Ungleiche Entwicklung und politischer Widerstand - auf zu einem europäischen Frühling?

DAS ARGUMENT 301/2013 ©, 200-209

Die Krisenmaßnahmen zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltsdisziplin durch Sparmaßnahmen und tiefgreifende Arbeitsmarktreformen haben vielerorts in der EU Protestaktionen ausgelöst. Allein im letzten Jahr haben im Februar in Spanien Hunderttausende gegen Ausgabenkürzungen und die zunehmende Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechts demonstriert. Im Juni marschierten Tausende als Zeichen der Solidarität mit dem Protest von Bergleuten nach Madrid. Im September demonstrierten in Griechenland 200 000 Bürger gegen weitere Lohn- und Rentenkürzungen, und in London nahmen im Oktober 130 000 Menschen an einer Gewerkschaftsdemonstration teil. Zahllose weitere Märsche und Streiks von Schülern, Lehrern und Eltern, Angestellten im Gesundheitswesen oder im Pharma-, Auto-, Schiffbau- oder Transportgewerbe könnte man noch erwähnen. Darüber hinaus wurden auch eine Reihe von transnationalen Kampagnen, Manifeste und Petitionen gegen die Sparpolitik der EU eingeleitet, einschließlich europaweiter Solidaritätstreffen wie »Firenze 10+10«, wo sich im November 2012 verschiedene linke Gruppierungen und soziale Bewegungen, sowie einige Gewerkschaftsvertreter aus dem europäischen Raum versammelten.

Das Treffen, bewusst geplant zehn Jahre nach dem ersten europäischen Sozialforum (ESF) in 2002 und am gleichen Ort , sollte als Plattform für einen gemeinsam organisierten Widerstand gegen die von der EU vorangetriebene, autoritär verordnete neoliberale Sparpolitik dienen. Entgegen (oder vielleicht gerade aufgrund) des Strebens nach einem gemeinsamen Fokus durch mehrere Konvergenzsitzungen war das Ergebnis des Treffens allerdings eher mager: Eine gemeinsame Stellungnahme zur europäischen Austeritätspolitik wurde durch lautstarken Protest vieler Teilnehmer verhindert. Während das erste ESF in 2002 mit über 60 000 Teilnehmern weitgehend als Erfolg verbucht wurde, blieb für Firenze 10+10 zudem auch die Resonanz in den Medien, und die damit einhergehende breitere Öffentlichkeit, für den Ruf nach einem »anderen Europa« aus.

Dies wirft die Frage auf, inwiefern der Kontext der Krise und der EU-Sparpolitik tatsächlich, wie oft argumentiert, ein »window of opportunity« für links-progressive Alternativen und Allianzen bietet. Wie schon im vergangen Jahr stehen die geplanten Protestaktionen 2013 wiederum unter dem Motto eines »Europäischen Frühlings«. Optimistische Betrachtungsweisen gehen davon aus, dass ein politischer Kurswechsel der bisherigen technokratisch-neoliberalen Politik des europäischen Integrationsprojektes greifbar nahe ist. Angesichts der auffallenden Schwäche und ideologischen Fragmentierung europäischer linker Gruppierungen ist jedoch fragwürdig, ob es zu einer tragfähigen, pan-europäisch organisierten Widerstandsbewegung kommen kann und welchen politischen Handlungsspielraum linke Gruppierungen in Europa haben. Die weit verbreitete Erwartungshaltung, dass es doch gerade jetzt zu weitreichenden Veränderungen kommen müsse, und dass es allein am (Miss-)Erfolg und den (Fehl-) Strategien emanzipatorischer Kräfte läge, ob sich diese Transformation vollzieht, trägt wenig dazu bei, die tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Machtgefüge der EU zu verstehen. Vermehrt macht sich daher auch eine Skepsis breit, ob sich (links-)progressive soziale Kräfte gegenüber dem zunehmend »autoritären Wettbewerbsetatismus« der EU überhaupt behaupten können (Oberndorfer 2012).

Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, diese Strukturen, Akteure und Widersprüche in der Formierung von Widerstand und Abwehrkämpfen gegenüber der europäischen Krisenpolitik zu untersuchen. Dabei soll nicht nur auf aktuelle Entwicklungen eingegangen, sondern auch der Versuch unternommen werden, diese Prozesse auch hegemonietheoretisch fassbar zu machen. Zentrale Herausforderungen sind dabei vor allem die unklare Begriffslage für ein klassen- und subjektfokussiertes Verständnis sozialer Kämpfe, die unterschiedlichen Handlungslogiken verschiedener Akteure, und die vor allem auch durch ungleiche Entwicklung und Ungleichzeitigkeit der Machtdynamiken bedingten Ambivalenzen in der Formierung und Artikulation von politischem Widerstand.

 

Gegen/Hegemonie? Perspektiven sozialen Widerstands

Historisch-materialistische Ansätze konzentrieren sich bisher überwiegend auf Prozesse der neoliberalen Restrukturierung auf globaler oder europäischer Regulationsebene , mit Schwerpunkt auf die interne Fraktion(alis)ierung des nationalen und transnationalen Kapitals. Die hegemonietheoretische Forschung, die doch eigentlich auf die (Re-)Produktion von hegemonialen sozialen Kräfteverhältnissen gerichtet sein sollte, weist daher oft einen Elitenfokus auf (z.B. Van Apeldoorn 2002; Cafruny/Ryner 2003), oder reduziert soziale Kämpfe im europäischen Raum ausschließlich auf Auseinandersetzungen um institutionelle Arrangements. Die hegemoniale Verfasstheit des europäischen Projektes, getragen durch das europäische Staatsapparate-Ensemble, wird dabei implizit als kohärent und relativ stabil

verstanden, während politischer Widerstand und Dissens aus nicht-hegemonialen zivilgesellschaftlichen Gruppen und die Möglichkeit eines gegenhegemonialen Projektes analytisch wie auch theoretisch peripher bleiben (Ausnahmen sind z.B. Bieler/Lindberg 2010; Brand/Heigl 2011). Wie sich in der gegenwärtigen Krisendynamik gezeigt hat, bedarf es jedoch gerade jetzt einer Perspektive, die eine Konjunkturanalyse der Brüche im »Staatsprojekt Europa« ermöglicht (Buckel u.a. 2007). Nur so lassen sich die Entstehung neuer Formen von sozialer Mobilisierung und die weitere Dynamik von Widerstand im europäischen Raum erfassen. Dabei sollen soziale Kräfte als konkrete Subjekte weder marginalisiert, noch, wie oft in aktuellen Analysen zum Potential der »neuen« sozialen Bewegungen wie Occupy, Indignados, M15, Blockupy oder der Besetzung des Syntagma-Platzes, in ihrer Tragweite überbewertet und romantisiert werden.

Wir greifen hier den Vorschlag von Huke und Schlemermeyer (2012, 462) auf, die Konzepte wie »die Linke«, »Subalterne«, »neue gesellschaftliche Allianzen« oder »europäische Mosaiklinke« nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als Projekt begreifen. Gestützt auf das machiavellistische Konzept des »Prinzen« und Gramscis (1971) »modernen Prinzen« wird der »postmoderne Prinz« (Gill 2000) als eine neue Form politischen Handelns unterschiedlicher Akteure typisiert, deren radikale Praxis die Politik des Alltagsverstandes herausfordert. Der ›postmoderne Prinz‹ ist demnach nicht als ein Akteurskollektiv, sondern vielmehr als eine Strategie oder Agenda eines kollektiven politischen Subjekts (Sanbonmatsu 2004) und als ein radikaler Begriff der Praxis (Gill 2012) zu verstehen. Dieses kollektive Handeln ist gebunden an historisch spezifische sozioökonomische Gegebenheiten, allerdings ohne notwendigerweise in einem klassenspezifischen Bewusstsein verankert zu sein; gleichwohl kann ein solches Projekt implizit einen Klassenbezug herstellen (Jessop 2002, 32).

