"Jede Weltanschauung produziert ihr eigenes Recht."

Interview mit Dr. Heinz Düx

In diesem Jahr jährt sich der Beginn des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses zum 50. Mal. Grund genug, mit Herrn Dr. Heinz Düx, dem damals zuständigen Untersuchungsrichter und späteren Vorsitzenden eines Wiedergutmachungssenats beim Oberlandesgericht Frankfurt, zu sprechen: über seine juristische Tätigkeit, die ihm bei seiner Arbeit entgegentretenden Widerstände, sowie seine persönliche Einschätzung der Bereitschaft Deutschlands, seine Verbrechen aufzuarbeiten.
Die sogenannten Frankfurter Auschwitz-Prozesse waren die ersten Gerichtsprozesse deutscher Strafgerichte über die Verbrechen Deutschlands in der  Zeit des Nationalsozialismus. Zwar hatte es mit den Nürnberger Prozessen von 1945 bis 1949 bereits Verurteilungen von Nazis gegeben. Jedoch fanden diese stets vor ad-hoc-Gerichten der alliierten Siegermächte statt und waren somit der „gewöhnlichen“ Strafjustiz, insbesondere der deutschen, enthoben. Zudem wurden in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen in erster Linie Personen der nationalsozialistischen Führungselite abgeurteilt. Im  Rahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, des größten und aufwendigsten seiner Art, wurde die Brutalität und das bestialische Vorgehen „gewöhnlicher Deutscher“ in den Konzentrationslagern im Allgemeinen und in Auschwitz im Besonderen erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor Augen gehalten. Ursprünglich angeklagt waren 22 Personen, unter ihnen Landwirte, Handwerker, Hausmeister, Kaufleute, Krankenpfleger sowie Ärzte und Apotheker, mithin ein Querschnitt der deutschen Bevölkerung. Letztlich kam es zu sechs lebenslänglichen Zuchthausstrafen, einer zehnjährigen Jugendstrafe sowie zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Herr Düx, Sie haben noch während der Zeit des Nationalsozialismus angefangen, in Marburg Jura zu studieren. Mit welcher Intention?
Das hängt damit zusammen, dass ich ja während der NS-Zeit zur Schule gegangen bin, 1942 Abitur gemacht habe und schon von Kindheit an eine Aversion gegen das damals herrschende System hatte. Ich bin nie Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation geworden und habe mich wegen einer Lungenkrankheit erfolgreich dem Jugenddienst und der Wehrpflicht entziehen können. Ich habe mir dann gesagt, wenn das NS-Regime weiter fortgeführt würde, könnte ein Jurastudium letztlich nur hilfreich sein. Denn ich hatte vor, Rechtsanwalt zu werden. Und als Rechtsanwalt hat man ja auch in einem autoritären Staat immer noch einige Handlungsmöglichkeiten. Das schwebte mir damals so allgemein vor, obwohl ich mir noch keine konkreten Vorstellungen machen konnte, wie das nun alles laufen würde.

Sie hatten also nicht von Anfang an vor, in den Staatsdienst zu gehen?
Nein, das habe ich damals noch nicht in Betracht gezogen. Als ich im November 1950 das zweite Staatsexamen gut bestanden hatte, wurde mir von Staatsseite angetragen, ob ich nicht in den Staatsdienst gehen wolle. Ich bin dann zunächst in Kassel zu einer Rückerstattungskammer gekommen, wo ich allerdings nur einige Monate blieb. Danach war ich für kurze Zeit im Justizministerium tätig, wo ich auch mit Wiedergutmachung beschäftigt war. Dort  lernte ich einen Rechtsanwalt aus Frankfurt kennen, der vor dem Krieg Börsenkommissar in Frankfurt gewesen war. Der hat mich dann in seine Kanzlei geworben, wo ausschließlich Rückerstattungssachen für bekannte jüdische Familien aus Frankfurt, zum Beispiel für den Baron Albert von Goldschmidt- Rothschild, bearbeitet wurden. So bin ich dann mit dieser Materie hundertprozentig vertraut geworden. Dieser Anwalt starb dann bereits im Jahre 1951, woraufhin ich auf Anraten eines Ministerialrates zurück in den Staatsdienst gegangen bin. Dort konnte ich dann direkt als beauftragter Richter anfangen und wurde ungefähr ein Jahr später zum Landgerichtsrat ernannt. Und als solcher habe ich dann die Voruntersuchung in den Auschwitz-Prozessen geführt.

