Der Papst und die Mörder

Jorge Mario Bergoglios Rolle während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983)

Kaum war Kardinal Jorge Mario Bergoglio, der Erzbischof von Buenos Aires, am 13. März 2013 zum Papst Franziskus gewählt worden, da begann eine ungewöhnlich heftige öffentliche Debatte um seine Rolle während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), deren Herrschaft zu den großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts zählt.

 

Circa 30.000 Menschen „ver­schwan­den“ während dieser Zeit. Sie wurden in staatlich organisierten Razzien verschleppt, in illegalen Haftzen­tren auf militärischem Gelände, in Polizeiwachen oder Autoga­ragen bestialisch gefoltert, mo­nate-, wenn nicht gar jahrelang ohne jegliche Rechtsgrundlage festgehalten und schließlich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ermordet.

Man quälte sie zu Tode, erschoss sie in geheimen Mas­senhinrichtungen und verscharrte ihre Leichen auf Baustellen und Äckern, oder man warf sie betäubt, aber noch lebend, aus Flugzeugen ins Meer. Schwangere Gefangene wurden so lange am Leben gehalten, bis sie entbunden hatten. Dann ermordete man sie und gab ihre Kinder an „regimetreue Familien“, um auf diese Weise für künftige Generationen die „Saat der Subversion“ auszutilgen.

Zweifellos war die Debatte um Bergoglios mögliche Verstric­kung in die Verbrechen der Diktatur in seinem Heimatland Ar­gentinien am intensivsten.

Aber auch in Deutschland wurde mit harten Bandagen gekämpft. Die taz etwa sah den Niedergang der katholischen Hierarchie durch die Wahl Ber­goglios endgültig besiegelt: Auf den „Hitlerjungen Ratzin­ger“ sei ein Diktatorenknecht gefolgt. Auf der anderen Seite schrieben katholische Medien von „böswilliger Hetze“ unverbesserlicher „Kirchenhasser“ und wiesen alle Vorwürfe pauschal zurück. Als übermäßig sachlich konnte man diese Debatte nicht bezeichnen.

 

Die Vorwürfe

Dabei sind die Vorwürfe gegen Bergoglio schwerwiegend. Sie wurden schon lange vor seiner Wahl zum Papst erhoben und hätten eine genauere Prüfung verdient gehabt.

Bergoglio habe, so die erste Anschuldigung, Mitglieder seines eigenen damaligen Ordens, der Jesuiten, den Mordkom­mandos der Junta aus politischen Gründen absichtlich ausgeliefert. Diese Anschuldigung ist umso gewichtiger, als in Argentinien durchaus Fälle bekannt sind, in denen Industrieunternehmen, kirchliche Einrichtungen oder Einzelperso­nen während der Diktatur missliebige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Hilfe von „schwarzen Listen“ den Mördern in die Hände spielten.

Eine simple Denunziation genügte, ihr Schicksal zu besiegeln. Insbesondere die Niederlassung von Mercedes Benz in Buenos Aires hat in dieser Hinsicht eine düstere „Vita“.

Während der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war es auch innerhalb der katholischen Kirche Argentiniens in Reaktion auf die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils und die Konferenz von Medellín (1968) zu einer starken Politisierung und Polarisierung gekommen.

Gegen eine privilegierte, wohlhabende und konservative Kir­chenspitze, die traditionell das Bündnis mit den Herrschenden suchte, eine konstantinische Elite sozusagen, organisierten sich an der Basis sozial engagierte Priester und Gläubige.

Geistliche und Laien gingen in die Elendsviertel von Buenos Aires und gründeten sogenannte Bibelkreise, in denen die Heilige Schrift gemeinsam mit den kaum gebildeten Bewoh­nerinnen und Bewohnern der „Villas“ als Aufforderung zu so­zialem Handeln oder gar als revolutionäres Manifest gelesen und gedeutet wurde.

