Etwas Besseres als Integration

in (28.03.2013)

Sie hört einfach nicht auf, die Rede von der Integration. Das ist insofern bemerkenswert, als sie in sich das Eingeständnis birgt, dass Ausgrenzung gesellschaftliche Realität ist. Denn gäbe es Ausgrenzung nicht, wer würde dann von Integration reden? Mit einer solchen Vereinfachung kommt man natürlich nicht durch. In Zeiten und Verhältnissen wie diesen wird Komplexitätsreduktion mit Argwohn und Skepsis betrachtet. Schließlich ist alles komplex. Sehr, sehr komplex. Auf nichts gibt es eine klare Antwort. Die ApologetInnen der Integration führen oft ins Feld, Integration sei notwendig, weil Menschen sich ausgrenzen, sich aus dem gesellschaftlichen Leben verabschieden und es sich in Parallelwelten gemütlich machen. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen werden von den PromotorInnen der Integration eher am Rande gestreift. Argumente, Daten, Fakten und Thesen zur Nicht-Integration finden sie immer wieder. Mal sind es kulturelle Codes, dann religiöse Zugehörigkeiten oder zuletzt genetische Voraussetzungen, warum Menschen sich demnach der Integration verweigern. Wenn es um die quasi selbst verschuldete Ausgrenzung von Minderheiten geht, gerät so ziemlich alles in Vergessenheit, auch das Vokabular der Political Correctness. Die quasi selbst verschuldete Ausgrenzung ist für die Mehrheitsgesellschaft kein akzeptabler Zustand, weswegen man ihr mit Strategien der Integration schon ziemlich lange zu begegnen versucht. Das geschieht nicht aus Altruismus, Nächstenliebe oder weil man die Vision einer offenen Gesellschaft im Blick hat, sondern primär aus Eigeninteresse. Die Entscheidereliten der Mehrheitsgesellschaft wissen längst, dass sie es sich nicht leisten können, diese Menschen für ihr(e) Projekt(ionen) nicht zu gewinnen. Man braucht sie, ihre Talente, ihre Arbeitskraft, ihre Beiträge für die Sozialversicherungen. Deswegen ändert sich langsam und leise, in kleinen Schritten unter anderem die staatliche Politik. Der Umgang mit Einwanderung und ihren gesellschaftlichen Folgen ist heute ein anderer als vor zehn Jahren, auch wenn sich manche Kontinuitäten immer noch behaupten. Es ist nicht nur der Staat, der um Antworten ringt. Die veränderten Realitäten haben inzwischen auch die Niederungen des Breitensports erreicht, zum Beispiel des Handballverbandes im Mittelrhein. In der hauseigenen Postille HVM-Magazin will man die Weichen für die Zukunft stellen. „Statistisch gesehen wird in Deutschland jedes dritte Kind mit Migrationshintergrund geboren. Der Anteil von Handballern mit Migrationshintergrund scheint jedoch gering – gerade diese Zielgruppe kann für die Sportart jedoch überlebenswichtig werden.“[1] Deswegen sei es perspektivisch wichtig, diese wachsende Zielgruppe zu erreichen. Typisch daran ist nicht nur die Banalität einer solchen Einsicht nach 50 Jahren Einwanderung, sondern die Verknüpfung von Demografie und Integration.
Solchen Einlassungen begegnet man andauernd. Warum Integration der Schlüssel für ein erfolgreiches Miteinander zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten sein soll, dazu äußern sich im Loop selbst ernannte ExpertInnen, interdisziplinäre ForscherInnen, windige JournalistInnen, aufklärerische LehrerInnen, coole BarkeeperInnen oder genervte BusfahrerInnen. Im Grunde fühlt sich bei diesem Thema fast jeder bemüßigt, seine Meinung zu artikulieren, egal, wie sinnentleert und diskriminierend sein Sprech ist. Dabei ist es mir noch nicht begegnet, dass jemand den Begriff Integration schon alleine deswegen ablehnt, weil es ein abscheulich hässliches Wort ist. Es ist kalt und technisch. Eigentlich ist Integration in Bedienungsanleitungen für Küchengeräte oder Industrieanlagen viel besser aufgehoben. Für mich klingt Integration nach Ingenieurswesen. Vielleicht ist der Begriff deswegen in Deutschland so beliebt. Das ist aber nur ein formaler Einwand gegen Integration. Es gibt viele andere.
