Scheitern der Demokratisierung in Syrien

Obwohl das Ende Baschar al-Assads vielerorts vorhergesagt wurde, kann sich der syrische Präsident  bislang an der Macht halten. Nach eineinhalb Jahren des gewaltsamen Umsturzversuchs, begleitet von blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung von sowohl der syrischen Armee als auch der Rebellen, scheint es mittlerweile,  als hätten die Regierungstruppen in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen die Oberhand gewonnen. Hierfür sprechen einige Indizien: Die Freie Syrische Armee (FSA) musste sich offenbar aus der zweit- größten Stadt des Landes, Aleppo, weitestgehend zurückziehen.1

Sie drohte jüngst sogar, 48 iranische Geiseln zu ermorden, wenn die Regierungstruppen ihre Angriffe auf die Rebellen nicht ein- stellen.2  Während Riad offenbar bereits Waffen an die Rebellen liefert,3  fordern Katar und Saudi-Arabien, die FSA mit schweren Waffen auszustatten.4 Die Türkei wiederum versuchte die Rebellen zu entlasten, indem sie unter dem Vorwand von syri- schem Raketenbeschuss Panzer an ihrer Grenze aufrücken ließ und so den Druck auf Assad erhöhte. Doch ob Assads Armee hinter dem Beschuss steht, ist fraglich. So schrieb die türkische Zeitung Yurt, dass die eingeschlagenen Raketen aus NATO- Beständen gekommen seien, die der FSA überlassen wurden.5

Bemerkenswerterweise  betonte auch Mark Hertling, Ober- kommandierender  der US-Armee in Europa, die USA seien sich nicht sicher, ob der Beschuss von der syrischen Armee, von Rebellen, welche die Türkei in den Konflikt ziehen wollen, oder von der PKK ausging.6  Darüber hinaus berichtete das israelische Nachrichtenportal Debka, die Zahl der Rebellen sei zu niedrig, um Assad besiegen zu können.7 Diese Punkte deuten darauf hin, dass es um die Lage der Rebellen schlecht bestellt ist. Wie konnte es trotz massiver Unterstützung der Aufständischen aus Europa und den USA sowie des Golf-Kooperationsrats (GCC) und der Türkei dazu kommen?

Konfliktanalyse greift zu kurz

Eindimensionales strategisches Denken wird nicht helfen, den Konflikt zu verstehen. Zugegeben: Die vereinfachende Analyse ist eingängig. „Die Zukunft darf nicht einem Diktator gehören, der sein Volk massakriert“8, so US-Präsident Obama. Sie darf keinem Diktator gehören, der gleichzeitig enger Verbündeter Irans und dessen libanesischen Handlangers Hisbollah ist. Mit der Beseitigung Assads verhilft man dem syrischen Volk zu Demokratie, isoliert den Iran und verhilft Israel zu mehr Sicher- heit. Man schlägt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe – wie  praktisch. Doch in  der Realität ist  Assads Herrschaft sowohl im Inland als auch international stärker verwurzelt, als es die Unterstützer der Aufständischen annahmen. Nachdem im Zuge der NATO- beziehungsweise  US-Einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak die Gegebenheiten vor Ort grundlegend missverstanden wurden, wiederholt sich in Syrien offenbar Geschichte.

Hafez al-Assad, Vater des heutigen Präsidenten,  gelang es, den ethnisch-religiösen Mix des Landes zu seinen Gunsten zu nutzen. So steht das System von Vater und Sohn Assad für eine Balance zwischen sunnitischer Bevölkerungsmehrheit  und der Vielzahl von Minderheiten einschließlich  Christen, Kurden, Alawiten, Schiiten, Jesiden und Drusen. Darüber hinaus ist ein nicht unbedeutender Teil der etwa 60 Prozent sunnitisch-arabi- schen Syrer Anhänger eines säkularen Staates und profitiert in diesem Sinne von der Kooperation mit dem Assad-System. Dies erklärt, warum die Aufständischen  in Syrien – im Gegensatz zu den Revolutionären Ägyptens und Tunesiens – nicht ausrei- chend Unterstützung aus den Reihen der Bevölkerung erhalten, um Assads Regime zu stürzen. Die Visionen von FSA, Muslim- brüdern und al-Qaida finden nicht den gewünschten Widerhall bei der breiten Masse der Syrer.