Die zunehmende autoritäre Verhärtung der EU-Austeritätspolitik zu Lasten der konsensuellen Dimension des hegemonialen EU-Projektes stellt einen potentiellen Kristallisationspunkt für kollektives Handeln dar. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang eine mögliche Annäherung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Allerdings war der Dialog zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen bislang eher konfliktbeladen und wenig konsensorientiert. Gewerkschaften, als hierarchisch organisierte Akteure, die vor allem Kernbelegschaften repräsentieren, kollidieren oft mit horizontalen und auf direktdemokratische Entscheidungs- und Diskussionsformen ausgerichteten neuen Bewegungen. Gewerkschaften haben sich zudem vielfach in hegemoniale Strukturen einbinden lassen. So repräsentiert der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der als Dachorganisation der nationalen Gewerkschaften die Interessen von Arbeitnehmern institutionell auf EU-Ebene vertreten soll, durch seine Einbindung in den europäischen Staatsapparat kaum radikale Positionen – auch wenn dies von den nationalen Gewerkschaften inzwischen vermehrt zur Diskussion gestellt wird und sich eine Positionsänderung des EGB abzeichnet (Horn 2012). Eine gemeinsame Position der Gewerkschaften wird allerdings durch große nationale Divergenzen erschwert. Die ungleiche und ungleichzeitige Entwicklung der Krise führt zu Unterschieden in der Sparpolitik und den Krisenmaßnahmen und hat offensichtliche Konsequenzen für die Beteiligung linker Gruppierungen und Gewerkschaften an einer transnationalen gegenhegemonialen Bewegung. Die Geschwindigkeit und Sequenz der getroffenen Krisenlösungen einerseits und das bewusste Umgehen demokratischer Prozesse in der Entscheidungsfindung andererseits hat zudem gegenhegemoniale Kräfte derart marginalisiert, dass die politische Nutzung der Krise für ein alternatives Projekt erschwert wurde.

So stellt sich vor allem die Frage, wo genau sich Handlungsspielräume für emanzipatorische Projekte bieten. Konecny (2012, 391) geht davon aus, dass durch die wachsenden (regionalen) Ungleichheiten eine emanzipatorische Strategie am ehesten auf nationalstaatlicher Ebene Erfolg haben kann; einige Kommentatoren sehen in diesem Kontext selbst eine komplette Rückbesinnung auf die Verteidigung bestehender national- und wohlfahrtsstaatlicher Strukturen als notwendig an. Der oft defensive Charakter aktueller sozialer Kämpfe gegen die EU-Austeritätspolitik lässt sich auch auf die beinahe reflexhafte Verteidigung institutioneller Strukturen innerhalb der nationalstaatlichen Konfiguration verschiedener Mitgliedsstaaten zurückführen; inwiefern gerade diese Strukturen, wie korporatistische Prozesse und Dimensionen, auch zur ungleichen Entwicklung in der EU beigetragen haben, bleibt dabei meist außen vor.

Aus diesen unterschiedlichen Positionen ergeben sich spezifische Handlungslogiken in Bezug auf das Terrain und die Ziele der sozialen Kämpfe. Im komplexen Machtgefüge des europäischen Raumes ist eine solche Divergenz äußerst problematisch: ohne ein gemeinsames Verständnis davon, wo es anzusetzen gilt, bleiben soziale Kämpfe isoliert, ja beinahe beliebig. So schreibt Oberndorfer (2012, 8), dass »gerade der aufziehende autoritäre Wettbewerbsetatismus verdeutlicht, dass sich die Subalternen auch auf die Transformation des europäischen Institutionengefüges orientieren müssen.« Der Fokus auf eine institutionelle Veränderung in der EU und der nationalstaatlichen Strukturen steht jedoch im Kontrast zu den Abwehrkämpfen sozialer Bewegungen, was eine Verständigung auf den kleinsten Nenner schwierig macht.

 

Zwischen 99 % und Avantgarde – Divergenz und Konvergenz sozialer Kämpfe im europäischen Raum

In Beiträgen der Medien wie auch in wissenschaftlichen Analysen wird oft von der Terminologie der ›99 Prozent‹, einem Begriff aus der globalen Occupy-Bewegung, ausgegangen. Dieses Begriffsverständnis ist jedoch notorisch unspezifisch und geht von einer monolithischen Zusammenstellung und ideologischen Ausrichtung der Protestkräfte aus. Dabei sind gerade die neuen sozialen Bewegungen durch eine breite Palette teilnehmender Gruppierungen gekennzeichnet. Die Diskussion um Rolle und Strategien sozialer Bewegungen wird zudem oft undifferenziert positiv besetzt. Kritische sozialwissenschaftliche Perspektiven stehen den Möglichkeiten und Potentialen emanzipatorischer Kräfte grundlegend offen gegenüber. In einem Kontext, in dem es kaum Erfolge zu verbuchen gibt, werden daher nur ungern die Ambivalenzen und Machtasymmetrien innerhalb dieser Bewegungen untersucht. Seit dem allmählichen Verblassen der globalisierungskritischen »Bewegung der Bewegungen« im vergangenen Jahrzehnt wird allerdings vermehrt argumentiert, dass soziale Bewegungen disparate Gruppen ohne gemeinsame Strategie für soziale Kämpfe oder kohärente inhaltliche Kritik und politische Forderungen darstellen.

