Sorgearbeit im Gegenwartskapitalismus

Die Krise gesellschaftlicher Reproduktion und der Wandel von Herrschaft

Jede Gesellschaft muss sich mit den großen Lebensthemen auseinandersetzen: Ihre Mitglieder sind sterblich, was bedeutet, dass genügend Menschen geboren werden müssen, um die Gesellschaft zu erhalten. Dann besteht die Notwendigkeit, sie in diese Gesellschaft hinein zu sozialisieren. Und möglicherweise werden sie gebrechlich. Stichworte wie demografischer Wandel, Alterspyramide oder Gesundheitsreform zeigen, wie aktuell diese Themen sind. In jedem Falle bedarf es der Sorgearbeit, also der Arbeit, mit der Menschen für sich und andere sorgen.

Die Selbst- und Fürsorge ist unter kapitalistischen Vorzeichen immer prekär. Zwar ist Sorgearbeit unerlässlich, wirtschaftlich interessant ist sie aber nur, wenn sie rentabel gemacht werden kann. In der Profit-, Rentabilitäts- und Effizienzorientierung kapitalistischer Gesellschaften wird von der Selbst- und Fürsorge abgesehen, was so lange geht, wie sie anderweitig geleistet wird. Insofern ist die Reproduktion der Gesellschaft immer schon krisenbehaftet. Und sie ist herrschaftsförmig organisiert.

Wie Sorgearbeit organisiert ist

Wie jede Arbeit ist auch Sorgearbeit in die kapitalistische Doppelstruktur einer bürgerlichen Gleichheits- und ökonomischen Ungleichheitsordnung eingebunden, in deren Rahmen Funktions- und Arbeitsteilungen vollzogen worden sind. Bei den OECD-Ländern handelt es sich, mit erheblichen Unterschieden, um die sektorale Funktionsteilung zwischen Privatwirtschaft, Staat, Gemeinwirtschaft/Drittem Sektor, Privathaushalt, in denen Sorgearbeit bezahlt und unbezahlt vor allem als Erwerbs-, Haus- und Freiwilligenarbeit verrichtet wird. Diese Organisation von Sorgearbeit ist seit geraumer Zeit in neuer Weise krisenhaft, wobei ein Herrschaftswandel zu vermerken ist. Das gilt für die private wie für die öffentliche Sorgearbeit.

Male Breadwinner, Adult Worker und private Sorgearbeit

Wird heute von einer Reproduktionskrise gesprochen, so ist die Vergleichsfolie die Blütezeit des Fordismus von den 1950er bis Mitte der 1970er Jahre, in der das Versprechen, wirtschaftliches Wachstum und technologischer Fortschritt verbinde sich mit allgemeinem Wohlstand vor allem für die einheimischen männlichen Mittelschichten, wirklich geworden war. Das Normalarbeitsverhältnis und die Kleinfamilie nach dem Ernährer-Hausfrauen-Modell und der daran orientierte keynesianische Wohlfahrtsstaat bauten in Deutschland normativ und rechtlich sanktioniert darauf auf, dass Frauen ihre Kinder, Ehemänner, Eltern, Schwiegereltern umsorgten und allenfalls „dazu“ verdienten, während Männer als Familienernährer und -oberhaupt voll erwerbstätig waren. Dieses Arrangement wurde seither sukzessive zersetzt durch die Flexibilisierung, Deregulierung, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse. Durch das gestiegene Bildungsniveau, die formalrechtliche Gleichstellung der Geschlechter, die Pluralisierung der Lebensformen in Verbindung mit dem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit, durch die Rationalisierung und Reorganisation des Wohlfahrtsstaates nach Maßgabe des New Public Management orientiert sich der Wohlfahrtsstaat nicht mehr am Modell des „Male Breadwinner“, sondern am Modell des „Adult Workers“.

