Feuer frei auch im Inland

Die Bundeswehr darf auch bei einem „Unglücksfall“ im Inland mit militärspezifischen Waffen eingesetzt werden. Das hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am 3. Juli 2012 entschieden; der Beschluss wurde am 17. August 2012 veröffentlicht (Az. 2 PBvU 1/11). Hintergrund der erst fünften Plenarentscheidung in der Geschichte des Gerichts ist der Streit seiner beiden Senate um die Auslegung von Art. 35 Grundgesetz (GG). In seiner vielbeachteten Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hatte der Erste Senat 2006 nicht nur entschieden, dass der Abschuss einer entführten Passagiermaschine mit der Menschenwürde (Art. 1 GG) unvereinbar sei. Er hatte auch festgestellt, dass ein Einsatz der Bundeswehr mit „spezifisch militärischen Waffen“ aufgrund der Bestimmungen des Art. 35 GG bei „Katastrophennotstand“ ausgeschlossen sei. Die Bundeswehr dürfe hier allenfalls zur Unterstützung der Polizei eingesetzt werden. Mit Letzterem wollte sich der Zweite Senat nicht abfinden: Seinerseits aufgrund einer abstrakten Normenkontrolle der Landesregierungen Hessens und Bayerns mit der Verfassungsmäßigkeit weiterer Bestimmungen des Luftsicherheitsgesetzes befasst, wollten die Richter_innen 2010 von der Entscheidung ihrer Kolleg_innen abweichen. Zur Klärung musste eine Entscheidung des Plenums her.

Diese fiel nun zugunsten der einsatzfreudigen Ansicht des Zweiten Senats aus: Eine in der Entscheidung nicht bezifferte Mehrheit der Richter_innen sah einen Bundeswehreinsatz auch mit „spezifisch militärischen Waffen“ von Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG gedeckt. Zwar dürfe dieser nur unter Beachtung enger Voraussetzungen erfolgen und insbesondere nicht die in Art. 87a Abs. 4 GG vorgesehenen Voraussetzungen für den Bundeswehreinsatz im Rahmen des „inneren Notstands“ unterlaufen. Insbesondere bei demonstrierenden Menschenmengen sei ein Militäreinsatz ausgeschlossen. Bei Beachtung dieser Voraussetzungen könne die Bundeswehr aber das ihr zur Verfügung stehende Waffenarsenal ausnutzen.

Scharfe Kritik erfährt diese Auffassung in der abweichenden Meinung des Richters Gaier: Im Ergebnis betrieben seine Kolleg_innen eine Verfassungsänderung. Der militärische Bundeswehreinsatz im Inneren sei bei Ergänzung des Grundgesetzes um die Notstandsbestimmungen im Jahr 1968 bewusst nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 87a Abs. 4 GG für zulässig erklärt worden. Die gegenteilige systematische und historische Argumentation der Gerichtsmehrheit sei verkürzt und ergebnisgeleitet. Herrn Gaier kann insoweit nur beigepflichtet werden.

Thorsten Deppner, Berlin