So zeigt Stephen (2009) die Diversität der Akteure in der gescheiterten Formulierung eines gemeinsamen Master-Rahmens im Weltsozialforum auf. Gibson (2008) verweist auf anhaltende und strukturelle Ungleichheiten als Ursache dafür, dass globalisierungskritische soziale Bewegungen nie wirklich »global« waren. Scholl und Freyberg-Inan (2013) fügen hinzu, dass der gegenhegemoniale Dissens dieser Bewegungen sich weitgehend im Sinne von Gramsci als ein Bewegungskrieg (war of maneuvre) auf den Straßen artikuliert hat, ohne sich zu einem effektiven und standfesten Stellungskrieg (war of position) zu konsolidieren.

Desweiteren verorten viele Studien links-orientierte soziale Bewegungen in Europa als grundsätzliche Befürworter der europäischen Integration – im Gegensatz zur wachsenden nationalistischen oder populistischen Euroskepsis von Bürgern und politischen Parteien. In diesem Zusammenhang wird auch von einem ›kritischen Europeanismus‹ gesprochen (Flesher und Cox 2013). Della Porta und Caiani (2009, 123, 125) argumentieren beispielsweise, dass viele linksradikale Gruppen innerhalb sozialer Bewegungen die spezifische politische Richtung des Integrationsprozesses kritisieren und ein anderes, sozialeres und demokratisches Europa anstreben, was auch zu einer verstärkten grenzüberschreitenden Vernetzung geführt hat. Zwar deuten die momentanen Krisenproteste darauf hin, dass soziale Bewegungen zunehmend gezielt EU-Institutionen kritisieren und EU-bezogene Fragen aufwerfen, und dass damit der Konsensus des Gewährenlassens (permissive consensus) Geschichte ist. Der Event-basierte Charakter vieler Krisenproteste lässt jedoch keine Rückschlüsse auf die Beständigkeit, Zusammenstellung und internen Widersprüche dieser Bewegungen und transnationalen Allianzen zu.

Das Treffen in Florenz im letzten November ist in vieler Hinsicht emblematisch für die Spaltung linker Gruppierungen. Im Gegensatz zu früheren Sozialforen, die unter dem Anspruch der sozialen Inklusivität die ganze Breite linker Gruppierungen abdeckten, sollte Firenze 10+10 in viel kleinerem Rahmen stattfinden und die Spitzen der europäischen Gewerkschaften in einen Dialog mit sozialen Bewegungen bringen. Auch sollte der Zugang zu den Diskussionen neuen wie auch etablierten politischen Parteien und den Experten der Partei-liierten Ideenmaschinerien nicht verwehrt bleiben. Kurzum, bislang lokal-isolierte oder fragmentierte Bewegungen mit ihren Partikularinteressen (sogenannte »One-Issue«-Bewegungen) sollten in neuer Verve die transnationale Solidarität Wirklichkeit werden lassen. Dieser bewusst gewählte Charakter der Veranstaltung implizierte, dass sich in Firenze 10+10 nebst Gewerkschaftsvertretern vor allem gefestigte linke Organisationen vorwiegend aus dem Norden Europas, wie die etablierten und professionalisierten Think Tanks der

linken Parteien (Transform; Rosa-Luxemburg-Stiftung), soziale Netzwerke wie ATTAC und diverse Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie das Transnational Institute (TNI) oder Corporate Europe Observatory (CEO) trafen. Zwar sind ›rein‹ europäische oder transnationale Akteure wie NGOs oder Think Tanks ideal positioniert, um in einer Drehscheibenfunktion die Vernetzung von linken Gruppierungen voranzutreiben. Wenn es aber darum geht, zwischen den verschiedenen Handlungsebenen zu springen, sind sie überfordert. Die implizite Ausrichtung hin zum Europäischen Terrain, und das beschränkte Vermögen transnationaler Akteure, sich in lokale Bewegungen zu integrieren, erschwert nicht nur die Formation von Allianzen, sondern auch die Kristallisierung eines links-radikalen Hegemonieprojekts.

