Schuldenimperialismus + unfreie Arbeit = Kapitalismus?

Zum zeitdiagnostischen Gehalt von David Graebers Schuldenbuch

David Graeber ist mit seinem Buch »Schulden«, das in Deutschland auf große Resonanz gestoßen ist und in fast jeder Tageszeitung besprochen wurde, auch Vordenker der Occupy-Bewegung. Eine Zwischenbilanz nach einem Jahr.

 

Occupy Wall Street und der »American Dream«

Am 15. Oktober 2011 – parallel zu einem G 20-Treffen in Paris zur Vorbereitung eines weiteren EU-Krisengipfels – hatte die New Yorker Occupy-Bewegung ein weltweites Echo gefunden: In über 900 Städten in über 80 Staaten fanden auf zentralen Plätzen, Straßen und vor Banken vergleichbare Demonstrationen, Protestversammlungen und Sitz- bzw. Zeltblockaden von Hunderttausenden statt. Dieser Hype ist mittlerweile verflogen, zu einer ganz neuen Qualität sozialer Bewegung ist es nicht gekommen. Nach über einem Jahr fällt die Bilanz eher ernüchternd aus. Die Zelte im New Yorker Zuccotti-Park sind abgebaut und der Treffpunkt der Protestbewegung hat sich aus dem Finanzdistrikt von Manhattan zum Union Square verlagert – einem der traditionellen Treffpunkte der New Yorker Linken. Von ihrem exzeptionellen Charakter ist die Occupy-Wall-Street-Bewegung zu einem Bestandteil unter anderen des sozialen Protestes in den USA geworden.

Dennoch hat sich in der OWS-Bewegung in erster Linie die US-spezifische Konstellation des sozialen Konfliktstoffs der weltweiten Großen Krise seit 2007ff. Ausdruck verschafft. Erst jüngst hat eine Forschungsgruppe der amerikanischen Notenbank die dramatischen »Changes in U.S. Family Finances from 2007 to 2010« aufgezeigt. »Nach den Ergebnissen dieses Surveys erlitten die privaten Haushalte mit durchschnittlich 11,1% einen stärkeren Einbruch als die Berechnung des Sozialprodukts zum Ausdruck bringt. Was durch die Einkommensverluste als eine vorübergehende Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse erscheinen mochte, traf die Familien mit Vermögensverlusten von im Schnitt 14,7% empfindlich. Die Entwicklungen auf den Finanzmärkten durchkreuzten nicht nur Geschäftspläne, sondern eben auch Lebensentwürfe. Nicht weniger als zwei Drittel der Familien mussten in den Krisenjahren zusehen, wie der zuvor gestiegene Marktpreis ihres Hauses um 22,4% fiel. Das warf die Eigentümerquote der USA von 2010 auf den Stand von 2001 zurück.«1

Diese Zerstörung des »American Dream« bildet auch den sozialen Humus für den Occupy-Aktivisten, Anarchisten, Ethnologen und Publizisten David Graeber: »Als in New York durch Studiengebühren auf Jahre hinaus hochverschuldete Studierende die Parks und Plätze besetzt haben, erfuhren sie auch deshalb von Arbeitern und Angestellten Solidarität, weil die­se selbst verschuldet sind. Die erkannten sich in diesem Protest wieder. Ausbeutung findet immer weniger über die Löhne statt, sondern über die direkte Enteignung der Arbeitervermögen durch die sogenannte Finanzindustrie und die brutale Steuergesetzgebung des Staates.«2 Dies ist das Resultat eines langwierigen Transformationsprozesses des Nachkriegskapitalismus seit Ende der 1970er Jahre in hybride Strukturen eines Finanzmarktkapitalismus, der seit dem Herbst 2007 schließlich eine ganze Krisenkaskade auslöste. »In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muß augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar.« (MEW 25: 507) Die in diesen Krisenprozessen eingeschlossene Diskreditierung der Finanzmärkte bildet auch die Hintergrundsmelodie für David Graebers Buch »Schulden«.3 Der Impetus dazu rührt aus seiner »Erfahrung der moralischen Verwirrung« /7/ und der Diskrepanz sozialmoralischer Maßstäbe beim Schuldenmachen. Graeber nimmt die moralische Krise von den modernen Mittelschichten, von den Bedenken einer durchaus aufgeschlossenen Rechtsanwältin her wahr: »Aber sie hatten sich das Geld geliehen! Schulden muss man doch zurückzahlen.« /8/

 