Sie waren als Ermittlungsrichter in den Auschwitz-Prozessen sowie in einigen Euthanasie-Verfahren tätig. Was war ihre Aufgabe als Ermittlungsrichter in der gerichtlichen Voruntersuchung?
Bei allen Kapitalverbrechen, bei denen der Tatbestand nicht ganz offen zutage trat, sondern gewisse Ermittlungen erforderlich waren, war es zwingend vorgeschrieben, eine gerichtliche Voruntersuchung einzuleiten. So war das selbstverständlich auch bei dem schwierigen Komplex der Verfahren zu Auschwitz. Vorher hatte die Staatsanwaltschaft schon ermittelt und musste dann die gerichtliche Voruntersuchung beantragen. Zu diesem Zeitpunkt bestanden die Akten schon aus circa 50 Bänden, und ich habe in den anderthalb Jahren der gerichtlichen Voruntersuchung noch 25 Bände hinzugefügt. Ich habe alle Angeklagten und zahlreiche Zeugen vernommen. Außerdem habe ich eine Tatortbegehung als private Reise nach Auschwitz unternommen, um die Aussagen der Angeschuldigten und Zeugen zu überprüfen. Zum Beispiel musste ich zur Verifizierung von Zeugenaussagen prüfen, ob man von einer bestimmten Stelle im Stammlager die sogenannte „schwarze Wand“ sehen konnte.[1] Im Zusammenhang mit meinen Ermittlungen bin ich dann auch in intensiven Kontakt mit dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer geraten, der mir politisch sehr nahe gestanden hat.

Ist Ihnen die Arbeit in Hinblick auf die sicherlich grausamen Ermittlungsergebnisse schwergefallen?
Die Arbeit hat mich persönlich eigentlich nicht sehr belastet. Denn ich hatte ja von dem System nie etwas gehalten und seine Gewalttätigkeit war mir aus persönlichen Erfahrungen schon als Jugendlicher geläufig. Ich wusste schon, wie es in dem NS-Staat zuging und habe deshalb diese gerichtliche Voruntersuchung auch mit Nachdruck verfolgt. Ich habe es als selbstverständlich empfunden, dass so etwas in einem faschistischen System geschieht. Sowohl Sie, als auch der damalige Generalstaatsanwalt des Landes Hessen, Fritz Bauer, setzten sich entgegen einiger Widerstände erfolgreich dafür ein, dass es zu einem großen anstatt mehrerer kleiner Strafprozesse kam.

Die Angeklagten wurden also gemeinsam und nicht individuell abgeurteilt. Was war der Gedanke dahinter?
Der Sinn der Sache war, dass eine strukturelle Aufklärung stattfinden sollte. Es sollte die Struktur eines Konzentrationslagers aufgezeigt werden. Außerdem sollte gezeigt werden, dass das deutsche Volk in seiner Mehrheit in diese Verbrechen involviert war. Diese Aufklärung ist ja bis zu einem gewissen Grade auch gelungen. Aber es hätte alles noch viel besser sein können, wenn nicht die Widerstände gewesen wären.

Was waren das für Widerstände? Aus welcher Richtung kamen sie und wie haben sie sich geäußert?
Fritz Bauer war ja Emigrant gewesen und hatte in Dänemark und Schweden gelebt. Er war für die alten Richter natürlich ein rotes Tuch. Darauf ist auch seine Äußerung zurückzuführen „wenn ich mein Dienstzimmer oder meine Wohnung verlasse, befinde ich mich im feindlichen Ausland“. Ich habe das genauso empfunden. Mir ist, wenn auch nicht in der gleichen Intensität, der gleiche Widerwille entgegengebracht worden. Es wurden einem wo es ging Steine in den Weg gelegt. Angriff e kamen meist aus dem konservativen Lager, hauptsächlich von der CDU. Später, 1975, gab es sogar eine große Landtagsanfrage, veranlasst von dem späteren Kanzleramtsminister Friedrich Bohl, die darauf gerichtet war, mich aus dem Dienst zu entfernen. Das sollte mich mundtot machen, ist aber fehlgeschlagen.