Normativ wie institutionell tritt damit das voll erwerbsfähige Gesellschaftsmitglied in den Vordergrund, das seiner Bürgerpflicht nachkommt, indem es den Wohlfahrtsstaat allenfalls im Rahmen von Leistung und Gegenleistung beansprucht. In der Konstruktion des „Adult Worker“ wird, anders als beim „Male Breadwinner“, Sorgearbeit gar nicht mehr thematisiert, was bedeutet, dass ihre Bewältigung den Einzelnen anheimgestellt ist. Es werden drei postfordistische Muster sichtbar: Sorgearbeit führt für diejenigen, die sie leisten, nach wie vor meist Frauen, zu weniger offensichtlichen Benachteiligungen in der Erwerbsarbeit oder neuen Überforderungen ihrer Kräfte. Sie wird zu einem Aushandlungs- und Konfliktgegenstand im Privathaushalt, in neuen Lebensformen, zwischen den Geschlechtern. Oder sie wird in neuem Ausmaß an Migrantinnen delegiert, was die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern stabil hält, indem diese zwischen den Frauen selbst verändert wird und indem die Länder des Westens und Nordens auf Ressourcen im Osten und Süden zurückgreifen mit der Folge der dortigen Vernachlässigung des Sorgens.

Die Rationalisierung der öffentlichen Sorgearbeit

Auch die privatwirtschaftlich, staatlich und gemeinwirtschaftlich erbrachte Sorgearbeit erfährt Veränderungen. Es sind sektorale Verschiebungen zu beobachten: Wo Sorgearbeit gewinnträchtig organisierbar ist, entstehen neue Dienstleistungs- und Forschungsindustrien oder neue Organisationsformen, wie Public Private Partnerships, und neue Konkurrenzen. Sie lassen die gemeinwirtschaftlichen und staatlichen Trägerinstitutionen nicht außen vor, welche ihrerseits mit dem New Public Management einer forcierten Ökonomisierung unterliegen. Unter diesen Vorzeichen sind Felder wie Soziale Arbeit, Gesundheit, Pflege durch die Professionalisierung und Akademisierung nicht zuletzt ihrer administrativen und manageriellen Anteile und die gleichzeitige Deprofessionalisierung nicht zuletzt der interaktiven und interventiven Arbeit, also der unmittelbaren Arbeit am Menschen, gekennzeichnet. Sie wird – besonders sichtbar in der Pflege mit Waschen, Betten, Füttern im Minutentakt – entgegen ihrer notwendigen Ganzheitlichkeit zerlegt und damit in ihrem sorgenden Charakter zerstört. Und auch hier zeigt sich ein Muster der Auslagerung der Probleme: Notwendige Arbeit wird informell, also ungratifiziert und gegen die vorgegebene Zeitstruktur geleistet. Professionelle Ansprüche können in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder von Beschäftigten, oft Migrantinnen, deren Qualifikation nicht anerkannt wird, kaum geltend gemacht werden.

Die neue Qualität der Reproduktionskrise

In der Reformära der 1970er Jahre hatte Sorgearbeit konzeptionell erhebliche Weiterentwicklungen erfahren. Doch mit der seitherigen forcierten Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, die durch die absehbaren weiteren Kürzungen der öffentlichen Haushalte noch verschärft werden wird, besteht kaum mehr Handlungsspielraum, dies weiter zu verfolgen und zu entfalten. Stattdessen wird die Selbst- und Fürsorge zu einem bedeutenden Krisenherd, indem sie rationalisiert und zerstört, informalisiert und individualisiert wird. Damit wird die Verantwortung für die Bearbeitung der großen gesellschaftlichen Lebensthemen auf die Einzelnen verlagert, die sich herrschaftsförmiger Zuweisungen immer schwerer erwehren können.

 

Literatur

Aulenbacher, Brigitte (2011): Frauen, Männer, Prekarität. Vom fordistischen Versprechen auf Wohlstand zur postfordistischen Reproduktionskrise, in: Hammerschmidt, Peter/Sagebiel, Juliane (Hg.), Die Soziale Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Schriftenreihe Soziale Arbeit der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, AG SPAK Verlag: Neu-Ulm, S. 121-136.

Jürgens, Kerstin (2010): Deutschland in der Reproduktionskrise. Leviathan, 38. Jg., Heft 4, S. 559-587.

Lutz, Helma (2010): Unsichtbar und unproduktiv? Haushaltsarbeit und Care Work – die Rückseite der Arbeitsgesellschaft. In: Österreichischen Zeitschrift für Soziologie, 35. Jg., Heft 2, S. 23-57.