Wohin treibt der »demokratische Kapitalismus«?

Wolfgang Streecks Zeit- und Krisendiagnose

Seit dem Ausbruch der Großen Krise 2008ff. befinden sich die kapitalistischen Metropolen, die die weltwirtschaftliche Entwicklung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt hatten, im Krisenmodus. In Europa verschärft eine institutionell verankerte Austeritätspolitik die Krisenkonstellation und bleibt kurzatmig auf bloßen Zeitgewinn ausgerichtet. Der Umbruch in der US-Haushaltspolitik, mit Einsparungen und Mehreinnahmen einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, lässt eine neue weltwirtschaftliche Wachstumskonstellation weiterhin fragil erscheinen. Und in Japan zeitigen massive Konjunkturprogramme, Niedrigzinspolitik und eine Strategie des billigen Geldes keinen durchschlagenden Erfolg. Im Gegenteil, die durch die Interventionen der Notenbank beschleunigte Tendenz zur Abwertung des Yen verschärfte das Krisenszenario der Globalökonomie. Ein drohender Abwertungswettlauf würde für alle um die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit bemühten Metropolen Nachteile bringen. Ein Ende der Großen Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht in Sicht. Ein zeitdiagnostischer Blick von der aktuellen weltgeschichtlichen »Passhöhe«1 des Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hat unter kritischen Sozialwissenschaftlern produktive Unruhe ausgelöst.2 Die »vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus« kommt nach Streeck an ein Ende und der drohende Super-Gau der Euro-Zone und der europäischen Einigung insgesamt zwingt die Kapitalismuskritiker zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der seit Jahren anhaltenden Krisenentwicklung und deren gesellschaftspolitischen Deutungen.

 

Streecks Zeitdiagnose

Streeck geht von einem säkularen Prozess der Liberalisierung aus – »einer von keiner Theorie vorhergesehenen machtvollen Wiederkehr freier, selbstregulierender Märkte auf breitester Front, ohne Vorbild in der Geschichte der politischen Ökonomie des modernen Kapitalismus ..., der in der derzeitigen Krise des Weltfinanzsystems und der Staatsfinanzen seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte« (46). Das krisenhafte Auseinanderbrechen von Ökonomie und Politik des demokratischen Kapitalismus, wie wir ihn bislang kannten, markiert den aktuellen geschichtlichen Knotenpunkt. Wir teilen diese Verortung von Streeck, »dass wir anders als in den 1970er Jahren jetzt womöglich tatsächlich in der Spätzeit der politisch-ökonomischen Formation der Nachkriegsperiode leben« (27).

Ausgangspunkt von Streecks »historischer Narration« und weitgespannter Analyse der Finanz- und Fiskalkrise des gegenwärtigen Kapitalismus sind die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, die »das Ende einer Ära und den Anfang einer anderen markieren, ... mittlerweile eine Gemeinplatz, den ich keine Veranlassung habe zu bezweifeln« (10).3 Damit wird zu Recht die auch in der politischen Linken immer noch verbreitete Fixierung auf 1989 als vermeintlicher Epochenzäsur relativiert und zurechtgerückt. Denn die sozialökonomischen Triebkräfte für die Krisenkonstellation 2008ff. haben ihren Ursprung in den 1970er Jahren. Am Beginn des Zusammenhangs von Finanz-, Fiskal- und Wachstumskrise steht »die langgezogene Wende vom Sozialkapitalismus der Nachkriegszeit zum Neoliberalismus des beginnenden 21. Jahrhunderts« (19), für Streeck ein Beleg dafür, »wie lange gesellschaftliche Ursachen brauchen, um gesellschaftliche Wirkungen hervorzubringen« (14). Eine solche Longue durée, die die französische Annales-Schule im 20. Jahrhundert als sozialwissenschaftliche Innovation in eine materialistische Geschichtsbetrachtung eingebracht hat, liegt im Charakter des Kapitalismus selbst begründet. Dieser gerät bei Veränderungen in den Produktivkräften und Produktionsstrukturen nicht gleich in die Krise, sondern ist in der Lage, diese für sich kleinzuarbeiten und zu inkorporieren. Auf diese Logik der kapitalistischen Entwicklung hatte schon Marx in der Kritik der politischen Ökonomie abgehoben: »Die Abweichungen zeigen sich teils in oberflächlichen Oszillationen, die sich ausgleichen in kurzer Frist, teils in einer allmählichen Häufung von Abweichungen (divergences), die entweder zu einer Krise führen, zu einer gewaltsamen, scheinbaren Reduktion auf die alten Verhältnisse, oder doch erst allmählich als Änderung der Bedingungen anerkannt werden und sich durchsetzen.« (MEW 26.3: 507)