Wie hat aus Ihrer Sicht die Öffentlichkeit der jungen Bundesrepublik den Prozess aufgenommen? Wurde er überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt?
Ja, denn über den Prozess wurde in Tageszeitungen berichtet. Insbesondere die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Allgemeine Zeitung haben sich intensiv damit befasst. Ein Redakteur der Frankfurt Allgemeinen Zeitung hat später sogar ein Buch über den Prozess herausgebracht. Das muss man lobend anerkennen. Dabei dürfte aber auch eine Rolle gespielt haben, dass der Auschwitz-Prozess durch das Internationale Auschwitz-Komitee unter Führung des Generalsekretärs Langbein, der selbst Häftling in Auschwitz gewesen war, auch die internationale Öff entlichkeit mobilisiert hat. Das war für den Prozessverlauf ein großer Vorteil. Denn daher konnte man in Deutschland nicht so tun, als ob das alles nebensächlich sei, sondern musste auf das Ausland Rücksicht nehmen. Deshalb hat der Prozess auch in die öffentlichen Medien einen gewissen Eingang gefunden.

Es existieren Filmaufnahmen, auf denen ein Justizwachmann vor dem angeklagten SS-Offizier Willi Schatz salutiert. Wie haben Sie die damalige Gesellschaft wahrgenommen? Ist dieses Bild beispielhaft für Ihre Erfahrungen?
Ich habe so etwas selber nicht mitbekommen, aber es wundert mich gar nicht. Es deckt sich mit dem, was ich mitbekommen habe. Es gibt  Untersuchungen von Ingo Müller über die Zusammensetzung der Justiz unmittelbar nach Kriegsende. Daraus ergibt sich, dass zum Beispiel in Bayern  etwa 80 Prozent der Richter frühere NSDAP-Mitglieder gewesen sind. In diesem Milieu lebte man damals eben, und man hat sich nichts Besonderes dabei gedacht, sondern es als selbstverständlich hingenommen. Die 80 bis 90 Prozent des deutschen Volkes, die dem Nationalsozialismus gefolgt waren,  wurden nun mal nicht mit einem Schlag beseitigt. Im Grunde genommen ging das auch immer so weiter. Eine Rückbesinnung hat erst durch die  Studierendenunruhen ab 1968 stattgefunden. Das hat sicherlich dazu geführt, dass ein gewisses Bewusstsein in die Bevölkerung hineingetragen wurde. Entscheidend war, dass ein Großteil der damaligen jüngeren Generation endlich mal nach der Schuld ihrer Väter gefragt hat.

Hat das in Ihren Augen eine nachhaltige Änderung in der Justiz herbeigeführt?
Natürlich haben von den jüngeren Leuten, die Jura studiert haben, auch einige die Richterlaufbahn eingeschlagen. Das hat zu einer gewissen Aufweichung der verkrusteten Strukturen geführt. Aber eine definitive Beseitigung von rückständigen Ideen war das nicht. Es ist nur etwas besser geworden. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Kürzlich hat sogar Angela Merkel vor dem Zentralrat der Juden gesagt, der Antisemitismus in Deutschland sei immer noch in massiver Form vorhanden. Und das stimmt natürlich.

Waren Sie mit dem Ausgang der Prozesse zufrieden?
Im Prinzip schon. Man kann ja immer sagen, es hätte alles viel schlechter laufen können. Bei mir sind ungefähr 30 Angeschuldigte durchgelaufen. Von denen haben 6 lebenslängliche Haftstrafen bekommen und 3 wurden freigesprochen. Die restlichen Angeklagten bekamen Zuchthausstrafen von 3 bis 15 Jahren. Für die damalige Zeit war das ein normales Ergebnis.