Derangierter bürgerlicher Wertekosmos

Es ist dieser sozialmoralische Impetus, der auch die überschwängliche Aufnahme von Graebers Schuldenbuch bei den sensibleren Geistern innerhalb des bürgerliche Lagers hierzulande verständlich macht. Schon beim Ausbruch der Großen Krise 2008 leistete der Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, in seltener Schonungslosigkeit den Offenbarungseid eines schon seit langem maroden Bürgertums: »Wir haben nicht viele Optionen zu reagieren. Aber das, womit alle Geschichte begann, können wir: Sagen, was Lüge ist.« (FAZ 18.9.2008) Schirrmacher versuchte seinem Eid treu zu bleiben und begab sich auf die Suche nach Wahrheit. Im Unterschied zu seiner Kanzlerin, »die nicht liest und nicht zu lesen gedenkt«,4 glaubt Schirrmacher, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jüngst als »Förderer des Buches« ehrte, immer noch daran, dass sich Wahrheiten und Erkenntnisse auch in Büchern finden lassen – und wurde drei Jahre später fündig. Eine regelrechte »Offenbarung« nannte Schirrmacher Graebers Buch. Mittlerweile ziert Schirrmachers Urteil das Cover der deutschen Übersetzung in Auslagen bis zu den Bahnhofsbuchhandlungen: »Jeder Umsturz, jede Revolution beginnt mit Schulden, welche die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann. David Graebers großes Buch ›Debt‹ zeigt uns, wo wir heute stehen. Eine Befreiung« – eingerahmt als Kassenbon! Und zusätzlich als Balsam für jede krisengebeutelte linke Seele kostenlos ein roter Botton mit der aufgedruckten Kurzfassung: »Jede Revolution beginnt mit Schulden«.

Allerdings blieb die Rezeption Graebers innerhalb der Linken bislang verhalten und stößt ob seines »recht vagen Verständnisses von Kapitalismus« auf Vorbehalte. Anders innerhalb des bürgerlichen Feuilletons. Was Schirrmacher als »Offenbarung« feiert, ist die »Befreiung« vom Alptraum neo­liberaler Hybris und Geschichtsvergessenheit – das Gespür für die Geschichtlichkeit und damit Vergänglichkeit der angeblich besten aller Welten. Ein vergleichbarer Referenzpunkt markierte noch zu Hochzeiten des Neoliberalismus die mit viel weltgeschichtlichem Esprit vorgetragene neue Weltordnungsanalyse »Empire« des italienischen Operaisten Antonio Negri zusammen mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt. War es damals der historische Bogen eines »grenzenlosen Freiheitsimpetus« vom frühbürgerlich-florentinischen Republikanismus Europas über den paradigmatischen Typus des »Frontier« der Neuen Welt bis hin zum »Empire« eines George W. Bush samt der Freisetzung eines latenten »Kommunismus« durch eine buntscheckige »Multitudo«, der das bürgerliche Feuilleton verzückte, so ist es jetzt Graebers Befund der geschichtlichen Schattenseiten und Kosten dieses kapitalistischen Freiheitspathos, der Geister wie Schirrmacher nachdenklich und ernsthaft stimmt: »›Man muss sich verschulden, um ein Leben zu leben, das mehr ist als bloßes Überleben.‹ Dieser Satz ist vielleicht der dramatischste dieses faszinierenden Werkes.« Und Schirrmacher schiebt über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nach: »Insofern war die Systembedrohung durch den Kommunismus tatsächlich ein Grund für die Selbstdisziplinierung des Finanzkapitalismus.« Und jetzt eine Menschheitsgeschichte der »Urschuld« als Katharsis?

 

Vom blutigen Gründungsmythos zum »Golden Age«?

In der Tat ist nach 1989 das bürgerliche »Pursuit of Happiness« eines »Vernunft- und Glückszusammenhangs zwischen Individuum und Globalisierung«, den die Produktivität und Effektivität des Finanzmarktkapitalismus gewährleisten sollten, in seiner neoliberalen Variante geschichtlich vorerst gescheitert. Und wie im Brennglas fokussiert Graeber die roten Fäden seiner Schuldengeschichte in einer Szene an einem denkwürdigen Ort des kollektiven historischen Gedächtnisses der bislang führenden kapitalistischen Nation, indem er den Bogen spannt von der Staatsschuldenauffassung eines der Gründungsväter jenes verfassungsmäßigen »Pursuit of Happiness«, Thomas Jefferson, bis zu einem Vertreter der Nachgeborenen, Martin Luther King, der dieses Glücksversprechen dann im »Golden Age« des Nachkriegskapitalismus für seine bislang nicht »einbezogenen« (Graeber) farbigen Mitbürger immer wieder einzufordern versuchte.