Auch international ist Assads Herrschaft fester verwurzelt als gemeinhin angenommen. Es ist bei Weitem nicht nur der Iran, der ein fundamentales Interesse am Erhalt des Assad-Systems hat. China und insbesondere Russland verstehen die Demokratisierung Syriens schlicht als Versuch der Etablierung eines prowestlichen Regimes. Nach russischem Verständnis gingen Frankreich, Großbritannien und die USA in Libyen weit über das Mandat der Vereinten Nationen hinaus und setzten statt einer Flugverbotszone einen regime change durch. Da sich dies in Syrien, wo Russland den einzigen Zugang zu einem Mittelmeerhafen besitzt, unter keinen Umständen wiederholen soll, stemmt sich Moskau im UN-Sicherheitsrat  vehement gegen jegliche Initiativen Europas und der USA.9

Interessanterweise  hat ein weiterer Staat ein starkes Inter- esse  am  Verbleib  Assads:  Nach  der  Machtübernahme in Kairo möchten die Muslimbrüder den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag  „überprüfen“.10 Ebenso sprach ein führender Kader der ägyptischen Muslimbrüder im Rahmen der Ernennung Mohammed Mursis zum Präsidenten davon, sich für die „Vereinigten  Staaten von Arabien mit Jerusalem als Haupt- stadt“ einsetzen zu wollen.11 Es ist offensichtlich, warum Israel angesichts solcher Worte kein Interesse an  einem Sieg der Muslimbrüder in Damaskus haben kann – zumal deren jorda- nischer Ableger ebenfalls vermehrt aktiv wurde. Israels poten- zieller Nutzen an einem Machterhalt Assads wird auch dadurch deutlich, dass beide Staaten vor Beginn des Aufstands offenbar über einen Friedensvertrag im Austausch für die Golanhöhen verhandelten.12  Mit von Ankara und Kairo gestützten Muslim- brüdern wäre eine solche Übereinkunft unmöglich. Schließlich dürfte die mittel- bis langfristig  mögliche Einkreisung  durch Regierungen der Muslimbruderschaften in Ägypten, Jordanien und Syrien in Israel wenig Freude hervorrufen.

So versuchen unabhängig voneinander sowohl der Iran als auch Israel einen Sturz Assads zu verhindern. Die Konvergenz ihrer Interessen zeigt sich in der Türkei, die sich als Dreh- und Angelpunkt der internationalen  Unterstützung  der syrischen Aufständischen versteht. Es gibt Anzeichen, dass sowohl Tel Aviv als auch Teheran die kurdische PKK unterstützen, die in den vergangenen Monaten vermehrt Anschläge in der Türkei verübte.13 Angriffe und Anschläge der PKK richteten sich bislang nicht gegen größere Städte und Touristenzentren.  Bei zunehmen- der Verschärfung des Syrienkonflikts kann jedoch eine Eskala- tion der Gewalt in der Türkei mit großer Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Letztlich können sich aber auch Katar und Saudi-Arabien  vor Anschlägen in ihren Ländern nicht sicher wissen. Die Sabotage von Öl- und Gasförderstätten, Bomben- attentate oder das Anfachen von Protesten ließe sich auch dort ohne größere Probleme bewerkstelligen.

Spiel mit dem Feuer

Mit Blick auf das Eskalationspotenzial  des Konflikts sowie den ethnischen Mix Syriens und die Unterstützung  Assads stellt  sich  die  Frage,  was  wir,  Deutsche und  Europäer, uns  von   der   einseitigen  Unterstützung der   Aufständi- schen versprechen.  Im unwahrscheinlichen  Fall, dass Assad gewaltsam gestürzt werden sollte, droht Syrien anstelle einer Demokratisierung die  Balkanisierung –   ein  Aufbrechen des Staates verbunden mit  interreligiösen  und interethni- schen Konflikten. Die Minderheiten würden ein von arabi- schen Sunniten dominiertes,  islamisches Staatsmodell  nicht hinnehmen. Nach den fehlgeschlagenen Unternehmungen in Afghanistan und im Irak würde der Westen ein weiteres Land der Region zu Tode demokratisieren. Angesichts dessen kann der  militärisch gestützte Versuch, eine  Demokratisierung Syriens zu erreichen, bereits jetzt als gescheitert betrachtet werden. Doch es geht bei Weitem nicht um Syrien allein. Wie würde es um die Sicherheit Israels bestellt sein, wenn in Kairo und Damaskus Muslimbrüder  das Sagen hätten? Was würden zwei autonome Kurdengebiete im Irak und in Syrien für die Türkei bedeuten? Erwarten wir ernsthaft, dass Iran und Russland den Verlust eines Verbündeten ohne Revanche hinnehmen würden? Was gedenken wir zu tun, wenn plötz- lich in Istanbul, Riad oder Doha Bomben hochgehen? Falls es auf diese Fragen Antworten gibt, hat sie bislang noch kein europäischer Politiker ausgesprochen.