Dass sich über relativ isolierte Avantgarde-Akteure (oder Berufswiderständler) nur schwer die notwendige organische Artikulation und Verankerung von alternativen Projekten und damit eine tatsächlich gegenhegemoniale Bewegung durchsetzen lässt, zeigt sich auch an den inhaltlichen Debatten und Konflikten, die in Florenz geführt wurden. Es kam zu keiner Übereinstimmung der Abwehrkämpfe und Alternativvorschläge; darüber hinaus blieb auch undeutlich, an wen sich solche Vorschläge überhaupt richten sollten. So argumentierten einige Gruppierungen für eine reformistische Politik, wonach die EU unter Nutzung der vorhandenen institutionellen Apparate, allen voran des Europäischen Parlamentes, in ein demokratisches und soziales Projekt transformiert werden soll. Der Vorschlag einer Vertiefung des europäischen Integrationsprojekts im Sinne eines demokratischen Föderalismus spaltete die Teilnehmer grundlegend. Der reformistische Unterton wurde von vielen Bewegungen, die eine Re-Nationalisierung politischer Entscheidungsprozesse Befürworten, deutlich abgelehnt; die hier geforderte politische Rekalibrierung steht in direktem Widerspruch zum dem fundamentalen Transformationsanspruch vieler, eher horizontal agierender Bewegungen.

Radikalere lokale Graswurzel-Bewegungen mit einer explizit antikapitalistischen Politik blieben dem Treffen weitgehend fern oder trafen sich in den autonomen Zentren von Florenz. Auch an dem »Agora 99«- Treffen in Madrid nahmen zeitgleich ein paar Hundert Aktivisten aus Dutzenden europäischer und mediterraner sozialer Bewegungen teil. Inhaltlich zeigte sich die Abwesenheit solcher Gruppen beim Firenze 10+10- Treffen vor allem in der Dominanz reformistischer Stimmen, die für eine post-keynesianische Krisenlösung in der Form von EU-Investitionsprogrammen zur Förderung eines dauerhaften grünen (aber noch immer kapitalistischen) Wachstums, stimuliert durch die Europäische Zentralbank als lender of last resort plädierten.

Das Fehlen radikalerer Gruppierungen, die sich eben nicht nur gegen die neoliberal regulierte Marktwirtschaft und autoritäre Krisenmaßnahmen, sondern auch gegen die kapitalistische Produktionsweise an sich richten, hat einerseits sicher auch damit zu tun, dass Firenze 10+10 bewusst keine Massenveranstaltung werden sollte, und dass viele »grass root«- Aktivisten einfach strukturell nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um an solchen Treffen teilzunehmen. Wahrscheinlich viel wichtiger ist aber, dass linksradikale Bewegungen Politikforen wie Firenze 10+10 aufgrund des NGO-dominierten Dialogs bewusst verweigern. Die zunehmende »NGO-isierung« – die Professionalisierung und Institutionalisierung des sozialen Widerstandes durch die Beteiligung von politisch eher gemäßigten NGOs auf lokaler und europäischer Ebene – ist in den sozialen Bewegungen schon seit einiger Zeit ein heiß umstrittenes Thema (Choudry/Kapoor 2013; Hudig/Dowling 2010). Die ungleiche Entwicklung von Handlungsspielräumen sozialer Akteure innerhalb der EU wird so letzten Endes implizit auch innerhalb der (links-)progressiven Bewegungen reproduziert.