Die neomarxistischen und kapitalismuskritischen Krisentheo­rien der 1970er Jahre waren von der These ausgegangen, dass »die Bruchstelle des Kapitalismus nicht mehr in seiner Wirtschaft lag, sondern in seiner Politik und Gesellschaft: auf der Seite nicht der Ökonomie, sondern der Demokratie, nicht des Kapitals, sondern der Arbeit, und nicht bei der System-, sondern bei der Sozialintegration« (39).4 Nach Streeck »kam es genau umgekehrt: Nicht die Massen waren es, die dem Kapitalismus der Nachkriegszeit die Gefolgschaft versagten und ihm dadurch ein Ende setzten, sondern das Kapital in Gestalt seiner Organisation, Organisatoren und Eigentümer.« (41) In der Reformulierung der Krisentheorie der älteren Kritischen Theorie durch Jürgen Habermas und Claus Offe als »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus« (1973) sieht Streeck die ökonomische Analyse des Kapitals in seinem Klassen- und Akteurshandeln unterbelichtet und auf einen technokratischen Krisenbegriff verengt. So tritt das Raubtier Kapitalismus bei Streeck nicht erst im ausgebildeten Finanzmarktkapitalismus, also am Lebensabend des Altbundeskanzlers und Weltökonomen Helmut Schmidt in Aktion, sondern sozusagen schon während dessen besten Jahren: »Da nämlich erweist sich das Kapital als Spieler statt als Spielzeug – als Raub- statt als Nutztier, dem das institutionelle Gerüst der ›sozialen Marktwirtschaft‹ nach 1945 als zu eng gewordener Käfig erschien, aus dem es immer dringlicher glaubte sich befreien zu müssen.« (44)

Der Käfig besteht für Streeck in einem »profit squeeze« (Profitklemme) und einem »Übermut der Massen«, der zu einem »Anspruchsdenken« bei den Lohanhängigen führte, die unter sozialdemokratischer Politik »die Grenzen der Belastbarkeit der Wirtschaft erproben wollten« und immer mehr hinausschoben (vgl. 54).5 Das Drohpotenzial »Arbeitslosigkeit« wurde durch Ausweitung der Kaufkraft und damit Inflation zu kompensieren versucht. Das Kapital antwortete mit einem »Investitionsstreik« und einer Strategie der Liberalisierung – der Zurückdrängung des Interventionsstaates und der Rückkehr zum Markt als primärem wirtschaftlichen Allokationsmechanismus. Das war »von heute aus betrachtet atemberaubend erfolgreich und überraschte keineswegs nur die Kritische Theorie« (56) und konterkarierte damit bislang dominierende Zeitdiagnosen: »Weber, Schumpeter und Keynes hatten allesamt, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Wertungen, dem Kapitalismus freier Märkte für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein sanftes oder weniger sanftes Ende vorhergesagt. Es lohnt sich auch, daran zu erinnern, dass Polanyi in The Great Transformation 1944 wie selbstverständlich davon ausging, dass der liberale Kapitalismus Geschichte sei und nicht wieder zurückkommen werde.« (ebd.)

Diese Prognose bezog damals ihre Plausibilität auch aus dem Umstand, dass der Selbstzerstörungsprozess des liberalen Kapitalismus in der »Great Transformation« der katastrophischen Zwischenkriegszeit zugleich einherging mit anti- und nachkapitalistischen Krisenlösungen: »Im Faschismus und Staatssozialismus wie auch im New Deal als den drei postkapitalistischen Gesellschaftssystemen (Herv. J.B./C.L.) war der Primat der Politik an die Stelle des Primats der Ökonomie getreten und hatte die inhärente Krisenhaftigkeit des ursprünglichen, desorganisiert-chaotischen Wettbewerbskapitalismus überwunden.« (38)

Aber für die gegenwärtige Krisenkonstellation kann nicht einfach umstandslos von einer Funktionstüchtigkeit der Polanyischen Doppelbewegung – »die Gesellschaft schützte sich selbst gegen die einem selbstregulierenden Marktsystem innewohnenden Gefahren« (Polanyi 1944) – ausgegangen werden. Da ist Streeck weitaus skeptischer: »Die Zukunft, die heute in Europa bevorsteht, ist die einer säkularen Implosion des Gesellschaftsvertrages der kapitalistischen Demokratie im Übergang zu einem auf fiskalische Disziplin verpflichteten internationalen Konsolidierungsstaat. Dieser macht es nötig, zwischen Wirtschaft und Politik eine chinesische Mauer – im Jargon der Finanzwirtschaft: eine fire wall – einzuziehen, die es den Märkten gestattet, ihre Version von Gerechtigkeit unbehelligt von diskretionären politischen Eingriffen zur Geltung kommen zu lassen.« (164) Streeck spannt mithin seinen Analysebogen von der Rückkehr entgrenzter Märkte über die finanzmarktkapitalistische Transformation und Unterordnung des Staates bis hin zur Implosion der Strukturen demokratischer Willensbildung.

Der harte Kern der langen Wende zum Neoliberalismus besteht in dem Übergang von immer mehr Unternehmen, Industrien und Verbänden zur Liberalisierung des Kapitalismus Anfang der 1970er Jahre. Streeck streift die Veränderung der gesellschaftlichen Betriebsweise (Übergang zur flexiblen Massenproduktion, Qualifikation des Arbeitskörpers) sowie den Übergang vom Managerkapitalismus zur Herrschaft des Shareholder value und konstatiert den bemerkenswert schwachen politisch-sozialen Widerstand, aber analytisch hält er sich überwiegend bei dem »politischen Flankenschutz« des Ausbruchs aus dem keynesianischen Käfig auf (vgl. 60). Diese Schwäche prägt die gesamte weitere Argumentation.