Die  einseitige Unterstützung der  Aufständischen  in  Syrien heizt  einen  Konflikt an,  der  sich  zu einem regio nalen  Flächen­ brand  entwickeln kann- unabhängig von  der  Frage, ob Assad bleibt  oder   nicht.   Aus  dieser   Lage  gibt   es  keinen   einfachen Ausweg.  Lediglich  eine   Notlösung scheint Syrien  und die Region vor Schlimmerem bewahren zu können: das libanesische Modell. Dabei  würden den  verschiedenen Konfessionen und Ethnien bestimmte Verantwortlichkeiten im  Staat  per  Verfas­ sung garantiert. Assad  könnte einem  solchen  System  als Präsi­ dent vorstehen. Die Vielzahl  von Minderheiten würde  geschützt und  gleichzeitig wäre  der  arabisch-sunnitischen Bevölkerungs­ mehrheit zu mehr  Rep räsentation im Staat  verholfen.

Europa kann und sollte sein Gewicht zu einer Entschärfung des Syrienkonflikts einsetzen. Damit wäre nicht nur Syrien arn meisten geholfen. Das Verhindern  eines  regionalen  Flächen­brands sollte im Interesse aller Beteiligten sein.

 

Beschützer der Heimat, seid gegrüßt.

 

Die edlen Seelen lassen sich nicht demütigen. Zuflucht des Arabertums, geheiligter Bezirk, Thron der Sonnen, unzerstörbarer Hort.

Die Gefilde Syriens sind Türme der Höhen, Sie ähneln dem Himmel im höchsten Glanz.

Ein Land,das erglänzt mit strahlenden Sonnen,

 

Ein Himmel ist's, oder doch wahrlich wie der Himmel!

 

Syrische Nationalhymne (1928, erste Strophe)

Anmerkungen

1      Vgl. http://www.guardian.co.uk/world/2012/aug/09/syrian-rebels-withdraw-fighters-aleppo (abgerufen am 01.10.2012).

2      Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrische-rebellen-drohen-mit-ermordung-von-iranischen- geiseln-a-859699.html (abgerufen am 03.10.2012).

3      Vgl. http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-19874256 (abgerufen am 03.11.2012).

4      Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/konflikt-in-syrien-arabische-staaten-fordern-schwere-waffen- fuer-syrische-rebellen-1.1489097 (abgerufen am 27.08.2012).

5      Vgl. http://rt.com/news/nato-mortar-syria-turkey-954/ (abgerufen am 15.10.2012).

6      Vgl. http://www.hurriyetdailynews.com/origin-of-syrian-shells-into-turkey-unclear-us-general-says.aspx

(abgerufen am 03.11.2012).

7      Vgl. http://www.debka.com/article/22440/ (abgerufen am 20.08.2012).

8      http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2012/09/25/remarks-president-un-general-assembly (abgerufen am 11.10.2012).

9      Vgl. http://english.alarabiya.net/articles/2012/06/09/219590.html (abgerufen am 20.10.2012).

10    http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/49992/Egypt/Politics-/Brotherhood-urges-reassess- ment-of-Camp-David,-deno.aspx (abgerufen am 05.10.2012).

11    http://www.bbc.co.uk/persian/world/2012/08/120822_l72_egy_muslim_vid.shtml (abgerufen am 17.09.2012).

12    Vgl. http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4291337,00.html (abgerufen am 12.10.2012).

13    Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/israelisch-tuerkischer-streit-strategie-der-gefaehrlichen- nadelstiche-a-785358.html; http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/turkey/9518194/ Syria-and-Iran-backing-Kurdish-terrorist-group-says-Turkey.html (abgerufen am 03.11.2012).

 

Erschienen in: WeltTrends • Zeitschrift für internationale Politik • 87 • November/Dezember 2012 • 20. Jahrgang • S. 83-87