Die Bildung eines kollektiven Akteurs im Sinne des »postmodernen Prinzen« und die Formulierung einer gemeinsamen Agenda werden dadurch beeinträchtigt, dass es keine Klarheit gibt, welche kollektiven Herausforderungen eine pan-europäische Bewegung vor sich hat, und gegen wen sich soziale Kämpfe richten sollen. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass die gegenwärtigen Entwicklungen des »neuen Konstitutionalismus« (Oberndorfer 2012) und die damit einhergehende Isolierung europäischer Politik gegenüber Druck »von unten«, auch von Initiativen flankiert werden, die augenscheinlich gerade »mehr« Demokratie im europäischen Raum zulassen sollen, wie zum Beispiel die europäische Bürgerinitiative und die Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es stellt sich mithin die Frage, ob in einem Kontext verstärkt autoritär konstituierter Machtverhältnisse eine Einbindung oder Kooptation kritischer sozialer Kräfte in den weiteren Dunstkreis des europäischen Staatsapparates stattfinden könnte. Bislang scheint das noch nicht der Fall zu sein. Nur vereinzelt sind EU-Parlamentarier in die Dialoge und Protestaktionen der sozialen Bewegungen eingebunden, indessen die Europäische Kommission noch nicht auf Protestbewegungen zugegangen ist. Wie sich anhand der Einbindung sozialdemokratischer Forderungen für ein »Sozialmodell Europa« gezeigt hat, verfügt das europäische Staatsapparate-Ensemble aber über ausreichend Spielraum, um auch kritische Stimmen in den Chor des hegemonialen Projektes aufzunehmen. Gerade der weit verbreitete Ruf nach »mehr Europa« kann so potenziell dazu führen, die autoritäre Politik, und vor allem auch ihre rechtliche Festschreibung, zu legitimieren statt sie zu bekämpfen (Eberhardt 2012, 119).

Diese Dimension wird insbesondere dann wichtig, wenn es um langfristige Strategien und Taktiken der (links-)progressiven Bewegungen geht. Bis jetzt haben sich die Bündnisse vor allem in der Planung von Großdemonstrationen und Aktionstagen sowie weiterer linker Gipfeltreffen erschöpft. Genauso wie man die Kongruenz von kurzfristigem Krisenmanagement und langfristigen Strategien der EU hinterfragen kann (Becker/Schlager 2010, 79), stellt sich bezüglich der sozialen (Abwehr-)Kämpfe die Frage nach der mittel- bis langfristigen Formulierung und Artikulierung tragfähiger Programme, die nicht nur über Netzwerke und Allianzen verschiedener Bewegungen, sondern vielmehr organisch über eine Verankerung im sozialen Terrain der europäischen Zivilgesellschaft abgesichert sind. Gerade in Bezug auf die Rolle der Europäischen Union, und Europa im Allgemeinen, gibt es keine konsistente Vorstellung der europäischen Integration jenseits des neoliberalen Modells (Fisahn 2012, 375). Hier zeigt sich auch die schwache Ausprägung und fragmentierte Position alternativer Vordenker, die man mit Gramsci auch als organische Intellektuelle bezeichnen könnte. Pro-europäische und weitgehend reformistische Perspektiven, wie sie zum Beispiel von Joschka Fischer, Jürgen Habermas oder anderen elder statesmen aus dem europäischen Norden geäußert werden, stellen bereits das Höchste der Gefühle dar, was die diskursive Dimension progressiver Strategien in den Massenmedien betrifft. Dass sich Menschen in den von der Austeritätspolitik besonders betroffenen Teilen Europas davon nicht sonderlich angesprochen fühlen, verwundert nicht. Hinzu kommt, dass (links-)progressive Diskurse auf europäischer Ebene kaum über relativ abstrakte politische und ökonomische Forderungen hinausgehen, und damit wenig an die konkreten Alltagserlebnisse und Widerstandsräume anschließen, die ihrerseits sehr stark durch die Sparpolitik und die autoritäre Governance bestimmt sind. Die Identifizierung mit sozialen Protesten wie Platzbesetzungen, Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams, die sich auf lokalen, regionalen und zum Teil selbst auf nationalen Ebenen vollzieht, hat in Bezug auf den europäischen Raum noch nicht stattgefunden; darüber hinaus sind die gängigen Symbole der Europäischen Union, wie Flagge, Europahymne oder gerade auch der Euro derart vom Staatsprojekt Europa vereinnahmt, dass es für das Entstehen alternativer kollektiver Bündnisse neuer Symboliken und Embleme bedarf.

 

Fazit: Ungleiche Entwicklung und Ungleichzeitigkeit – Konsequenzen für emanzipatorische Projekte

Die konkreten Erscheinungsformen, die Häufigkeit und auch die Vehemenz der Proteste gegen die Austeritätspolitik in Europa variieren erheblich. Während in den nördlichen Ländern der Eurozone die bisherigen Proteste recht schwach blieben, stellt sich die Situation in den von der Krise am stärksten betroffen südlichen Eurozone-Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal anders dar. Hier beteiligen sich große Massen von bisher wenig oder nicht politisierten Bürgern an den Demonstrationen, Platzbesetzungen, Volksversammlungen, Streiks oder auch Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie der Umzingelung des Parlaments, Landbesetzungen oder Lebensmittelrazzien in Supermärkten. Zugleich sind die Formen der