Schon bei der Gründung der USA sah sich ihr erster Finanzminister Alexander Hamilton, der heute jeden 10-Dollar-Schein ziert, mit den durch die Revolution verursachten Staatsschulden konfrontiert und erwirkte gegen den Widerstand anderer »Federalists« die Übernahme durch den Bundesstaat. Aber »die Denker mit demokratischen Neigungen hielten diese Situation für schändlich. ›Die moderne Theorie von der endlosen Fortsetzung der Schulden‹, schrieb Thomas Jefferson etwa zur selben Zeit, ›hat die Erde mit Blut getränkt und ihren Bewohnern ständig wachsende Lasten aufgebürdet.‹« /376/ Für Graeber ebnete dieses schädliche Bündnis zwischen staatlichen Kriegsherren und kapitalistischen Financiers über die Jahrhunderte »auch den Weg für die Vorstellung, dass der Staat moralisch in der Schuld der Gesellschaft steht, dass er ihr buchstäblich die Freiheit schuldet. Das hat vielleicht niemand so klar ausgedrückt wie Martin Luther King in seiner Rede auf den Stufen des Lincoln Memorial im Jahr 1963« /391/, die Graeber im Schlusskapitel seines Buches ausführlich zitiert, weil in dieser Rede und in Jeffersons »Staatsschuldenkritik« alle Grundmotive seiner Studie in nuce versammelt sind: »Man könnte sagen, dass wir in die Hauptstadt unseres Landes gekommen sind, um einen Scheck einzulösen. Als die Architekten unserer Republik die wunderbaren Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung niederschrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein, auf den jeder Amerikaner ein Erbrecht hatte. Mit diesem Schuldschein wurden allen Menschen, ja: Menschen mit schwarzer Haut ebenso wie weißhäutigen Menschen, die ›unveräußerlichen Rechte‹ auf ›Leben, Freiheit und das Streben nach Glück‹ garantiert. An seine farbigen Bürger hat Amerika diesen Schuldschein offenkundig nicht ausgezahlt. Anstatt dieses heilige Versprechen zu halten, hat Amerika den Schwarzen einen faulen Scheck aufgestellt, einen Scheck, der mit der Bemerkung ›Unzureichende Deckung‹ zurückgekommen ist.« /392/

50 Jahre später besitzen die USA zwar einen farbigen Präsidenten, aber die soziale Inklusion der »keynesianischen Ära« /392/ war nur von kurzer Dauer und die unzureichende Deckung der staatlichen Schuldscheine hat sich seit Ende der 1970er Jahre von den urbanen Krisen in den Metropolen über die Jugendarbeitslosigkeit und -revolten in Südeuropa und den Ländern der Arabellion bis zu den Obdachlosen in den amerikanischen Städten zu einer weltweiten gesellschaftlichen »Einbeziehungskrise« /394/ großer Bevölkerungsteile farbiger wie weißer Menschen ausgewachsen. Vor diesem Hintergrund hält Graeber grundlegende Prognosen der Klassischen Ökonomie zu Beginn der bürgerlichen Epoche für gescheitert: Sowohl »Adam Smith’ Idealvorstellung von einem schuldenfreien Utopia, vor allem aber David Ricardos Ablehnung des Grundherrn (Junkers), dessen parasitäre Existenz die wirtschaftliche Entwicklung hemme«, bis hin zu Keynes’ Langfristprognose, dass »die Rentnerseite des Kapitalismus als eine vorübergehende Phase verschwinden wird« /393/, sind nicht eingetreten. Daher wird die Phase der »Great Compression« großer Einkommen und Vermögen, eines zivilisierten Kapitalismus mit regulierten Finanz- und Immobilienmärkten bei Graeber zur Fußnote einer größeren Weltgeschichte der Schulden, zu deren Erfassung man tiefer graben muss. Und die Periode seit dem 15. August 1971, an dem US-Präsident Nixon die Goldkonvertibilität des Dollars aufhob, ordnet sich als weltgeschichtliches »Endspiel« /373/ ein, dem Graeber grade mal 30 Seiten Schlusskapitel seiner 536 Seiten starken Untersuchung widmet. Dennoch resümiert Graeber hier die drei wesentlichen Dynamiken und Achsen, um die sich seine Weltgeschichte dreht und mit denen sich die innere Architektur seiner Analyse entschlüsseln lässt.