Solche Bibelkreise gab es auch in anderen Ländern Lateiname­rikas. In Nicaragua, El Salvador und Guatemala gaben sogar nachmalige Guerillaführer an, ihre erste Politisierung in eben diesen Bibelkreisen erfahren zu haben. Auch in Argentinien hatten die Montoneros und an­dere Guerillabewegungen katholische Wurzeln.

Die kirchliche Nomenklatura Argentiniens sah diese Entwic­klung – mitten im Kalten Krieg – als bedrohliche kommunistische Unterwanderung an. Sowohl von Rom als auch von den nationalen Bischofssitzen aus wurde sie entschieden bekämpft. Hinzu kam die argen­tinische Besonderheit des Peronismus, der sich nach dem Sturz Peróns in einen rechten und einen linken Flügel aufgespalten hatte, die schließlich die Waffen gegeneinander erhoben.

Als Bergoglio am 31. Juli 1973, gerade einmal 36 Jahre alt und erst seit sieben Jahren Priester, zum Provinzial der argentini­schen Jesuiten ernannt wurde, gehörte er eindeutig dem konservativen Flügel an. Er war Mitglied der „Guardia de Hier­ro“ [‘Eiserne Garde’], einer rechtsperonistischen Gruppe, in deren Reihen sich sowohl bekennende Atheisten als auch glühende Katholiken fanden und die sich in ihrem Namen auf eine paramilitärische, nationalistische und antisemitische Gruppe in Rumänien bezog.

In einem Bericht des argenti­nischen Geheimdienstes Side aus dem Jahr seiner Ernennung wird behauptet, Bergoglio habe sein Amt mit dem Vorsatz angetreten, „linke Jesuiten“ zu bekämpfen. Ob diese Behauptung glaubwürdig ist, darf allerdings bezweifelt werden. Der Verdacht jedoch, auch Bergoglio könnte seine Händen während der Diktatur in Blut getaucht haben, war (zumindest auf den ersten Blick) nicht leichthin abzutun.

Die zweite Anschuldigung bezieht sich auf Bergoglios Rolle während des systematischen Raubs von in der Gefangenschaft geborenen Kindern. Er habe von diesem Verbrechen – dem einzigen übrigens, das zu allen Zeiten in Argentinien jus­tiziabel war und von keiner Am­nestieregelung erfasst wurde – weit früher Kenntnis gehabt, als er später habe zugeben wollen. Er habe sich den verzweifelten Angehörigen gegenüber kalt und abweisend verhalten, nichts getan, um dem unmen­schlichen Treiben Einhalt zu gebieten und sei möglicher­weise sogar ein stiller Parteigänger dieser Art des „antisub­versiven Kampfes“ gewesen.

Auch in dieser Hinsicht ist die Geschichte der argentinischen Kirche während der Diktatur nicht dazu angetan, den Verdacht vor der Zeit zu entkräften. Denn es ist wahrscheinlich, dass viele konservative Kirchenfürsten den Raub von Kindern (angeblich oder tatsächlich) „linker“ Eltern als Akt der Barmherzigkeit ansahen, als „Rettung unschuldiger Seelen“ vor dem verderblichen Einfluss ihrer „teuflischen“ Erzeuger.

In Spanien waren katholische Einrichtungen noch Jahre nach Francos Tod hauptverantwort­lich für einen vergleichbaren, systematischen „Kinderdieb­stahl“, auch wenn die Eltern dort nicht, wie in Argentinien, ermordet, sondern „nur“ über das Schicksal ihrer Kinder getäuscht wurden.

Was also ist von diesen Vorwürfen zu halten, die mit gleicher Vehemenz erhoben wie be­stritten werden? Sie konkretisieren sich im Wesentlichen an zwei Fällen:

 

Fall 1: Die Entführung der Jesuiten Orlando Yorio und Francisco Jalics

Orlando Yorio und Francisco Jalics gehörten während der siebziger Jahre dem Orden der Jesuiten an. Sie waren zwei jener Geistlichen, die, beeinflusst durch die Theologie der Befreiung und die Beschlüsse von Medellín, die bisherige soziale Rolle ihrer Kirche und ihres Ordens mit Unwillen sahen.