Die Verwandlung der Kapitalmärkte in Märkte für Unternehmenskontrolle trieb die Herrschaft der Vermögensbesitzer und ihrer Verwaltungsgesellschaften voran, die von Keynes prognostizierte Selbstaufhebung der Charaktermaske des Rentiers schlägt um in eine neue Herrschaftsform des Kapitalismus. Die Explosion der Inflationsraten und die anlaufende Welle der Staatsverschuldung waren bloße Konsequenzen einer unzureichenden Wirtschaftssteuerung und einer Umverteilungspolitik, die nachfolgend das hegemoniale Politik- und Herrschaftsmuster bestimmte. Joan Robinson verwies schon Ende der 1960er Jahre zu Recht darauf, dass der Managerkapitalismus hinter dem Rücken der Akteure in ein neues Entwicklungsstadium hinübergerutscht sei; der Nettoertrag der reifen kapitalistischen Gesellschaften gehört mehr und mehr den Aktionären und den darauf aufbauenden Verwertungsfonds. Was technischer Fortschritt, Kapitalakkumulation, Lohnarbeit und Geschäftstüchtigkeit an Vermögen schaffen, fällt einer schmalen Schicht von Rentiers in den Schoß. Die Umwälzung zur Lean Production, die massiven Veränderungen des Qualifikationspotenzials und die Ausfächerung der sozial-kulturellen Dienstleistungen schwächen – so sehr sie das schon im Fordismus herangereifte Subjektivitätspotenzial in der Lohnarbeit weitertreiben – unter den Rahmenbedingungen eines neoliberalen Kapitalismus den sozialen Widerstand, und die Versuche einer Änderung der Verteilungspolitik samt einem Ausbau der Lebensverhältnisse (Verkürzung der Arbeitszeit) sowie einer demokratischen Investitionssteuerung bleiben auf der Strecke. Die mögliche Reformperspektive eines reifen Kapitalismus scheitert an einem Demokratieversagen: »Versagt haben Demokratie und demokratische Politik, als sie versäumt haben, die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära als solche zu erkennen und sich ihr zu widersetzen.« (111) Nun weiß auch Streeck, dass es hier nicht um einen Ausfall der Erkenntnisleistung geht, sondern dass ein in Widersprüchen verstricktes gesellschaftliches Bündnis im Widerstand gegen die von den Vermögensbesitzern ausgehende Transformation in die Defensive geraten ist.

 

Streecks politische Krisen-Triade

Die Entwicklung des Ausbruchs des Kapitals aus seiner Nachkriegsregulierung mündet letztlich in einer dreifachen Krise: Bankenkrise, Krise der Staatsfinanzen und Krise der Realökonomie. Für Streeck markiert dies eine »Krise neuen Typs«, die niemand vorhergesehen hat, »nicht in den 1970er, aber auch nicht in den 1990er Jahren« (29), und die mit einer folgenschweren Entkoppelung von Kapitalismus und Demokratie einhergeht. Diesen neuartigen Krisenverlauf fasst Streeck in eine Triade im Wechsel- und Spannungsverhältnis von Ökonomie und Politik, die jeweils drei charakteristische Konstellationen hervorbringen: Steuerstaat – Schuldenstaat – Konsolidierungsstaat.

Am Anfang steht die »Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus«, in der die dem Steuerstaat zugrundeliegenden Verteilungsprinzipien von ausgleichender sozialer Gerechtigkeit mit Transfers und Soziallohn einerseits und meritokratischer Marktgerechtigkeit andererseits zugunsten der letzteren verschoben wurden. Und das Zurückdrängen der Inflation zum Ende der 1970er Jahre zielt auf die Sicherung der Vermögenswerte samt der entsprechenden Einkommen und nimmt steigende Arbeitslosigkeit in Kauf. Obwohl geschichtlich die Epoche des »Sozialkapitalismus« mit dem Einbruch der Massen in die Politik (Pietro Ingrao) einherging, war es nach Streeck gerade nicht ein Übermaß an demokratischen und sozialpolitischen Anforderungen der subalternen Klassen, die zu einer Krise des Steuerstaates führte. »Wenn es eine ›Anspruchsinflation‹ gegeben hat, durch welche die Staatsfinanzen in ein strukturelles Defizit geraten sind, dann hat diese bei den Oberschichten stattgefunden, deren Einkommen und Vermögen in den letzten 20 Jahren rapide gestiegen sind, nicht zuletzt aufgrund von Steuersenkungen zu ihren Gunsten, während Löhne und Sozialleistungen am unteren Rand der Gesellschaft stagnierten oder gar sanken« (111). Diese Unterminierung des Steuerstaates erweist sich zugleich als Geburtsstunde der gegenwärtigen Demokratieentleer­ung, die Wilhelm Heitmeyer und andere in ihrer Langzeitstudie »Deutsche Zustände« von 2002 bis 2011 analysiert haben. Und schon einmal wurde in der frühen Bundesrepublik vor einer Demokratiegefährdung gewarnt: »Wohin treibt die Bundesrepublik?« (Karl Jaspers 1966) Es ist die Resignation angesichts eines Aushungerns des Sozialstaats (»Starve the beast«), die insbesondere in den Unterschichten zu sinkender Wahlbeteiligung geführt hat – mit dem zynischen Ergebnis:»Die politische Resignation der Unterschichten schützt den Kapitalismus vor der Demokratie und stabilisiert die neoliberale Wende, auf die sie zurückgeht.« (90)

Die soziale Kompression der Einkommensverhältnisse in der Nachkriegsordnung, die dem Kapitalismus ein »goldenes Zeitalter« ermöglichte, konnte in den Hauptländern durch eine breite Koalition gesellschaftlicher Kräfte aufgesprengt werden; die Deregulierung der Märkte schlug sich in einer neuen Verteilungsordnung nieder; auf Grundlage der stark geschwächten Gewerkschaften können sich kleine Eliten den Großteil des  Einkommens aneignen; letztlich wird dadurch die sozialstaatliche Massendemokratie unterminiert, die auf meritokratischen Leistungs- und Gerechtigkeitsnormen beruhte.

