Nachwahlmikado

Manche Beobachter benutzen schon wieder das Wort „historisch“. Die Bundestagswahl 2013 liegt aber noch lange nicht lange genug zurück, um das zu wissen. Als „historisch“ gilt schon das Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag; in diesem und jenem Fernsehprogramm wird an Theodor Heuss, Walter Scheel oder Hans-Dietrich Genscher erinnert, das seien noch Zeiten gewesen... Aber der Verfallsprozess war doch sichtbar und vollzog sich vor aller Augen. Man braucht nur die Genannten mit Fipsy Rösler – wie er von den Kabarettisten in der „Anstalt“ genannt wurde, bereits vor der Wahl – oder Herrn Brüderle zu vergleichen. Die Wähler haben eigentlich nur den Korken auf die Flasche gedrückt, die längst leer war.
Oder ist „historisch“ die Tatsache, dass die „Alternative für Deutschland“ aus dem Stand auf 4,7 Prozent kam? Die Partei ist mit der Farbe Blau angetreten. In Österreich ist das die Farbe der „Freiheitlichen“, der rechtspopulistischen Partei des verblichenen Jörg Haider. Herr Lucke, der Vorturner der AfD, redet ja auch schon mal von „Entartungen“. Das ist Originalton „LTI“ – das war der Titel des Buches von Victor Klemperer über die Sprache des „Dritten Reiches“: Lingua Tertii Imperii. Das gibt’s jetzt wieder. Das war zur Bundestagswahl wieder im Angebot. Aber „historisch“?
Ganz unhistorisch gibt es, ähnlich der Situation unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005, im Moment keine klare Antwort auf die Frage, wer die nächste Bundesregierung bilden wird. Damals kam die „Große Koalition“ heraus. Jetzt hat Angela Merkel einen neuen Höchststand an Stimmen für die Christdemokraten erreicht: 41,5 Prozent. Da FDP, AfD und Piratenpartei die Fünfprozenthürde nicht nehmen konnten, wie auch alle anderen „Sonstigen“, sind 15,8 Prozent der Wähler nicht mit Abgeordneten im Parlament vertreten. Unter dieser Voraussetzung hatte es fast zur absoluten Mehrheit an Parlamentssitzen für CDU und CSU gereicht: Sie haben 311 Sitze von 630 (Mindestzahl ist 598, alles andere ist Folge des Berechnungssystems). Da die Verrechnung von Erst- und Zweitstimmen auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts geändert werden musste, sind erstmals die Überhangmandate – mehr errungene Direktmandate im Verhältnis zum prozentualen Anteil nach Zweitstimmen – durch sogenannte Ausgleichsmandate kompensiert worden. Nach dem alten System hätten die Christdemokraten eine Mehrheit von Sitzen erreicht, weil die anderen Parteien zusammen wohl nur 304 bekommen hätten; jetzt haben sie 319. CDU/CSU fehlen nun fünf Sitze an der absoluten Mehrheit.
In der Woche nach der Bundestagswahl wirken noch immer die Ungleichmäßigkeiten des Wahlkampfes nach. Die Christdemokraten haben mit der FDP ihren langjährig „natürlichen“ Koalitionspartner verloren. SPD, Grüne und Linke hatten im Kern Wahlkampf gegen die schwarz-gelbe Regierung gemacht. Zugleich hatten Sozialdemokraten und Grüne Wahlkampf gegen die Linke gemacht und den Wählern einzureden versucht, es könnte für SPD-grün reichen. Und das, obwohl jeder, der die vier Grundrechenarten beherrscht, seit Monaten wusste, dass alles Mögliche, nur das nicht, der Fall sein werde. Deshalb gibt es jetzt eine knappe rechnerische Mehrheit für die drei Parteien, die jedoch politisch nicht umsetzbar ist. Jedenfalls erklären auch nach der Wahl Vertreter von SPD und Grünen, sie hätten „ihren Wählern“ versprochen, nicht mit der Linken koalieren zu wollen – der „Fall Ypsilanti“ lässt grüßen, der aber nichts anderes war, als ein Erpressungsvorgang des bürgerlichen Lagers, ein Zusammengehen der drei Parteien zu verunmöglichen.