Die Vorstellungen von Integration kommen ohne eine imaginäre Linie zwischen richtigem und falschem Leben nicht aus. Wer sich im Falschen befindet, hat sich gefälligst ins Richtige zu begeben. Kommt er von alleine nicht darauf, wird er darauf gestoßen – in der Schule, bei der Arbeit oder im Fernsehen. Ein Freiticket in die Mehrheitsgesellschaft gibt es nicht. Der Eintritt ist an Auflagen und Bedingungen geknüpft. Zudem setzt dieses Verständnis das ‚Eigene’ und das ‚Andere’ nicht nur in ein hierarchisches Verhältnis, sondern suggeriert, dass gesellschaftliche Desintegration sich vor allem entlang ethnischer Backgrounds vollzieht. Gewissermaßen so, als ob Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Analphabetismus etc. alleinige Probleme von Eingewanderten und deren Nachfahren seien und Autochthone davon nicht betroffen wären. Sie sind Teil der konstruierten Mehrheitsgesellschaft, selbst wenn sie hartzen, nicht mehr zu Wahlen gehen oder keine Zeitungen mehr lesen.
Bekanntlich hält sich Integration seit Jahrzehnten in den Top Ten der Einwanderungshitparade in Almanya. Dabei sollte es endlich um Teilhabe und Partizipation gehen. Wäre dem so, bräuchten sich sogenannte MigrationsexpertInnen nicht den Kopf über Kanaken und ihre Dispositionen zu zermartern. Und es könnte darum gehen, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen zu ändern, damit alle gleichberechtigter Teil der Gesellschaft werden. Das wird nicht gehen, ohne Demokratie in Zeiten der Globalisierung neu zu denken.
Das Gerede von Integration hat den Nationalstaat als Referenzrahmen. Bei Integration geht es immer um die Suggestion von ‚drinnen’ und ‚draußen’, die aber durch gesellschaftliche Realitäten überholt wird. Wenn, wie besonders in den letzten Monaten, Flüchtlinge in Deutschland gegen die Residenzpflicht protestieren, dann stellen sie – wie ihre Weggefährten in der Wiener Votivkirche – dieses Konstrukt infrage. Indem Flüchtlinge mit Schlauchbooten das Mittelmeer überqueren oder die Grenzen Europas überwinden, führen sie uns vor Augen, dass das Konzept der Nation keine Antwort auf ihre Fragen geben kann. Wenn es so kommt, dass ihr Leben unser Leben wird und umgekehrt, dann mag alles noch komplizierter werden, aber es hilft, veraltete Parameter der Integration und Einwanderung zu überwinden.
Und noch ein Argument gegen die Mythen der Integration. Sie haben dazu beigetragen, dass sich die Politik der Klassifizierung von MigrantInnen in gute und schlechte, bereichernde und Probleme schaffende, christliche und islamische, junge und alte, ausgebildete und ungelernte verfestigt. Mit dieser Sicht geht einher, dass man sich der Illusion hingibt, es könnte einen Masterplan für Integration und Migration geben, eine Art Handlungsanleitung für ein Land, das sich nicht abschafft, sondern durch tief greifende Veränderungen im Zuge zunehmender Globalisierung neu erfinden muss. Daran wirkt eine heranwachsende MigrantInnengeneration mit, die sich als die „neuen Deutschen“ ausweist. Sie stellen nicht nur ihren Erfolg zur Schau, sondern reklamieren geradezu selbstverständlich ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und zum „Deutschsein“.[2] Es ist nicht besonders erstaunlich, dass die Mehrheitsgesellschaft sich an solchen erfolgreichen MigrantInnen erfreut – egal ob man sie in der Kulturindustrie oder im öffentlichen Dienst vorfindet. Schließlich heißt die neue Währung Erfolg. Das wiederum ist für die AnhängerInnen der Integration nur bedingt eine gute Nachricht.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 28, Frühling 2013, „Critical Correctness“.
 



[1]
www.handball-world.com/o.red.c/news-1-1-1-40804.html

 

[2]
Alice Bota, Khue Pham, Özlem Topcu: Wir neuen Deutschen: Wer wir sind, was wir wollen. Reinbek bei Hamburg 2012 (Rowohlt).