In der Konsequenz dieser Deregulierung hat sich das Krisenpotenzial des Finanzmarktkapitalismus entwickelt und die Große Krise hat die neoliberale Utopie von den segensreichen Märkten blamiert. Aber mit der Blamage ist weder die Ökonomie stabilisiert, noch eine sozial gerechtere Verteilung etabliert worden. Und die Akteure in der Zivilgesellschaft und auf dem politischen Feld unterschätzen weiterhin das Krisenpotenzial.

 

Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat

Neben der öffentlichen Verschuldung erhalten im Zuge der Deregulierung von Kreditlinien und Finanzierungsformen auch die privaten Haushalte zunehmend Spielräume für eine weitergehende Verschuldung. Die Shareholderlogik führt zur Einrichtung eines Vermögens- und Verschuldungspotenzials bei den subalternen Klassen. Auch hier sieht Streeck eine »neue Stufe im Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie« (124). Denn diejenigen, »denen die staatliche Steuerpolitik erlaubt, privates Überschusskapital zu bilden«, suchen natürlich nach Anlagemöglichkeiten – »womit der Keynessche Rentier, der doch eigentlich einer politischen Euthanasie zum Opfer hätte fallen sollen, machtvoll in die Ökonomie zurückkehrt« (114). Auch das führt zu einer weiteren Verschärfung der Demokratiekrise. Denn im Schuldenstaat tritt »eine zweite Klasse von Anspruchsträgern und Ermächtigungsgebern neben (Herv. J.B./C.L.) die Bürgerschaft, die im demokratischen Steuerstaat und in der etablierten Demokratietheorie die einzige Referenzgruppe des modernen Staates gebildet hatte« (117). Der demokratische Willensbildungsprozess wird in seiner Konsistenz und Inklusion weiter fragmentiert. Die Citoyens spalten sich in »Staats- und Marktvolk« (Streeck).6

Das Ende dieser Triade bildet dann der Konsolidierungsstaat (141ff.), der neben der Finanzialisierung seiner nationalstaatlichen Austeritätspolitik auch noch im Zuge der zurückliegenden Marktöffnungsprozesse in Europa und angesichts der Eurokrise dazu beitragen soll, »das europäische Staatensystem und sein Verhältnis zur kapitalistischen Ökonomie neu zu formieren« (166).

Die Deregulierung der Finanzmärkte macht sich über die­se Zeitspanne hinweg als verstärkte Finanzialisierung auch des Staates durch Erodierung der (Lohn)Steuerbasis, eine Finanzkrise des Steuerstaates, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, PPP-Modelle, Konsolidierungsdruck und »Rekapitalisierung des Staates« geltend. Das strukturelle Defizit des Sozial- und Steuerstaates basierte darauf, dass die von den sozialstaatlichen Leistungen vor allem begünstigten Mittel- und Oberschichten sich der Beteiligung an einer angemessenen Finanzierung der öffentlichen Leistungen entzogen haben. Der Aufbau der öffentlichen Verschuldung ist die Konsequenz eines Funktionsproblems des modernen Staates, weil in einer Gesellschaft von Privateigentümern keine angemessene Finanzierung durchgesetzt werden konnte. Auf den wachsenden Widerspruch antworteten die wirtschaftlichen und politischen Eliten mit einer neoliberalen Umgestaltung. Eine große Reihe von gesellschaftlichen Regelsystemen wie Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Beschäftigung wurden in das System der Märkte zurückübertragen. Die fatalen Folgewirkungen dieser sozialen Einschnitte wurden unterschätzt und der Protest dagegen durch Spielräume der Verschuldung privater Haushalte zurückgedrängt. Die Ablösung der sozialen Bürgerrechte ist dabei nicht bloßes Demokratieversagen, sondern läuft auf die Zerstörung der demokratischen Bürgerbeteiligung hinaus. »Tatsächlich erweisen sich Auf-, Ab- und Wiederaufbau der öffentlichen Verschuldung als eng mit dem Sieg des Neoliberalismus verknüpft, der mit einer politischen Entmachtung der Massendemokratie einherging.« (84) Politisch erzeugte Geldillusionen, Auftürmen der Schuldenberge und Steuersenkungen ermöglichten diesen Rückbau sowie die Zerstörung der Massendemokratie.