 

Drehbuch einer Schuldenweltgeschichte

Der Konnex von (Staats)Schulden, Geld und Krieg war für Graeber »von Anfang an da. Das moderne Geld hat seinen Ursprung in Staatsschulden, denn Staaten leihen sich Geld, um Kriege zu finanzieren. Das gilt heute genauso wie im 16. Jahrhundert, zur Zeit Philipps II., König von Spanien. Mit der Gründung der Zentralbanken wurde die Verschmelzung der Interessen von Kriegsherren und Geldgebern, die schon im Italien der Renaissance zu beobachten gewesen war, dauerhaft institutionalisiert. Diese ›Interessengemeinschaft‹ schuf schließlich die Grundlage für den Finanzkapitalismus.« /382/ Und auch das erst 300 Jahre nach der Bank of England gegründete Federal Reserve-System der USA ist in den Augen Graebers ein »eigenartiges öffentlich-privates Hybridsystem« /383/, von dem Henry Ford einmal gesagt haben soll, »eine Revolution werde ausbrechen, sollten die amerikanischen Normalbürger jemals herausfinden, wie das Bankensystem tatsächlich funktioniert«, wie Graeber zitiert und dann lapidar resümiert: »Die Staatsschulden der Vereinig­ten Staaten sind seit 1790 Kriegsschulden.« /ebd./

Die seit dem Ende des Fordismus diskutierte Krise der Lohnarbeit fasst Graeber als gesellschaftliche Einbeziehungskrise auf ökonomischer wie politischer Ebene. Denn in den 1970er Jahren kehrte sich eine Entwicklung von bürgerrechtlicher bis feministischer Inklusion um: »Anscheinend kann der Kapitalismus als System eine solche Vereinbarung einfach nicht auf alle Menschen ausweiten. Es ist sogar möglich, dass er überhaupt nicht überleben könnte, wenn sämtliche Arbeitskräfte freie Lohnarbeiter wären, und zweifellos wird er nie imstande sein, allen Menschen jenes Leben zu ermöglichen, das ein Arbeiter in der Automobilindustrie von Michigan oder Turin in den sechziger Jahren führte, mit eigenem Haus und Hochschulausbildung der Kinder...« /393/ Fordistischer Teilhabekapitalismus in Form von Familienlohn, Bildungschancen und Eigenheimbesitz »ging unmerklich in etwas über, das nicht mehr von den vertrauten Plagen der Erwerbsarmen zu unterscheiden war: vom Kredithai und vom Pfandleiher«. /395/ Die vorbürgerliche Sozialtypologie kehrt wieder.

Die geschichtsmächtigen Mythen von Staat und Markt: »Das ist der Grund, warum ich mich in diesem Buch so eingehend mit dem Markt, aber auch mit der falschen Wahl zwischen Markt und Staat beschäftigt habe, die die politische Ideologie in den vergangenen Jahrhunderten beherrscht und jede andere Diskussion erheblich behindert hat.« /403/ Die politischen Auseinandersetzungen seit Adam Smith’ Zeiten um Markt- und Staatspopulismus sprechen in Wahrheit »von der linken und rechten Flanke desselben Tieres (...) der bedrückenden Hinterlassenschaft der Gewalt (...) Krieg, Eroberung und Sklaverei haben nicht nur entscheidend dazu beigetragen, menschliche Ökonomien in Marktwirtschaften zu verwandeln, sondern sie haben sämtliche Einrichtungen unserer Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt« /404/, so das Resümee des Ethnologen, Anthropologen und Anarchisten Graeber, mit dem er nun als Occupy-Aktivist politisch im Kern an ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung anknüpft: die »Staatsfeinde« (Pierre Clastres) vom Tunix-Kongress 1978 an der Westberliner TU, die sich seitdem immer wieder in verschiedenen theoretischen Kostümen auf die Suche nach dem Strand unter den Pflastersteinen begeben haben.

Diese drei geschichtlichen Dynamiken, die zur gegenwärtigen Krisenkonstellation geführt haben, resümiert Graeber in Anlehnung an den Ökonomen Michael Hudson dann abschließend unter dem Topos des »Schuldenimperialismus«.