In ihren Augen war die Erlösung von Armut, Unrecht und Elend nichts, was auf das Jenseits verschoben werden durfte, sondern die Aufgabe eines jeden aufrechten Christen im Hier und Jetzt. Beide engagierten sich gemeinsam mit anderen Glaubensbrüdern als Katecheten (Religionslehrer außerhalb offizieller Bildungseinrich­tungen) in einem Armenviertel von Buenos Aires namens Bajo Flores.

Am 24. Mai 1976 wurden sie von einem Greifkommando des Militärs verschleppt. Sechs Monate lang folterte man sie u.a. in der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA), dem größten und berüchtigten Folterge­fängnis der Marine. Schließlich warf man sie, betäubt und halbnackt, aber noch lebend, wie Unrat aus einem Lieferwagen auf ein Feld. Jalics floh zuerst in die USA, dann nach Deutschland.

Yorio lebte bis zu seinem Tod im Jahre 2000 im Exil in Uruguay. Beide beschuldigten Zeit ihres Lebens ihren ehemaligen Provinzial Jorge Mario Bergoglio, sie nicht nur nicht geschützt, sondern absichtlich den Militärs ausgeliefert zu haben.

Auch in ihren schriftlichen Lebenserinnerungen wiederholten sie diesen Vorwurf, der eine verklausuliert, der andere direkt. 2005 wurde Bergoglio in Argentinien wegen seiner möglichen Verstrickung in den Ent­führungsfall offiziell angeklagt. Zum Prozess kam es allerdings nie.

Jalics und Yorio waren in den Jahren unmittelbar vor der Diktatur innerhalb ihres Ordens alles andere als wohlgelitten gewesen. Zahlreiche böswillige Gerüchte zirkulierten über die „marxistischen Armenpriester“: Sie sprächen „sonderbare Gebete“, lebten mit Frauen zusammen, seien im Grunde Häretiker und unterhielten Kontakte zur Guerilla.

Nach dem Putsch der Militärs im März 1976 wurden solche üblen Nachreden für die beiden Geistlichen lebensbedrohlich.

Auch Bergoglio war dies bewusst. In einem Interview, das er nach seiner Wahl zum Papst gab und in dem er erstmals wie­der auf Jalics und Yorio zu sprechen kam, sagte er: „Ich habe nie geglaubt, dass sie mit ‘subversiven Aktivitäten’ zu tun hatten, wie ihre Verfolger behaupteten. Und das hatten sie auch wirklich nicht. Aber durch ihre Kontakte zu einigen Priestern in den Armenviertel waren sie zu exponiert für die damalige Paranoia und Hexenjagd“.

Mehrfach wurden Jalics und Yorio bei Bergoglio vorstellig, um ihn zu bitten, den bedrohlichen Gerüchten entschiedener entgegenzutreten.

Der habe ihnen das auch zugesichert, behaupteten sie, in Wahrheit aber habe er in or­dens- und kircheninternen Schreiben die Gerüchte als Tatsachen verbreitet, um sie aus dem Orden zu drängen.

Horacio Verbitsky, Argenti­niens bekanntester investiga­tiver Journalist und ein profunder Kenner der argentinischen Kirchengeschichte, hat ein Dokument entdeckt (und veröffentlicht), das beweist, dass Ber­goglio selbst nach der Freilassung von Yorio und Jalics noch die alten Vorwürfe gegen sie wiederholte, um zu verhindern, dass sie wieder innerhalb der Kirche Fuß fassen konnten.

 

Aber genügt das alles, um ihm ein stillschweigendes Mordkomplott zu unterstellen?

Nichts beweist, dass Bergoglio vorgehabt haben könnte, die Schergen der Junta die „schmutzige Arbeit“ tun zu lassen. Im Gegenteil: Er bezahlte Jalics die Flucht nach Europa, und auch an der Behauptung, Bergoglio habe nichts getan, um die beiden Entführten frei zu bekommen, sind Zweifel angebracht. Denn nur einen Monat, nachdem ihre Peiniger Jalics und Yorio auf dem Feld abgeladen hatten, erhielt Admiral Massera, eine der drei Spitzen der Junta, in einer feierlichen Zeremonie die Ehrendoktorwürde der Universidad del Sal­vador (Usal) – der Universität der Jesuiten.