In dieser von Streeck hermetisch angelegten Krisentriade, die alle Widersprüche und Brüche geschichtlicher Verläufe in eine geschlossene »negative Dialektik« zwängt, bleiben die ökonomischen Strukturveränderungen sowie die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse weitgehend ausgeblendet. Die Transformation der Massenproduktion zur flexiblen Fertigung, die damit verbundenen Veränderungen des Qualifikationspotenzials des gesamtgesellschaftlichen Arbeitskörpers und die Veränderungen der Unternehmenslandschaft spielen dabei so wenig eine Rolle wie industrielle Strukturbrüche, Überproduktion und der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. Der wachsende säkulare Kapitalüberschuss wird gestreift, aber die neuen Formen der Geldkapitalakkumulation, die ja ihren Entstehungsort u.a. in einer Beschleunigung des Kapitalumschlags, veränderten Lagerzyklen, Wertschöpfungsketten und Marktöffnungsprozessen haben, sind keiner Betrachtung wert. Logischerweise gibt es unter diesem Blickwinkel auch keine Kämpfe um die Verteilung von Arbeit, der Regulierung von Arbeitszeiten oder der Festlegung des Eintrittsalters für Altersrenten. Der Shopf loor in Industrie und tertiären Sektoren kommt in der Streeckschen Krisenanalyse nicht vor. Und da alle Veränderungen von industrieller Produktion, Finanzdienstleistungen und öffentlicher Dienstleistungen ausgeblendet wurden, vermag Streeck auch das Potenzial einer Auseinandersetzung um strukturpolitische Gestaltung letztlich nicht auszuloten. Das ist aber für eine angemessene Diagnose der Krisendimensionen auf europäischer Ebene unabdingbar.7

 

Super-Gau Europas

Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit kann längere Zeit durch die Expansion des öffentlichen und privaten Kredits in Bewegung gehalten werden; letztlich schlagen die drückenden sozialen Unterschiede dabei in eine chronische Wachstumsschwäche um. Deren Grundproblem wird von Streeck zwar benannt, aber zugleich zum unlösbaren Rätsel erklärt: » Ein schwieriges Problem für die ›Märkte‹ ist, dass die Kürzung von Ausgaben für das Staatsvolk, wenn sie zu weit getrieben wird, das Wachstum der nationalen Wirtschaft beeinträchtigen kann. Wachstum senkt die Schuldenquote und erleichtert Staaten die Bedienung ihrer Schulden. Stagnation oder gar Schrumpfung der Wirtschaft erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls. Die Aufgabe, Austerität mit Wachstum zu verbinden, ähnelt der Quadratur des Kreises; niemand weiß wirklich, wie sie zu bewältigen ist.« (128) Die Ausweglosigkeit ist Programm.

In diese Grundproblematik ordnen sich Streecks zentrale Thesen zum europäischen Konsolidierungsstaat ein: »Die Einführung des Euro als Vollendung des europäischen Binnenmarkts schuf mit dem Euroraum eine politische Jurisdiktion, die dem Ideal einer durch Politik von Politik befreiten Marktwirtschaft sehr nahe kommt: eine politische Ökonomie ohne Parlament und Regierung, zusammengesetzt zwar aus nach wie vor formal unabhängigen Nationalstaaten, die aber für immer auf eine eigene Währung und damit auf die Möglichkeit verzichtet haben, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Bürger das Mittel der Abwertung einzusetzen. Damit eliminierte der Euro ganz im Sinne des neoliberalen Programms eine wichtige Version politischer Willkür aus der Verfassung des gemeinsamen Marktes und legte Regierungen von Mitgliedstaaten, denen an Beschäftigung, Wohlstand und sozialer Sicherheit ihrer Bevölkerung gelegen ist, auf das neoliberale Instrumentarium einer inneren Abwertung fest: auf die Steigerung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit durch flexiblere Arbeitsmärkte, niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, eine höhere Erwerbsbeteiligung und einen auf Rekommodifizierung umgestellten Wohlfahrtsstaat.« (237)

Im sechsten Jahr der Krise gilt für Europa: Alle Länder sind von einem »normalen« Akkumulationsrhythmus weit entfernt. Die Schuldenkrise ist nicht im Griff. Die Länder driften ökonomisch und politisch weiter auseinander. Nicht zuletzt wegen der politisch-sozialen Verwerfungen in den eigentlichen Krisenländern kann ein Super-Gau nicht ausgeschlossen werden, d.h. eine Kettenreaktion in der Zerstörung der Integrationsstrukturen.

Streeck verkürzt die politische Entwicklung zu einer europäischen Einigung erheblich. Die Rolle nationalstaatlicher Wettbewerbsfähigkeit, wachsende soziale und politische Unterschiede in der EU und schließlich die autoritären Rettungsversuche der erreichten europäischen Einheit werden nicht eingehender auf ihre Widersprüche und Bruchlinien hin untersucht. In Zeiten der Wirtschaftsschwäche wird die industrielle Basis vieler europäischer Länder unter einer Ansteckungsgefahr nichtfinanzieller Art weiter deformiert: Während nämlich die deutsche Exportindustrie von der expandierenden Nachfrage der lateinamerikanischen und vor allem der asiatischen Märkte profitiert(e), sind italienische, portugiesische und spanische Exportunternehmen sehr viel stärker auf den stagnierenden europäischen Markt fokussiert – und leiden dementsprechend unter Ansteckung via europäischer Austerität.