 

Kulturanthropologie vs. Formationsgeschichte gesellschaftlicher Arbeit

Wie sieht nun Graebers weltgeschichtliche Begründung aus? Nachdem er eingangs die zwei großen bürgerlichen Robinsonaden des menschlichen Hangs zum Tausch sowie des »Knappschen Chartalismus, die Lehre, dass das Geld vornehmlich eine Schöpfung des Staates« sei (Keynes, zit. Graeber) destruiert hat, »werde ich hier ganz von vorn beginnen und eine völlig neue Theorie aufstellen müssen, praktisch ganz von Anfang an« /96/. Gegen die bürgerlich-ökonomischen Gründungsmärchen über die Entstehung von Gemeinwesen greift Graeber zurecht auf den Schlüsselbegriff der »Reziprozität« zurück. »Wie in der Gesellschaft insgesamt kann man die geteilte Geselligkeit als eine Art kommunistische Basis verstehen, auf der alles andere errichtet wird.« /105/ Allerdings gelingt Graeber auf Basis dieses ethnologischen Befundes keine klare und in sich stimmige Differenzierung von vorbürgerlichen Gemeinwesen und einer modernen kapitalistischen Gesellschaft. Seine Einsichten in den fremden, andersartigen Charakter der vorkapitalistischen Konstitutionen eines Zusammenhangs von Gemeinwesen, Eigentumsverhältnissen und Aneignungsweisen sind wesentlich geprägt von seinen durch den französischen Ethnologen und (Religions-)Soziologen Marcel Mauss inspirierten Studien zu einer »anthropologischen Werttheorie« von 2001, die jetzt nach seinem Schuldenbuch auch in deutscher Übersetzung vorliegen.5

Über die historisch unterschiedlichen Entwicklungsformen im System gesellschaftlicher Arbeit erfährt der Leser so gut wie nichts, da Graeber immer nur eine Geschichte von »Wertformen« wie Schuld, Wucher, Zins, Münze und Geld erzählt. Will man dabei aber keine unzulässige Rückprojektion bürgerlich-moderner Sichtweisen in die Geschichte begehen, muss man diese modernen Kategorien allererst einer theoretischen Kritik unterziehen, um sie analytisch sinnvoll in der Betrachtung geschichtlich früherer Gemeinwesen einsetzen zu können. Orientiert man sich in dieser Frage methodisch an der Kritik der politischen Ökonomie, »bietet erst die richtige Fassung des Gegenwärtigen dann auch den Schlüssel für das Verständnis der Vergangenheit«.6 Hier sind Regulierungsformen wie Reziprozität, Redistribution und Haushalt für die Reproduktion vorbürgerlicher Gemeinwesen vorherrschend, die sich auch noch durch Krieg und Sklaverei als »sekundäre, nie ursprüngliche Formen« selbst modifizieren. In solchen Gemeinwesen verhalten sich die Individuen nicht einfach »als Arbeiter, sondern als Eigentümer – und Mitglieder eines Gemeinwesens, die zugleich arbeiten. Der Zweck dieser Arbeit ist nicht Wertschöpfung – obgleich sie Surplusarbeit tun mögen, um sich fremde, i.e. Surplusprodukte, auszutauschen –; sondern ihr Zweck ist Erhaltung des einzelnen Eigentümers und seiner Familie wie des Gesamtgemeindewesens. Die Setzung des Individuums als eines Arbeiters in dieser Nacktheit ist selbst historisches Produkt.«7

Ein solches »illusionsloses« Herangehen an Formen des Werts wie z.B. das Geld in vorbürgerlichen Verhältnissen lässt sich bei Jacques Le Goff im Unterschied zu Graeber zeigen: »Dass es keinen mittelalterlichen Geldbegriff gab, erklärt sich durch das Fehlen eines spezifischen Bereichs ›Ökonomie‹ sowie fehlende diesbezügliche Thesen oder Theorien. Historiker, die den scholastischen Theologen oder den Bettelmönchen, vor allem den Franziskanern, ökonomisches Denken andichten, begehen einen Anachronismus.«8 Geld in vorbürgerlichen Verhältnissen kann nicht einfach mit dem abstrakten Begriff des allgemeinen Äquivalents einer warenproduzierenden kapitalistischen Geldwirtschaft gleichgesetzt werden. »Was wir heute unter Geld verstehen ist ein Produkt der Moderne.« (Le Goff) Ohne den Charakter von Reichtumsproduktion in vorkapitalistischen Gemeinwesen genauer spezifiziert zu haben, spricht Grae­ber pauschal von »humanen Ökonomien« und fasst dann den Übergang zu staatlicher Hierarchie und Marktverhältnissen in die Frage: Was passiert, wenn humane Ökonomien sich auflösen und von kommerziellen übernommen werden?