Haben Sie die Freisprüche der Angeklagten Willi Schatz, Arthur Breitwieser und Johann Schobert – jeweils aus Mangel an Beweisen – damals als gerecht empfunden?
Nein, das habe ich nicht. Das Problem war, dass wir die Prozesse mit Hilfe des nationalen Strafrechts führen mussten. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn man die Prozesse aufgrund des Statutes des Internationalen Militärgerichtshofes (IMG) durchgeführt hätte. Diese Möglichkeit bestand aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10, durch das die Mächte der Anti-Hitler-Koalition den deutschen Gerichten die Möglichkeit verschafft hatten, die Grundsätze des Statutes des IMG auch auf Verfahren in Deutschland anzuwenden. Dieses Kontrollratsgesetz Nr. 10 ist bei den reaktionären Kräften natürlich auf tiefste Ablehnung gestoßen. Dort hieß es dann, es handele sich um ein Gesetz, das nicht dem deutschen Rechtsdenken entspräche. Es wurde bald nach Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik durch ein Gesetz zur Aufhebung von Besatzungsrecht in aller Stille beseitigt. Wenn man die Prinzipien des Statutes des IMG auf den Auschwitz-Prozess hätte anwenden können, wäre der Prozess sicherlich binnen kürzester Frist mit entsprechenden Urteilen erledigt gewesen. Denn man konnte ja davon ausgehen, wer in Auschwitz tätig gewesen war, der war auch Gehilfe…

Beeindruckend, dass so kurz nach dem Ende des NS-Regimes bereits wieder das deutsche Rechtsdenken als Argument ins Feld geführt wurde.
In der Tat. Fünf Jahre nach Ende des Hitler-Regimes war das natürlich eine Blasphemie ohnegleichen.

Haben Sie noch Erinnerungen an den Vorsitzenden Richter Hofmeyer, der den ersten Auschwitz-Prozess leitete?
Ja. Der Richter Hofmeyer war damals ja schon 50 oder sogar 60 Jahre alt. Nach meiner Einschätzung war das ein Wertkonservativer. Mit wertkonservativen Personen umzugehen ist an und für sich angenehm. Die unangenehmen Typen sind ja die sogenannten Kleinbürger, die alle nach oben wollen. Von denen wimmelt es in der Justiz. Mit den Wertkonservativen konnte ich besser umgehen. Ich habe gegen den Hofmeyer persönlich nichts vorzubringen. Allerdings hatte ich auch Kontakt zu dem früheren polnischen Untersuchungsrichter Professor Dr. Sehn von der Universität Krakau, der als junger Mann die Untersuchung gegen den ersten Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höss, geführt hat. Professor Sehn erzählte mir, Hofmeyer habe ihn anlässlich eines Fachgespräches behandelt, als habe er einen Volksrichter vor sich, also als wenn Professor Dr. Sehn juristischer Laie wäre. Wie das zustande gekommen ist weiß ich allerdings nicht. Ich habe es damals registriert, und habe mir kein weiteres Bild von der Sache gemacht.

Hofmeyer war aber wahrscheinlich unbelastet?
Ja. Wenn der Hofmeyer belastet gewesen wäre, dann hätte er den Prozess sicherlich nicht durchgestanden. Denn ich erinnere mich an einen Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht, bei dem es um ein Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ging. Bei diesem Prozess gab es einen Vorsitzenden, der höherer SA-Führer gewesen war. Im Laufe der öffentlichen Sitzung trat ein Angehöriger der VVN hervor und hat ihm seine Vergangenheit öffentlich vorgehalten. Die Verhandlung wurde unterbrochen und ist nie wieder aufgenommen worden. Später hat man das Vereinsgesetz geändert, um das Verfahren gegen die VVN in aller Stille einstellen zu können. Sie waren selber auch Mitglied in der VVN. Alleine diese Mitgliedschaft kann bekanntlich genügen, um den Verfassungsschutz auf sich aufmerksam zu machen.