Das Zauberwort einer möglichen Krisenlösung heißt »Strukturreformen«. Aber was bedeutet Strukturpolitik, nachdem unter der Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus der Akkumulationsprozess, vor allem in den USA, aber auch Großbritannien und etlichen kleineren Ländern, weg von der industriellen Produktion und auf eine Expansion des Bauwesens sowie von Finanzdienstleistungen gelenkt worden war – mit dem bösen Erwachen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas angesichts des fortgeschrittenen Deindustrialisierungsgrades ihrer Metropolen? Über den »Stand der Industrie« – in der Kritik der politischen Ökonomie allemal der Indikator für den zivilisatorischen Entwicklungsgrad wie das latente emanzipatorische Veränderungspotenzial einer kapitalistischen Nation – hat sich Streeck über seine gesamte Krisendiagnose hinweg keinerlei Rechenschaft abgelegt. Dementsprechend sieht sein einziger Lösungsvorschlag aus.

 

»Lob der Abwertung«

Streeck setzt seine Hoffnung auf die segensreiche Wirkung einer äußeren Abwertung. »Was derzeit geschieht, nimmt sich aus, als stamme es aus einem Polanyischen Bilderbuch. Der Widerstand der von ihren Nationalstaaten vertretenen Völker gegen die Unterwerfung ihres Lebens unter die internationalen Marktgesetze wird von der ecclesia militans der Marktreligion als Unregierbarkeitsproblem wahrgenommen, das durch weitere Reformen derselben Art, durch mehr davon, behoben werden muss und kann: durch neue Institutionen, die auch noch die letzten Reste an nationaler Artikulationsfähigkeit und politischer Willkürmöglichkeit aus dem System herausquetschen und sie durch rationale Anreize, einschließlich negativer in Gestalt von Geldstrafen, zu stillschweigender Fügung in das vom Markt verhängte Schicksal ersetzen sollen.

Auf diese Weise würde die auf Jahrzehnte verhängte Austerität der kleinen Leute in den vom Markt als nicht wettbewerbsfähig zurückgelassenen Ländern doch noch Wirklichkeit, und das frivole Experiment einer Einheitswährung für eine heterogene multinationale Gesellschaft wäre gelungen. Am Ende, nach den Reformen, würden die Nationen sich ihre politische Enteignung nachträglich gefallen lassen, entweder weil ihnen nichts anderes übrig bliebe oder weil sie im Zuge marktgetriebener neoliberaler Konvergenz irgendwann zur Marktvernunft gekommen sein und, nachdem sie genug gefühlt hätten, anfangen würden zu hören.« (239)

Streeck fasst das Drama der Austerität(spolitik), vornehmlich in den südeuropäischen Ländern, nicht auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Reichtumsproduktion, der darin eingeschlossenen Wertschöpfungs- und Verteilungsstrukturen von Lohneinkommen und Surplus, sondern lediglich auf der Ebene von Geldlöhnen und Währung, und sieht hier eine letzte Interventionsmöglichkeit.

»Statt zuzusehen, wie neoliberale Politik die Währungsunion durch ›Reformen‹ vollendet, die den Markt endgültig gegen politische Korrekturen immunisieren und das europäische Staatensystem als internationalen Konsolidierungsstaat befestigen würden, könnte man sich und andere an die Institution der Abwertung nationaler Währungen erinnern. Das Recht auf Abwertung ist ja nichts anderes als ein institutioneller Ausdruck des Respekts vor den von ihren Staaten vertretenen Nationen als jeweils eigen-artigen wirtschaftlichen Lebens- und Schicksalsgemeinschaften. Es wirkt als Bremse gegen den vom Zentrum auf die Peripherie ausgeübten kapitalistischen Expansions- und Rationalisierungsdruck und bietet Interessen und Identitäten, die diesem entgegenstehen und in der Freihandelswelt des Großen Binnenmarktes in Populismus und Nationalismus abgedrängt würden, eine realistische kollektive Alternative zu der ihnen vom Markt abverlangten folgsamen Selbstkommodifizierung. ... Die Abwertung einer nationalen Währung korrigiert – grob und für eine begrenzte Zeit – die Verteilungsverhältnisse in einem asymmetrischen System internationalen wirtschaftlichen Austauschs, das ... nach dem Prinzip kumulativer Bevorteilung funktioniert. Abwertung ist ... rough justice –, aber ... immer noch mehr als nichts.« (246f.)

Streeck ahnt, dass im Zeitalter eines reifen Kapitalismus – am Ende von Mangelwirtschaft und angesichts einer enormen globalen Ersparnisschwemme (Überschuss an Geldkapital) – die Logik eines Abwertungswettlaufes begrenzt ist; eine zukunftsfähige Alternative liegt vielmehr in der strukturpolitischen Gestaltung der Binnenökonomien, was freilich Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse, ein anderes gesellschaftliches Arbeitsregime und demokratische Wirtschaftssteuerung einschließt.

Die dominierende Politik mit Schuldenbremse, Fiskalpakt und Austeritätspolitik vernachlässigt das Wirtschaftswachstum und manövriert Europa immer stärker in eine Sackgasse. Es gibt realisierbare Alternativen zu diesem gescheiterten Kurs. Aber Bedingung für den Politikwechsel ist eine sofortige Aussetzung der Austeritätspolitik und die umfassende Einbettung von wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Reformansätzen in eine breite Bürgerbeteiligung. Die häufig geforderte Re-Nationalisierung der Wirtschafts- und Geldpolitik würde es den Peripherie­ländern zwar gestatten, ihre Währungen abzuwerten, doch hätten sie es danach um so schwerer, neue Felder der Produktion zu etablieren und ihre Euro-Schulden zu bedienen. Die äußere Abwertung ist kein Patentrezept zur raschen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Schließlich würden die Turbulenzen auf den Finanzmärkten auch für die Mitgliedsländer einen unkalkulierbaren Dominoeffekt auslösen. Auch hier wäre eine Strategie gegen Europas interne Ungleichgewichte und Deutschlands enormen Leistungsbilanzüberschuss sinnvoller. Die Alternative zum Wettlauf um Wettbewerbsvorteile ist in jedem Fall eine Verständigung auf eine wirtschaftliche Arbeitsteilung und eine Industriepolitik, die in den Volkswirtschaften Randeuropas den Export und die Produktivität fördert.