Zwei Jahre zuvor hatte Bergo­glio die Universität an einen zivilen Trägerverein übergeben, dem allerdings zwei seiner Freunde aus der „Guardia de Hierro“ vorstanden. Sein Einfluss auf die Uni war also gesichert. Bergoglio hatte im Sommer 1976 nach eigenen Angaben zweimal mit Massera und General Videla gesprochen.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die durch nichts zu rechtfertigende Ehrung des berüchtigten Schlächters Massera ein „Dankeschön“ gewesen sein könnte, eine Art grausiges Geschäft: Titel gegen Leben. Denn man darf bezweifeln, dass die beiden exponierten und verleumdeten Jesuiten ohne die Fürsprache einer mächtigen Institution über­haupt eine Überlebenschance gehabt hätten. Bergoglio hat dieser Darstellung nie widersprochen, wohl aber seinen Einfluss heruntergespielt. Benimmt sich so ein Mörder?

Weit eher meint man bei Ansicht der Quellen einen ehrgeizigen und karrierehungrigen Geistlichen vor sich zu haben, der seinen Kirchenoberen zeigen will, dass er die ihm gestellten Aufgaben mit Entschlossenheit bewältigen kann. Dass er „Ordnung schaffen kann in seinem Laden“.

„In den siebziger Jahren“, schreibt der Kirchenhistoriker Martín Obregón, „verfolgte die katholische Hierarchie [in Ar­gentinien] das Ziel, die Kirche nach konservativen Richtlinien neu zu organisieren. Und das hieß: Disziplinierung der radikalsten Sektoren des katholischen Feldes“.

Obregón spricht von einem dramatischen „Rechtsschwenk“ und stellt fest, Disziplinierung habe nicht selten die „Isolierung [...] und den Ausschluss“ missliebiger Mitglieder bedeutet.

Bergoglio war in dieser Hinsicht ganz his masters voice.

Er schreckte weder vor interner Denunziation noch vor Heuchelei zurück, um seine Ziele zu erreichen, und nutzte die ostentative Abgrenzung von in Ungnade gefallenen Kollegen, um sich selbst mehr Profil zu geben. Zu anderen Zeiten wäre ein solches Verhalten, so traurig das sein mag, (auch) innerhalb kirchlicher Einrichtungen nichts Besonderes gewesen.

Und strafbar ist es auch nicht. Bergoglio, kein Freund linker Theologie, arbeitete gewisser­maßen nur mit den „üblichen Mitteln“, um seine Karriere innerhalb der Kirche voranzubrin­gen. Er tat dies auch noch, als diese Mittel plötzlich weit gefährlicher (für andere) geworden waren, als er selbst es viel­leicht zunächst wahrhaben wollte.

Sein schließliches Handeln mag nicht zuletzt dem Schrecken über diesen Wandel geschuldet gewesen sein. Er wollte Jalics und Yorio sicher aus dem Orden drängen. Tot sehen aber wollte er sie nicht.

 

Fall 2: Der Raub der kleinen Ana de la Cuadra

Estela de la Cuadra ist die Tochter einer Legende der argentini

schen Menschenrechtsbewe­gung: Alicia de la Cuadra, genannt „Licha“, war eine der drei Gründerinnen der Abuelas de Plaza de Mayo [‘Großmütter des Mai-Platzes’], einer Organisation, die sich bis heute mit großem Engagement bemüht, die schätzungsweise 500 Kinder wiederzufinden und ihren wahren Familien zuzuführen, die während der Diktatur zur Zwangsadoption freigegeben worden waren.

Auf die Familie de la Cuadra war die blutige Faust der Diktatur mit besonderer Gewalt niedergegangen: sieben (!) Familienmitglieder „verschwanden“, un­ter ihnen Estelas Ehemann Gus­tavo Fraire und ihr Bruder Ro­berto José.