Diesen Übergang verortet Graeber in Anlehnung an Karl Jaspers in die weltgeschichtliche Achsenzeit 800 v.u.Z. bis 600 u.Z., die Welt der antiken Stadtstaaten, der Genesis der drei großen Weltreligionen, aber auch Chinas und Indiens. Die entscheidende Qualitätsveränderung mit Langzeitwirkung besteht darin, dass hier zum ersten Mal »Menschen zu Tauschobjekten« /167/ werden können, die reziproke Geselligkeit durch den Gewaltakt der Sklaverei in kommerzielle Ökonomie transformiert wird. Von da an spannt sich dann für Graeber der Bogen eines »militärischen Münzgeld- und Sklaverei-Komplexes« /242/ bis zum gegenwärtigen Schuldenimperialismus.

 

Kapitalismus ohne doppelt freie Lohnarbeit?

Das Missing Link nach dem Untergang der antiken Welt zu frühbürgerlichen Verhältnissen liefert dann die Wiederentdeckung des römischen Rechts, in dem das ursprüngliche Gewaltverhältnis der Sklaverei als dem Eigentumstitel an einem Menschen sozusagen aufgehoben ist: »Mit diesem Punkt haben wir in gewisser Weise den Kreis geschlossen, und wir können nun verstehen, warum Liberale wie Adam Smith in der Lage waren, sich die Welt so vorzustellen, wie sie es taten. Diese Tradition geht davon aus, Freiheit sei im Kern das Recht, mit seinem Eigentum zu tun, was einem beliebt. Dadurch wird nicht nur Eigentum zu einem Recht; auch die Rechte selbst werden als eine Form von Eigentum behandelt.« /216/ Schlussfolgerung: »Der gemeinsame Nenner all dieser Beziehungen ist Gewalt.« /219/

Graeber begeht an dieser entscheidenden Nahtstelle seiner »Weltgeschichte« bezogen auf den Bereich von Staatlichkeit, Recht und Politik die gleiche Indifferenz wie zuvor bei der Behandlung vorbürgerlicher Geldformen. Freiheit in antiken Gemeinwesen, die selbst in gewissem Maße eine historisch spezifische und sozialstrukturell differenzierte Entwicklung für die Polismitglieder zulässt, kann nicht einfach auf Gewaltverhältnisse reduziert werden und diese dann auch noch bis in die bürgerliche Gesellschaft einfach prolongiert werden.

Graeber verkennt hier, dass die moderne bürgerliche »Gleichheit und Freiheit in dieser Ausdehnung grade das Gegenteil der antiken Freiheit und Gleichheit sind, die eben den entwickelten Tauschwert nicht zur Grundlage haben, vielmehr an seiner Entwicklung kaputtgehn. Sie setzen Produktionsverhältnisse voraus, die in der alten Welt noch nicht realisiert waren; auch nicht im Mittelalter. Direkte Zwangsarbeit ist die Grundlage der ersten; das Gemeinwesen ruht auf dieser als existierender Unterlage; Arbeit selbst als Privilegium, als noch in ihrer Besonderung, nicht als allgemein Tauschwerte produzierend, geltend die Grundlage des zweiten. Weder ist die Arbeit Zwangsarbeit; noch, wie im zweiten Fall, findet sie statt mit Rücksicht auf ein Gemeinsames als ein Höhres (Korporationen).

Nun ist es zwar richtig, daß die [Beziehung der] Austauschenden nach der Seite der Motive, d.h. der natürlichen, außerhalb des ökonomischen Prozesses fallenden, auch auf einem gewissen Zwang beruht; aber diese ist nach der einen Seite selbst nur die Gleichgültigkeit des andren für mein Bedürfnis als solches, gegen meine natürliche Individualität, also seine Gleichheit mit mir und Freiheit, die aber ebensosehr die Voraussetzung der meinigen ist; andrerseits, soweit ich bestimmt werde, forciert durch meine Bedürfnisse, ist es nur meine eigne Natur, die ein Ganzes von Bedürfnissen und Trieben ist, das mir Gewalt antut, nichts Fremdes (oder mein Interesse in allgemeiner, reflektierter Form gesetzt). Aber es ist ja auch eben diese Seite, wodurch ich dem andren Zwang antue, ihn in das Tauschsystem treibe.

