für mehrere Minuten gequetscht und schließlich mit einem Skalpell amputiert.« Dauer etwa 20 Minuten, sehr schmerzhaft – heißt es in der Süddeutschen Zeitung. Noch ist keine Rede vom Patriarchat. Aber etwas später, im muslimischen Kontext, erfährt man, dass der schon 4-jährige Junge danach stolz ist, »ein Mann« zu sein und gekleidet wie ein Pascha. Die ganze Familie feiert den »wichtigsten Tag« im Jungenleben. Ist die Beschneidung also ein Initiationsritus für Jungen im Patriarchat ähnlich dem Tragen des Schwertes?

 

Bemerkenswert ist, dass in den Patriarchaten der Beschneidung des Penis, dem Symbol als auch Vollstrecker des Patriarchats, auf der Seite der Mädchen Kopftücher bis hin zur Ganzkörperbedeckung stehen, nicht aber die Genitalverstümmelung, die in Deutschland unter Strafe zu stellen keinen Protest hervorrief. Die alten Patriarchate halten ihre Frauen unter Verschluss. Die eingreifende Formierung gilt den Männern als zukünftigen Trägern des Patriarchats. Die Kanzlerin mit Gespür für Macht tut kund, Deutschland mache sich mit dem Verbot zur »Komikernation«. Wer lacht über die Erinnerung an Aufklärung?

 

Weitere Erkundungen bringen mehr Uneindeutigkeiten. Nicht nur Juden und Muslime sind beschnitten (und bei diesen auch nicht alle), sondern auch Christen und Atheisten. Auch geschieht dies nicht in gleichem Alter, sondern die Differenzen schwanken zwischen 1-8 Tagen, 4 Jahren bis zur Volljährigkeit, als sei dies kein wichtiger Unterschied. – Stellen wir das Kölner Urteil in globalen Kontext: »Fast ein Drittel der Weltbevölkerung ist beschnitten«, »quer durch die Kulturen«, in Südkorea die Hälfte, in arabischen Ländern 80 %, erfährt man von einem Professor für öffentliches und Kirchenrecht (FAZ, 30.6.12). Ein anderer klärt darüber auf, die Beschneidung erschwere den Jungen die Masturbation und verkleinere die sexuelle Erregung. Eine Disziplinarmaßnahme also, die den Gehorsam will. Er wagt die These, dies sei der Grund, dass in den religiös prüden USA, in dem jedes Thema, das an Sex erinnert, zur Erregung im Wahlkampf genutzt werden kann, in den 1970er Jahren insgesamt 90 % der Männer – ob Juden, Muslime oder Christen – beschnitten waren.

 

Im Grenzgebiet zwischen Sex und Gesundheit, wo die Geschlechtskrankheiten Thema sind, wechselt der Standpunkt zur Seuchenbekämpfung. Die Beschneidung helfe gegen HIV und AIDS. Das ist das inzwischen entkräftete alte Hygieneargument, das in Afrika dazu geführt hat, dass die Weltgesundheitsorganisation die Beschneidung von 80 % der erwachsenen Männer vorsah (FAZ, 30.6.). Zahlenreihen über diverse Geschlechtskrankheiten bis zu Krebs, lebensbedrohlich, marschieren auf zur Unterstützung der hygienischen Beschneidung.

 

Und wie ist es mit dem religiösen Ritual, um dessen Schutz wir uns bemühen sollen? Der Außenminister verkündet bigott in Bild: als »weltoffener Staat müsse Deutschland religiöse Traditionen wie die Beschneidung als Ausdruck von Vielfalt schützen« (FAZ, 30.6.). »Weltoffenheit« bedeutet also, die von der UNO verkündeten und allgemein akzeptierten Menschenrechte zumindest für die Jungen missachten, und Vielfalt heißt, die Einfalt der Gleichheit vor dem Gesetz außer Kraft setzen? Was ein Ritual ist, soll bleiben? Rituale stärken das Zugehörigkeitsgefühl. Freilich würde auch nur ein kurzer Gang in die Geschichte der praktizierten Rituale der Völker und Religionen (von der Witwenverbrennung zu den eingemauerten und geopferten Söhnen) sehr schnell empfehlen, sich nicht auf rituelles Herkommen festzulegen, sondern einen Anker der Aufklärung in den Menschenrechten, die freilich nicht schon Jahrtausende gepflegt werden, zu suchen. Die Berufung auf das Elternrecht ist angesichts bekannter elterlicher Praxen ebenfalls neu zu prüfen. Kinder sind nicht das rechtlose Eigentum ihrer Eltern, sondern ihnen als Fürsorgepflicht aufgegeben.

 

Bleibt die Frage, warum die große Mehrheit der Volksvertreter vor dem religiösen Block zurückschreckt und eilig auf Erkundung und Kritik verzichtet. Angesichts der vielen Bedrängnisse, in denen sie sich in unlösbarer Krise, in Kriegsdrohung und abnehmender Zustimmung aus der Bevölkerung befinden, bleibt nur die Mutmaßung, dass die Parlamentarier endlich auf einem Nebenschauplatz ihre Hände in Unschuld waschen können wollen, und einen Sieg durch vorauseilenden Gehorsam gegenüber der als stärker vermuteten Macht versuchen. Es könnte dies eine Empfehlung für die Lösung der großen Krise des Kapitalismus sein. Denn es ist, als wäre Krieg angesagt, um Aufruhr zu ersticken und Krisen zuzudecken, indem man, wie ein chinesisches Sprichwort sagt, das Feuer zunächst am entgegengesetzten Ufer entzündet, um die Aufmerksamkeit abzulenken, dann aber groß herauskommt, weil es gelang, es unter Kontrolle zu bekommen.

 

Frigga Haug (Los Quemados) 

DAS ARGUMENT 298/2012 ©, S. 497-499