Gleichzeitig spielen die Sozialdemokraten mit 25,7 Prozent Wähleranteil – trotz aller dicken Backen, die jetzt gemacht werden – in einer anderen Liga als die Christdemokraten. Ohne Verständigung mit der Linken wird es aller Voraussicht nach auch in absehbarer Zeit keinen sozialdemokratischen Bundeskanzler geben (eine Kanzlerin ist hier mitgedacht). Zugleich blieben die Grünen weit unter ihren Erwartungen. Gewiss, die bösartige Päderasten-Kampagne der Gegenseite und einiger Medien spielte eine Rolle. Vieles aber war hausgemacht. Das bürgerliche Lager hackte auf einem schlecht kommunizierten Steuerkonzept und dem vegetarischen Tag herum. Aber die eigene „Und-Du-Kampagne“ suggerierte auch den Wählern, dass die Grünen nur gewählt werden wollten, um anschließend die Bevölkerung umzuerziehen. Am Ende blieben von den erwarteten fast zwanzig Prozent gerade mal 8,4 Prozent realer Wählerzustimmung – die kleinste Fraktion, nach der Linken, wie zuvor.
Angela Merkel braucht jetzt aber eine Mehrheit im Deutschen Bundestag, um weiterregieren zu können. Bei den Grünen ist inzwischen die ganze bisherige Führungsriege zurückgetreten; es ist unklar, wer Vollmacht und politischen Einfluss genug haben wird, um mit einer gestärkten Merkel zu verhandeln. Und am Ende will man nicht ausgesaugt im Spinnennetz hängen, wie derzeit die FDP. Auch die SPD ziert sich, obwohl angeblich die Mehrheit der Wähler die „Große Koalition“ bevorzugt. Sie hatte bereits in der Koalition 2005-09 verloren. Und wenn sie auf die Kanzlerschaft nach 2017 schielen will, kann das jetzt nur stören. Hinzu kommt: wenn die SPD in die Regierung geht, ist Gregor Gysi der Oppositionsführer, weil die Linke dann die stärkste Oppositionspartei ist. Für die Wähler 2017 wäre die Kontur der SPD und ihre Differenz zur CDU/CSU um so weniger sichtbar, während die Linke vier Jahre lang ihr Profil schärfen könnte, auch gegenüber der SPD. Außerdem hat die größte Oppositionspartei im parlamentarischen Betrieb bestimmte Vorrechte. Zum Beispiel stellt sie den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, was eine ziemlich wichtige Position ist: Der Haushalt konturiert in hohem Maße Politik. So würde die SPD die Rolle der großen Oppositionspartei gern selbst spielen. Sie könnte sich mit Blick auf 2017 zu profilieren versuchen und die Linke als kleinere Oppositionspartei verschwände, zumindest für einen Teil der Medien, hinter ihrem breiten Rücken.
Gewissermaßen findet derzeit ein Wettlauf zwischen SPD und Grünen statt, wer sich besser davor drücken kann, in die Regierung zu gehen. Die großen Medien und Angela Merkel werden, je länger sich das hinzieht, mit dem Argument der staatspolitischen (früher hätte man gesagt: vaterländischen) Verantwortung hantieren: Dieses große Land in der Mitte Europas, das von erheblichem Einfluss auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union ist, braucht eine starke, stabile Regierung. Gewiss, das Wahlergebnis ist eine ausdrückliche Unterstützung eines großen Teils der Wähler auch für die Euro- und Europapolitik der Kanzlerin. Oder, mit anderen Worten: Die deutsche Hegemonialpolitik in Europa kann sich auf das Wählervotum stützen. Und sowohl SPD als auch Grüne hatten den „Rettungspaketen“ in der vorigen Legislaturperiode zugestimmt. Warum also sollten sie das in der Regierung nicht tun können?
In Skandinavien gab es in solcher Situation zuweilen eine andere Praxis: Fünf oder sechs SPD-Abgeordnete bekommen den Auftrag, aus der Fraktion unter Mitnahme des Mandats aus- und in die CDU-CSU-Fraktion einzutreten. Aus „vaterländischer Verantwortung“ natürlich, weil die Parteiführung sich so ziert. Parteioffiziell werden sie als Abtrünnige beschimpft, sichern aber vier Jahre lang die Regierungsmehrheit. Und SPD wie Grüne haben Zeit, ihre Wunden zu lecken und sich auf 2017 vorzubereiten. Auch dann jedoch hängt alles weitere nicht nur von ihnen ab: Über das Schicksal der Regierung von Angela Merkel entscheidet letztlich die Entwicklung von Weltwirtschaft und Weltfinanzen und ihr Vermögen, das Schiff weiter durch die Untiefen zu lenken. Und über die Möglichkeiten einer Alternative die Fähigkeit von SPD und Grün, ihr Verhältnis zur Linken zu entkrampfen.
Aber die „skandinavische Lösung“ wird ausfallen. So viel Phantasie hat in Deutschland kein Politiker. SPD und Grüne werden also noch eine Weile Mikado spielen: Wer sich zuerst bewegt, geht in die Regierung.