Im römischen Recht ist der servus daher richtig bestimmt als einer, der nicht für sich durch den Austausch erwerben kann (sieh Institut.). Es ist daher ebenso klar, daß dies Recht, obgleich es einem Gesellschaftszustand entspricht, in welchem keineswegs der Austausch entwickelt war, doch, insofern er in bestimmtem Kreise entwickelt war, die Bestimmungen der juristischen Person, eben des Individuums des Austauschs, entwickeln konnte und so das Recht (nach den Grundbestimmungen hin) für die industrielle Gesellschaft antizipieren, vor allem aber dem Mittelalter gegenüber als das Recht der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft geltend gemacht werden mußte. Seine Entwicklung selbst fällt aber auch vollständig mit der Auflösung des römischen Gemeinwesens zusammen.«9

Graebers Fassung der Sklaverei führt ihn dann auch zu der provozierenden These: »Der geheime Skandal des Kapitalismus ist, dass er nie hauptsächlich auf der freien Arbeit beruhte ... Es besteht seit jeher ein eigentümliches Nahverhältnis zwischen Lohnarbeit und Sklaverei.« /368/ Dass die Verwandlung unfreier Arbeit aus vorbürgerlich-feudalen politischen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen in doppelt freie LohnarbeiterInnen ein neues Kapitel in der »Geschichte der Arbeit« aufschlägt und »das Kapital daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ankündigt« (MEW 23: 184), sieht Graeber ganz anders. Moderne Lohnarbeit beinhaltet für ihn im Grunde kein zivilisatorisches Potenzial, sondern eine zwar reizvolle, aber letztlich »utopische Vision ... Zwischen 1825 und 1975 unternahmen zahlreiche sehr mächtige Menschen – mit begeisterter Unterstützung vieler machtloser Menschen – einen entschlossenen Versuch, diese Vision zu verwirklichen.« /372/ Aber »in dem Moment, da eine Aussicht darauf besteht, dass diese Vision wahr wird, beginnt sich das ganze System aufzulösen.« /373/

Aber gerade die Jahrzehnte nach 1975, mit denen Graeber das »Endspiel« des Kapitalismus einsetzen lässt, sind zugleich die Jahrzehnte einer höchst dynamischen und widersprüchlichen Entwicklung von Individualisierung und Subjektivierung in den Verhältnissen der Lohnarbeit selbst. Es waren gerade der finanzmarktgetriebene Umbau der Betriebe und die neoliberalen Imperative »Alle Macht den Märkten« und »Führe dich selbst«, die nach Maßgabe von »mehr Druck durch mehr Freiheit« das überkommene fordistische Kommandosystem in weiten Teilen umwälzten. Ganz entgegen Graebers Bild vom Kapitalismus sind es gerade die zivilisatorischen Seiten kapitalistischer Herrschaftsstrukturen, die die Lohnarbeit im Unterschied zu allen anderen bisherigen Formen und Kulturen der Arbeit »zu einer ganz andren historischen Action befähigen (...) der freie Arbeiter ... getrieben von seinen wants. Das Bewusstsein (oder vielmehr die Vorstellung) der freien Selbstbestimmung, der Freiheit ... und das damit verbundne feeling (Bewusstsein) of responsibility«.10 Graeber verkennt, dass diese geschichtlich durch den Kapitalismus selbst erzeugte Sensibilität gegen Fremdbestimmung in der Lohnarbeit auch den gegenwärtigen sozialen Protestbewegungen wie Occupy u.a. zugrunde liegt.

 

Kredit als »mächtiger Hebel für organische Changes« (Marx)

Graeber war von den »moralischen Verwirrungen« und Anfechtungen für das meritokratische Selbstbild der Mittelschichten ausgegangen, die der Finanzmarktkapitalismus gerade dadurch hervorruft, dass in seiner Verschuldungs- und Vermögenskultur »alle Maßstäbe, alle mehr oder minder innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise noch berechtigten Explikationsgründe verschwinden« (MEW 25: 455). Aber in seiner Weltgeschichte der »Urschuld« geht Graeber auf die Kehrseite und den Stellenwert moderner Kreditverhältnisse für die Hegemonie und Legitimationsbeschaffung nicht näher ein. Denn »was das zinstragende Kapital, soweit es ein wesentliches Element der kapitalistischen Produktionsweise bildet, vom Wucherkapital unterscheidet, ist in keiner Weise die Natur oder der Charakter dieses Kapitals selbst. Es sind nur die veränderten Bedingungen, unter denen es fungiert, und daher auch die total verwandelte Gestalt des Borgers, der dem Geldverleiher gegenübertritt. Selbst wo ein vermögensloser Mann als Industrieller oder Kaufmann Kredit erhält, geschieht es in dem Vertrauen, daß er als Kapitalist fungieren, unbezahlte Arbeit aneignen wird mit dem geliehenen Kapital. Es wird ihm Kredit gegeben als potentiellem Kapitalisten. Und dieser Umstand, der so sehr bewundert wird von den ökonomischen Apologeten, daß ein Mann ohne Vermögen, aber mit Energie, Solidität, Fähigkeit und Geschäftskenntnis sich in dieser Weise in einen Kapitalisten verwandeln kann ... befestigt die Herrschaft des Kapitals selbst, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften aus der gesellschaftlichen Unterlage zu rekrutieren. Ganz wie der Umstand, daß die katholische Kirche im Mittelalter ihre Hierarchie ohne Ansehn von Stand, Geburt, Vermögen aus den besten Köpfen im Volk bildete, ein Hauptbefestigungsmittel der Pfaffenherrschaft und der Unterdrückung der Laien war. Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft. Statt des Bannfluchs gegen das zinstragende Kapital überhaupt, ist es daher umgekehrt seine ausdrückliche Anerkennung, wovon die Initiatoren des modernen Kreditsystems ausgehn.« (ebd.: 614)