Am 23. Februar 1977 entführten die Militärs ihre Schwester Elena und deren Partner Héctor Baratti. Elena war im fünften Monat schwanger.

Am 7. Juli erhielt die Familie erste Nachrichten, dass Elena im Foltergefängnis des Fünften Kommissariats von La Plata ei­ne Tochter zur Welt gebracht habe: Ana. Von ihr fehlt bis heute jede Spur.

Über jesuitische Kontakte in Italien gelang es Alicia und ihrem Mann, eine Audienz bei Bergoglio zu erhalten. Der versprach zu helfen und bat den Bischof von La Plata, Mario Pi­qui, sich bei den zuständigen Stellen nach dem Schicksal von Elena und Ana zu erkundigen. Was dieser auch tat.

In einem Schreiben, das er an die Familie de la Cuadra sandte, bestätigte er die Geburt Anas. Die weiteren Informationen waren grausam: Das Baby werde „in einer anständigen Fa­milie“ aufwachsen. Ihrer Mutter könne „niemand mehr helfen“. All dies sei nun „nicht mehr rückgängig zu machen“. Elena war also tot, und die kleine Ana verschwunden.

Im Rahmen eines großen Prozesses zum systematischen Kindsraub während der Diktatur erhob Estela de la Cuadra als Zeugin im Mai 2011 schwere Vorwürfe gegen Bergoglio. Er habe behauptet, erst nach dem Ende der Diktatur vom Diebstahl der Kinder erfahren zu ha­ben. Das sei nachweislich falsch: „Bergoglio hat im Prozess um die ESMA behauptet, er habe erst vor zehn Jahre von verschwundenen Kindern erfahren. Ich finde es unmoralisch, so etwas zu sagen. Er verspottet die Mühen dieser Män­ner und Frauen. Es ist nun schon das dritte Mal, dass er so etwas [...] sagt. Wie beabsichtigen Sie, mit Bergoglio um­zugehen? Er hat sich in der An­gelegenheit um Ana engagiert, aber was ist dabei herausgekommen? Welche Schritte hat er unternommen? Was ist mit Ana geschehen? Wäre es nicht angemessen, dass Bergoglio auf diese Fragen antwortet?“.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Im gleichen Jahr wurde Bergoglio tatsächlich er­neut als Zeuge vorgeladen.

Aber auch ohne die scharfe An­klage von Estela de la Cuadra lässt sich Bergoglios Aussage, er habe erst lange nach der Diktatur vom systematischen Kindsraub erfahren, als Schutzbehauptung entlarven. Selbst im berühmten Nunca más-Bericht von 1984, der erstmals einen Teil der Verbrechen der Junta einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte, findet sich ein kurzes Kapitel über Kindsraub. Schon 1979 jedoch hatten sich die Abuelas de Plaza de Mayo mit einem umfassenden Dossier, das Fälle verschwundener Kinder dokumentierte, an die kirchlichen Autoritäten gewandt. Kardinal Raúl Primatesta hatte der Organisation daraufhin zurückgeschrieben: „Wir sind über ihre Situation informiert [...]. Wir würden ihnen gerne helfen, ihre Enkel zurückzubekommen, aber sie kennen die begrenzten Hand­lungsmöglichkeiten der kirchlichen Hierarchie. Wir werden am Grabe der Apostel für sie beten, für sie und alle, die in ihrer Situation sind.“

Warum Bergoglio mit Blick auf den Diebstahl der Kinder und vor allem auf das Verschwinden von Ana de la Cuadra die Unwahrheit gesagt hat, weiß wohl nur er selber. Aus einer Schutzbehauptung aber eine stille Parteinahme zu konstruieren, ist un­zulässig.

 

Schlussfolgerungen

Viele von Bergoglios Aussagen über seine Rolle während der Diktatur sind widersprüchlich und wirken zuweilen satt­sam bekannt. Seine Behauptung etwa, er habe vielen Verfolgten der Diktatur das Leben gerettet, indem er sie im Cole­gio Máximo der Jesuiten versteckt oder außer Landes gebracht habe, ist zwar mögli­cherweise zutreffend – auch andere Zeugen bestätigen dies – lässt den Betrachter aber doch mit Misstrauen zurück.