Haben Sie sich jemals erkundigt, ob auch Sie beobachtet wurden?
Erkundigt im Sinne eines Auskunftsersuchens habe ich mich nicht. Aber ich kann dazu trotzdem Folgendes sagen: Meine Frau und ich waren auf einem Geburtstag des Leiters der Amtsanwaltschaft eingeladen, der ein Gesinnungsfreund von mir war. Dort hat der damalige Leiter des Verfassungsschutzes meine Frau angesprochen und gesagt, er wüsste alles über mich. Ich bin also wohl auch beobachtet worden.

Nach Ihrer Zeit am Landgericht Frankfurt waren Sie Vorsitzender Richter eines Zivilsenates des Oberlandesgerichts Frankfurt, der sich neben Wirtschaftssachen insbesondere auch mit Wiedergutmachung beschäftigte. Sie haben hierzu einmal gesagt, wichtiger als der Auschwitz-Prozess sei diese Arbeit gewesen.
Das stimmt und zwar aus folgendem Grund: Die Leute, die in Auschwitz gestorben sind, die kann man natürlich nicht wieder lebendig machen. Aber diejenigen, die durch Konzentrationslager und Verfolgung psychischen oder körperlichen Schaden erlitten haben, denen konnte man wenigstens noch etwas Gutes tun.

Wenn sie heute auf ihre Arbeit im Wiedergutmachungssenat zurückblicken: Wie erfolgreich waren Sie?
Die Wiedergutmachung war insofern nicht erfolgreich, als dass viele durch das NS-Regime verfolgte Gruppen benachteiligt oder überhaupt nicht berücksichtigt worden sind. Eine der Gruppen, die eigedacht gentlich nach dem Gesetz nicht hätte benachteiligt werden dürfen, aber faktisch besonders diskriminiert wurde, waren die Kommunisten. Die sind von allen politischen Gegnern besonders hart herangenommen worden. Es gab den § 6 Abs. 1 Nr. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), wonach von der Entschädigung ausgeschlossen war, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft hatte. Diese Norm war geradezu auf Kommunistinnen und Kommunisten zugeschnitten. Aber so lange ich Vorsitzender vom Wiedergutmachungssenat in Hessen war, ist bei uns kein einziges Verfahren dieser Art durchgelaufen. Das lag schon daran, dass die Wiedergutmachungsbehörde in Hessen, das damals ja stets sozialdemokratisch regiert war, den § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG einfach gar nicht angewendet hat. Aber von anderen Ländern wie Bayern und Niedersachsen ist es mir bekannt, dass viele von der Entschädigung ausgeschlossen wurden.

In dem 2011 veröffentlichten Dokumentarfilm von Wilhelm Rösing über Ihre Arbeit als Ermittlungsrichter äußern Sie, keines der Opfer habe eine hundertprozentige Entschädigung erhalten.
Das ist richtig. Das sehen Sie schon daran, dass ich nach meiner Pensionierung noch drei Mal im Bundestag als Sachverständiger zu  Wiedergutmachungsfragen gehört worden bin. Dabei ging es um die Verfolgten, die benachteiligt waren, weil sie gar nicht im Gesetz erwähnt wurden, wie zum Beispiel Homosexuelle, Wehrdienstverweigerer oder Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Zwar wurde das alles nachgeholt, man kann aber nicht sagen, dass diese Gruppen noch eine volle Entschädigung im zivilrechtlichen Sinne erhalten hätten. Im Grunde genommen war das, was diese Leute dann bekommen haben, nur ein Almosen. Und das Wiedergutmachungsrecht sollte ja eigentlich eine volle zivilrechtliche Entschädigung bewirken.