Solidarität gegenüber und zwischen linken Gruppierungen und Gewerkschaften im südlichen Europa aber wenig ausgeprägt. In einem Kontext, in dem selbst in einem nationalstaatlichen Rahmen Transferzahlungen zum Ausgleich von (regionaler) ungleicher Entwicklung kaum noch durchsetzbar sind, gibt es wenig Grund zu optimistischen Erwartungen über die Perspektiven alternativer Handlungsspielräume im europäischen Raum (Becker 2012, 111).

Wie wir in diesem Beitrag argumentiert haben, bedarf es für ein Verständnis der sozialen Kämpfe und der Formierung (links-)progressiver Allianzen auf europäischer Ebene einer differenzierten Perspektive auf die Dynamiken und Widersprüche dieser Prozesse. Um zu verstehen, inwiefern sich soziale Kräfteverhältnisse und vor allem auch fundamentale Dimensionen der sozialen (Re-)Produktion zu einem »gegenhegemonialen Projekt« auf europäischer Ebene verdichten können, ist es notwendig, die ungleiche Entwicklung der Krise(n) in den europäischen Mitgliedsstaaten miteinzubeziehen. Bisherige lokale oder regionale Ereignisse insbesondere in den südlichen Mitgliedsstaaten mobilisierten zwar die Unterstützung und Sympathie breiter Bevölkerungsschichten, inwiefern jedoch die punktuelle Event-Politik der verschiedenen horizontalen Plattformen tragfähige Strukturen geschaffen hat, die einen beständigen Widerstand der europäischen Linken gegen das autoritäre Krisenregime zu stützen vermögen, bleibt bislang offen. Man sollte daher auch die im Frühjahr 2013 geplante Demonstration in Brüssel, und die parallel stattfindenden dezentralen Aktionen in den Mitgliedsstaaten, und den sogenannten Alter-Summit in Athen, nicht unkritisch als »europäischen Frühling« bezeichnen. Wie der durchweg positiv besetzte Begriff des »arabischen Frühlings« inzwischen einem pragmatischeren und vor allem nuancierteren Verständnis der sozialen Bewegungen und Auseinandersetzungen in den verschiedenen Gesellschaften der Region gewichen ist, gilt es, die Mobilisierung gegen die Austeritätspolitik der EU als Moment sozialer Kämpfe und möglichen Ausgangspunkt für die Herausbildung kollektiver Handlungsformen zu verstehen, statt als einen bereits bestehenden monolithischen Block oder eine konkret-kohärente Bewegung.

Die Akteure der neuen sozialen Bewegungen, ihre Anliegen und Alltagserfahrungen in der Krise sind zwar vielfältig und zum Teil selbst widersprüchlich, es zeigen sich aber auch Gemeinsamkeiten in den Zielen und Formen der Widerstands. Es gilt hier, in einem gramscianischen Verständnis »Gegenwärtiges und Vergangenes als in Bewegung befindlich gut zu beobachten. Gut beobachten heißt, die fundamentalen und permanenten Elemente des Prozesses genau zu identifizieren« (Gef, 1767).

Konkret bedeutet das auch, dass wissenschaftliche Debatten und Wissensproduktion über die Verdichtung der europäischen Integration in ein undemokratisches neoliberales Projekt, das sich in der Krise zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus verschärft hat, über den beschränkten Zirkel der kritischen Europaforschung hinausgehen und Teil breiter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden müssen. Dabei sind auch die Universitäten als öffentliche Räume inhaltlicher Diskussionen für ein alternatives Europa-Projekt zurückzuerobern und soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Medien und Kulturschaffende organisch miteinzubeziehen. Nur durch das Verständnis der asymmetrischen Kräfteverhältnisse und durch eine kritische Auseinandersetzung mit den Institutionen der Europäischen Union können wir über alternative Strategien nachdenken. Wie Gramsci mehrfach betont hat, sind gerade solche (bildungs-)pädagogischen Kämpfe für ein emanzipatorisches Verständnis von großer Bedeutung. Wir schließen uns daher Gramscis Appell an, veröffentlicht in der Erstausgabe der Turiner Ordine Nuovo zum 1. Mai 1919: »Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.«

 

Literatur

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