Denn der erfahrene Kirchenführer Bergoglio, der sich an andere Ereignissen seines Lebens mit Präzision und Details erinnern kann, bringt es nicht fertig, sich auch nur einen einzigen Namen eines der von ihm angeblich Geretteten ins Gedächtnis zu rufen.

Auch andere Rechtfertigungsversuche Bergoglios klingen seltsam vertraut: Zum Beispiel, dass er zu jung und einflusslos gewesen sei, um sich ernsthaft der Verfolgung entgegenstellen zu können. Gleichzeitig leugnet er nicht, zweimal mit den Spitzen der Junta, General Vi­dela und Admiral Massera, zusammengetroffen zu sei, und deutet zumindest an, diese Treffen könnten Einfluss auf das Überleben der zwei entführten Jesuiten gehabt haben.

Graciela Yorio, die Schwester Orlandos, fragte 2013 bissig in einem Interview: „Wenn er so jung war und keine Kontakte hatte, wieso konnte er dann Massera und Videla treffen?“.

Aber auch die Aussagen seiner Ankläger sind keineswegs frei von Widersprüchen.

Die Vorwürfe von Yorio und Ja­lics beispielsweise verschärften sich im Laufe ihres Lebens. An Überzeugungskraft gewannen sie dadurch nicht. Und noch andere Ungereimtheiten lassen sich finden. So will Jalics „belastende Dokumente“ (vor allem) gegen Bergoglio 1980 verbrannt (!) haben, um, wie er sagte, seine „Seele zu erleichtern“. Warum sollte der Verfolgte eines Regimes, der sich ins Exil retten konnte, belastendes Ma­terial verbrennen, solange das Regime noch an der Macht ist?

War nicht zu erwarten, dass er es nach einem Sturz der Junta gut würde brauchen können?

Und wie „erleichtert“ ist die Seele eines Menschen, der noch Jahrzehnte später dieselben Vorwürfe wiederholt, die er mit Hilfe der vernichteten Dokumente doch angeblich so leicht hätte beweisen können?

Ebenso wenig ist zu bestreiten, dass sich in Argentinien politische Animositäten in die Suche nach der Wahrheit über Ber­goglio mischen. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und der ehemalige Erzbischof von Buenos Aires waren (und sind) nicht die besten Freunde. Horacio Verbitsky, dessen Vorwürfe gegen Bergoglio von der internationalen Presse breit rezipiert wurden, ist einerseits, wie erwähnt, ein anerkannter in­vestigativer Journalist und Kirchenkenner, andererseits aber auch ein entschiedener Parteigänger der Kirchners.

So fiel es Bergoglio relativ leicht, seine Anschuldigungen als „politisches Ränkespiel“ abzutun.

Unter Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires entschuldigte sich die katholische Kirche Argentiniens öffentlich für ihre Rolle während der Diktatur.

Gleichzeitig aber weigerte er sich hartnäckig, als Zeuge vor Gericht auszusagen.

Als er es 2010 schließlich doch tat, war die Enttäuschung der Men­schenrechtsorganisatio­nen über seine unverbindlichen Aussagen groß.

Wollte man die bisherigen Ergebnisse zusammenführen, so müsste man wohl sagen: Schuld im Sinne verbrecherischen Handelns trägt Jorge Mario Bergoglio mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. An seinen Händen klebt kein Blut. Verantwortung aber trägt er ohne allen Zweifel: seiner einflussreichen Position, seiner Verantwortung für andere und nichts zuletzt seines selbstformulier­ten christlichen Auftrags wegen.

In Chile benahm sich die katholische Kirchenspitze nach dem Putsch Augusto Pinochets nur drei Jahre zuvor anders als in Argentinien: Sie stellte sich klar auf die Seite der Opfer und prangerte die Menschen­rechtsverletzungen der Diktatur an. Verantwortung ist trotzdem etwas, das sich nur schwer messen oder beurteilen lässt.