 

Einspruch gegen Streecks »Negative (Krisen)Dialektik«

Streeck schließt seine Argumentation mit dem Ausblick: »Heute sieht man aus den Ruinen der Alten Welt die Eckpfeiler einer Neuen hervorwachsen: wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Regierungen kombiniert mit der Freiheit, das nationale Leben nach eigenem Willen zu organisieren.« (Polanyi 1944, zit. 249) Aber im Unterschied zur Nachkriegskonstellation findet sich heute im bürgerlichen Lager kein tragfähiges oder gar zukunftsfähiges gesellschaftspolitisches Projekt einer Krisenlösung. Und auch Streeck gelingt es auf Grund seines Kokettierens mit dem Zusammenbruchsdiskurs nicht, die »Eckpfeiler des Neuen« freizulegen. Das wäre aber die Nagelprobe für das »Kritische« an sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnose. In einer ökonomischen Krisenanalyse der zweiten großen Transformation zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen in Formen »dichter Beschreibung« der ideologische Kitt, die Ambivalenzen, Widersprüche und Bruchstellen im gegenwärtigen Alltagsbewusstein erkundet und neue Perspektiven von Sozialität und frei assoziierten Individuen ausgelotet werden, die die Produktion, Verteilung und Verwendung des wirklichen gesellschaftlichen Überschusses in bewusste Regulierung übernehmen und in wirtschaftsdemokratischen Formen von unten ausgestalten können. Ein qualitativ anderer Umgang mit dem Kapitalstock – denn das sind die Ruinen der alten Welt, die heute weitaus moderner und entwickelter sind als zu Polanyis Zeiten – wäre möglich, wenn es zugleich gelingt, im öffentlichen Krisendiskurs die Krise als eine des Reichtums zu deuten und das im Alltagsbewusstsein immer noch tiefsitzende Deutungsmuster einer »Knappheitsideologie« zurückzudrängen und zu überwinden. Denn »der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint als miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne« (Marx).

Europa befindet sich in seiner schwersten Krise – diese Einschätzung wollen wir nicht bestreiten. Richtig ist auch, dass angesichts der vorherrschenden ökonomisch-politischen Konstellationen selbst eine Perspektive des weiteren Durchwurstelns immer unwahrscheinlicher wird. Lässt diese Krise sich nicht überwinden, so werden sowohl das politische Projekt der europäischen Integration als auch die europäische und die Weltwirtschaft schweren Schaden nehmen, ganz abgesehen vom Ausmaß der sozialen Zerstörungen, die die Krise schon jetzt in den Ländern der europäischen Peripherie angerichtet hat. Die europäischen Führungen wissen, dass die Schuldenlast ohne nachhaltiges Wachstum weiter zunehmen wird und dass Konsolidierung pur eine wachstumsfeindliche Strategie ist. Doch es sind inzwischen mehrere Jahre vergangen, ohne dass sich eine Verständigung auf eine Wachstumsstrategie abzeichnet. Im Gegenteil, mit dem Fiskalpakt ist eine Abwärtsspirale programmiert.

Die Bauelemente einer Alternative sind bekannt und müssten die Richtschnur auch einer erzwungenen Rückstufung auf das nationalstaatliche Niveau bleiben: Notwendig ist ein Mix von Wachstumsanreizen und Sanierungsmaßnahmen für die öffentlichen Finanzen. Es geht mithin um steuerfinanzierte Ausgabenpolitik. Das Kernproblem einer hartnäckigen Depression in den europäischen Ländern ist die unzureichende gesellschaftliche Nachfrage. Die Unternehmen investieren nicht genug in neue Anlagen oder Ausrüstungen und sie schaffen daher zu geringes Lohneinkommen oder überhaupt zu wenig Arbeitsplätze. Man muss die Alternative zur Konsolidierungspolitik als politische Entscheidung betrachten, über Investitionen den gesellschaftlichen Konsum und damit die Wirtschaft wieder auf Touren zu bringen. Mit einer Fortführung von Schuldenpolitik hat dies also nichts zu tun. Es geht um Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse – letztlich selektive Steuererhöhungen in Zeiten wirtschaftlicher Not. Denn Europa braucht Strukturreformen, aber eben nicht so, wie die Verfechter einer Konsolidierungspolitik dies fordern. Die Alternative zur Konsolidierung läuft darauf hinaus, dass über eine Erhöhung der Steuern für höhere Einkommen, Vermögenserträge und angesammelte große Vermögen öffentliche Güter und Dienste finanziert werden sollen, die vom privatkapitalistischen Sektor nicht ausreichend bereitgestellt werden – Bereiche wie Verbesserung sozialer Sicherheit, Bildung, Gesundheitsvorsorge und öffentliche Infrastrukturen.