Gegenhegemoniale Politikentwürfe, die wie Occupy u.a. das »Endspiel« des Finanzmarktkapitalismus zu Recht in eine emanzipatorische Richtung drehen wollen, müssen sich aber dieser Attraktivität moderner Kreditverhältnisse für viele Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft stellen. Nicht nur auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Reproduktion gilt, dass der Kredit Elastizität und Innovation ermöglicht und das Banksystem die gesamtwirtschaftliche Geldzirkulation in einer »reflektierten Form« vermittelt, »in der Fluss und Rückfluss, Ausgleichung von Bilanzen ... als bewusst geregelte Verläufe erscheinen« (MEW 24: 496). Auch im Alltagsleben vieler Privathaushalte und ihrer Lebensentwürfe spielt der Kredit eine nicht zu unterschätzende Rolle – von der schon fortgeschrittenen Kapitalisierung von sozialer und Alterssicherung ganz zu schweigen. Soll die darin gleichfalls enthaltene Mystifikation sozialer Reproduktion und die Befestigung besitzindividualistischer Mentalitäten aufgebrochen und überwunden werden, müssen zum einen in Formen »dichter Beschreibung« der ideologische Kitt, Ambivalenzen, Widersprüche und Bruchstellen im gegenwärtigen Alltagsbewusstein erkundet und neue Perspektiven von Sozialität und frei assoziierten Individuen ausgelotet werden.11

Ein weiterer Anknüpfungspunkt ergibt sich aus einer Entwicklungstendenz des Kapitalismus selbst, die mit der Ausbildung der Formen des zinstragenden Kapitals angelegt ist. Mit der Bildung von Aktiengesellschaften erhält das Kapital »direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.« (MEW 25: 452) Im gegenwärtigen Shareholder Value- und Finanzmarktkapitalismus zeigen sich zugleich die gesellschaftszerstörerischen Seiten dieser Entwicklung. Für entwickelte Aktiengesellschaften gilt: »Je entschiedener man dem Interesse der Aktionäre Vorrang einräumt, desto stärker wird der Einfluss einer externen Macht (die Finanzmärkte) auf die Unternehmenspolitik. Dieser Prozess führt dazu, dass die Verantwortlichkeit der Manager-Macht abnimmt. Durch das Prinzip des Shareholders wird die Macht der Manager, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, eher gestärkt als eingeschränkt.«12 Solche Verhältnisse bedeuten aber: Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums! Auf welchen Wegen aber die Beschäftigten in diesen Kapitalgesellschaften zu »Eigentümern«, die Shareholder Value-Steuerung dieser Betriebe gebrochen und eine gesamtgesellschaftliche Einbindung dieser Unternehmen zurückgewonnen werden können – ganz zu schweigen von der Reorganisation des Kreditsystems als einem »mächtigen Hebel (...) während des Übergangs aus der kapitalistischen Produktionsweise in die Produktionsweise der assoziierten Arbeit« (ebd. 621): das wären Herausforderungen einer Überwindung des »Schuldenkapitalismus«.

Graeber entlässt den Leser mit seiner moralischen Gewissheit, dass »Schulden nichts weiter sind als die Perversion eines Versprechens, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde« /410/ – und damit dem unguten Gefühl, dass ein Aufbruch in eine andere, »nicht-kommerzielle« Ökonomie im bloßen Beschwören einer unverfälschten, wahren »humanen Ökonomie« verbleibt und nicht davor gefeit ist, in rückwärtsgewandter Politik zu enden.