Auch auf moralischer Ebene sollten Nachgeborene sich großer Vorsicht befleißigen, wenn sie einzuschätzen versuchen, inwieweit ein einzelner Mensch in einer Situation mörderischer Gewalt seiner Verantwortung gerecht wurde. Die Berufung zum selbstlosen, mutigen „Helden“ ist nur wenigen gegeben.

Die Unterstützung der katholischen Hierarchie Argentiniens für eine der blutgierigsten Diktaturen Lateinamerikas steht dabei außer Frage. Die Schuld und Verstrickung vieler argen­tinischer Kirchenführer in die Verbrechen der Junta ist um ein Vielfaches größer und eindeutiger als alles, was Bergoglio vorgeworfen werden konnte.

„Es ist unmöglich“, schreibt der Historiker José María Ghio, „das Ausmaß und die Tiefe der Repression in Argentinien zu verstehen, wenn man als entscheidenden Faktor deren Legitimation durch die Mehrheit der Kirche, vor allem der Militärgeist­lichkeit, außer acht lässt.

Sie war ein ‘Rechtfertigungsapparat’ für den Völkermord“. Die Spitzen der Junta gaben sich ihrerseits große Mühe, ihre Frömmigkeit und Kirchentreue ideologisch herauszustellen.

Dass es Einflussmöglichkeiten gab, hat Bergoglios eigenes Handeln bewiesen. Er war, so gewinnt man den Eindruck, ein im oben erläuterten Sinne weitgehend schuldloser Mensch innerhalb einer zutiefst schuldhaften Organisation.

Er war aber gleichzeitig nicht bereit, seine Karriereaussichten und möglicherweise seine Sicherheit zu gefährden, um sich entschiedener der tobenden Unmenschlichkeit der Diktatur entgegenzustellen. Dass seine Sicherheit bei einem solchen Handeln, trotz seines hohen Amtes, gefährdet gewesen wä­re, steht außer Frage: Gleich zwei kritische Bischöfe haben die Schlächter der Junta mit ho­her Wahrscheinlichkeit auf dem Gewissen. Gleichzeitig jedoch war ein hoher Kirchenführer, wie der Lateinamerikahistoriker Stephan Ruderer anmerkt, in ei­nem Regime, das sich als katholisch darstellte, grundsätzlich geschützter als ein x-beliebiger Staatsbürger.

Was nun weiter geschieht, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist, dass die Diskussionen über Bergoglios Rolle während der Diktatur abebben und sich das übliche Schweigen über die grausige Vergangenheit der katholischen Kirche Argentiniens während der Diktatur legen wird - wie immer. Jorge Mario Ber­goglio wird sich mehr und mehr in Papst Franziskus verwandeln und damit, zumindest für weite Teile der katholischen Öffentlichkeit, im Grunde keine Geschichte und persönliche Vita mehr haben.

Dabei böten die neuerlich aufgeflammten Diskussionen eine Möglichkeit (vielleicht auch für Bergoglio persönlich) sich offen und öffentlich dieser Vergangenheit zu stellen und viel­leicht für Konsequenzen zu sorgen, die die Struktur und Ausrichtung der Kirche insgesamt betreffen müssten.

Selbst eine jener sonst so unverbindlichen symbolhaften Anerkennungen schuldhafter Verstrickungen der eigenen Institution, gesprochen von einem Beteiligten auf dem Stuhl Petri, wäre ein Anfang.

Denn in Argentinien könnte sie die Aufarbeitung der Vergangenheit der Kirche während der Diktatur beschleunigen.

Sie steht dort noch immer ganz am Anfang. Wahrscheinlich aber ist nicht einmal dies.

 

M. Baxmeyer

 

Anm. d. Red.:

Zum Thema siehe auch nebenstehenden Artikel „Franziskus Homophobicus. Der neue Papst über Frauen und Homosexuelle“, in dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 379, Mai 2013, www.graswurzel.net