 

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber und Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus. Gemeinsame Buchveröffentlichung: Die »große Transformation« des 21. Jahrhunderts. Politische Ökonomie des Überflusses vs. Marktversagen, Hamburg 2013 (im Erscheinen).

1 In seiner Deutung des 20. Jahrhunderts hatte der marxistische Historiker Eric Hobsbawm davon gesprochen, dass in den 1980er und 1990er Jahren »die Welt ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist« (Hobsbawm 1994). Die Große Krise von 2008ff. hat diese Jahrzehnte nun zu einem geschichtlichen Knotenpunkt geführt und gibt so den Blick frei, sie in die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus einzuordnen. Schon beim Begründer der Kritik der Politischen Ökonomie, Karl Marx, findet sich die These, dass es in der Geschichte »Knotenpunkte« gibt: »Erst auf dem letzten Kulminationspunkt der Entwicklung des Privateigentums tritt dies sein Geheimnis wieder hervor« (MEW 40: 520), und in der Tat macht sich in der Krise der neoliberalen Utopie der Ownership-Society die »innere Einheit« des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs »gewaltsam« gegen die gesellschaftlichen Akteure geltend. Ob diese allerdings »sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung, und ein sie überbietendes Bewusstsein erworben haben« (ebd. 553), ist in den politisch-theoretischen Auseinandersetzungen um Krisendeutungen, Alltagsbewusstein und den Beitrag kritischer Sozialforschung zu klären.

2 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013 (die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text). Der Autor nutzte seine Einladung zu den Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, um an dem alt-ehrwürdigen Ort des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) seine jüngsten Zeitschriftenbeiträge aus New Left Review, Lettre International und den Blättern für deutsche und internationale Politik zu dem vorliegenden Buch auszuarbeiten. Dazu weitere Debattenbeiträge von Fritz Fiehler (Sozialismus 2/2012), Arne Heise (Blätter 3/2013), Elmar Altvater, Jürgen Habermas und Rudolf Hickel (Blätter 5/2013). Auf diese Debatte werden wir in »Sozialismus« noch weiter eingehen.

3 Vgl. dazu die Forschungsergebnisse in: Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, hrsg. von K.H. Jarausch, sowie: L. Raphael/A. Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, beide Göttingen 2008.

4 Als Kronzeugen zitiert Streeck Helmut Dubiel aus dem Jahr 1975, einen ehemaligen Direktor des IfS: »Pollocks These einer wieder rein politischen und nicht mehr indirekt ökonomisch vermittelten Herrschaft bot ... Horkheimer und Adorno die politisch-ökonomische Rechtfertigung dafür, die Beschäftigung mit politischer Ökonomie nicht mehr für vordringlich zu halten« (zit. 38).

5 Streeck zitiert aus einer steuerpolitischen Parteitagsrede (1971) des »roten Jochen« Steffen, Autor eines damals vielbeachteten Strategiebuches »Strukturelle Revolution« (1974). Freilich differenziert Streeck hier und »möchte behaupten, dass die Finanzkrise des Staates nicht darauf zurückgeht, dass die Masse der Bevölkerung, verleitet durch ein Übermaß an Demokratie, für sich zu viel aus den öffentlichen Kassen herausgeholt hätte; vielmehr haben diejenigen, die am meisten von der kapitalistischen Wirtschaft profitiert haben, zu wenig und in der Tat immer weniger in die öffentlichen Kassen eingezahlt.« (111)

6 Der Streeck-Kritiker Habermas, der ihm und anderen EU-Skeptikern »ökonomistische Blickverengung« vorwirft, setzt dennoch unbeirrt auf die »zivilisierende Kraft der demokratischen Verrechtlichung« im europäischen Verfassungsprojekt. Unbeleckt von den ökonomisch bedingten sozialstrukturellen Verwerfungen und Spaltungen der Europäer in Mitglieder eines Staats- und/oder Marktvolks in unentwickelten oder hochproduktiven Gesellschaften, geschlossenen oder transnationalisierten Regionen hält der Sozialphilosoph Habermas am Idealtypus einer intakten Anordnung der Einheit von Bourgeois und Citoyen fest und läuft so Gefahr, EU-Bürger als politische Köpfe ohne ökonomischen Unterleib zu konstruieren. Für Habermas wird es bei anhaltend selbstzerstörerischen Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaften in Europa immer schwieriger werden, die Spieler Staat, Wirtschaft und Bürger demokratietheoretisch stimmig unter einen Hut zu bringen. Streeck hält ihm zu Recht sein Vertrauen in einen »funktionalistischen Fortschritt« (255) im Kapitalismus vor.

7 Kein Wunder. In Streecks Handapparat fehlen diesbezüglich die kritischen und empirisch gehaltvollen Arbeiten zur politischen Ökonomie der Globalisierung und Unsicherheit (Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf u.a.), zu den Metamorphosen der Industriearbeit seit den 1970er Jahren bis heute (Michael Schumann u.a.) und zum Zusammenhang von Finanzmarktkapitalismus, Prekarisierung und Gewerkschaften (Klaus Dörre u.a.). Streeck hält sich hingegen zugute, für die Analyse des Zusammenhangs von Internationalisierung, Denationalisierung und Liberalisierung als eines Mehrebenenregimes des europäischen Konsolidierungsstaates einen frühen Aufsatz des Neoliberalen von Hayek, »Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse«, aus dem Jahr 1939 wieder fruchtbar gemacht zu haben.