Was wäre denn eine volle zivilrechtliche Entschädigung gewesen?
Grundsätzlich natürlich eine Entschädigung nach den §§ 249 ff. Bürgerliches Gesetzbuch. Aber es ist auch schon im Entschädigungsgesetz gesündigt worden. Nach dem BEG gab es für einen Monat Haft, ganz gleich ob Konzentrationslager, Gefängnis oder Arbeitslager, 150 DM Entschädigung. Dabei ist es auch immer geblieben. Das ist natürlich bei der fortschreitenden Geldentwertung auch nur ein Hungerlohn.

War die deutsche Verwaltung und Justiz der 1950er und -60er Jahre also entgegen der nach außen gezeigten Bereitschaft, angemessene Entschädigung zu leisten, vom Willen geprägt, die deutschen Wiedergutmachungspflichten abzuwenden oder wenigstens gering zu halten?
Richtig. Die Bereitschaft zur Wiedergutmachung war zwar äußerlich vorhanden, es wurden aber Mittel und Wege gefunden, möglichst wenig Entschädigungsleistungen erbringen zu müssen. Im Prinzip kann man das Verhalten Deutschlands diesbezüglich mit der Redensart „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ zusammenfassen.

Hat sich in Bezug hierauf ihrer Meinung nach etwas geändert?
Das Wiedergutmachungsthema hat sich ja mittlerweile infolge Zeitablaufs weitestgehend erledigt. Es gibt ja nur noch wenige Leute, die dafür in Betracht kommen. Deshalb sind auch die genannten nachträglichen Regelungen für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Homosexuelle hinausgezögert  worden. Die meisten Verfolgten sind ja bereits tot.

In dem 2004 veröffentlichten Werk „Die Beschützer der willigen Vollstrecker“ gehen Sie ausgehend von Ihren persönlichen Innenansichten der bundesdeutschen Justiz hart mit allem Deutschen, insbesondere dem deutschen Bürgertum ins Gericht und attestieren die grundsätzliche Möglichkeit der Rückkehr des Faschismus in Deutschland aufgrund eines „eliminatorischen Kontinuums“. Halten sie daran fest?
Natürlich. Das hat ja, wie schon gesagt, selbst Frau Merkel mehr oder weniger in Betracht gezogen. Für mich sind die Deutschen ein unangenehmes, grausames Volk. Das habe ich in meiner Jugend schon so empfunden und empfinde es bis heute so. Ich halte auch die Thesen von Daniel Goldhagen in Bezug auf die Natur der Deutschen für nicht abwegig. Das kann man fast kabarettistisch beantworten: Die Deutschen sind ein Jägervolk. Judenjäger, Kommunistenjäger, Schnäppchenjäger.

Haben Sie Ihre These durch die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und die Verstrickung deutscher Behörden hierin bestätigt gesehen?
Was diese NSU-Geschichte angeht, lese ich nicht jeden Artikel, der dazu geschrieben wird. Mir wird da insgesamt zu viel geschrieben. Mich langweilt das. Ich halte es da mit dem alten jüdischen Schriftgelehrten Schamai, der sagte „rede wenig, tue viel“. Im Grunde genommen läuft in Deutschland alles  umgekehrt. Aber sicherlich, dieser Spaß am Morden ist noch da. Wer kennt nicht die Bilder mit den lachenden Deutschen, die sich darüber mokierten, wie die Aufgehängten baumeln. Das ist eine Mordsspaßgesellschaft gewesen. Man hat gemordet und hat dann den Spaß darüber gemacht. Und diese Spaßgesellschaft existiert auch heute noch.

In dem Film von Wilhelm Rösing sagen Sie, Deutschland habe wegen seiner Vergangenheit bis heute keine Legitimation, sich zu Menschenrechtsfragen zu äußern. Könnte man nicht auch umgekehrt argumentieren, dass Deutschland gerade wegen seiner Vergangenheit zur Wahrung der Menschenrechte besonders berufen ist?
Das könnte man sicherlich auch sagen, ja. Wenn ich davon gesprochen habe, dann war das natürlich auch eine Zuspitzung. Denn die vom NS-Regime Verfolgten haben natürlich das Recht, sich zu Menschenrechtsfragen zu äußern. Ich meinte eher diese typischen Kleinbürger, Karrieristen, die bis ins  Letzte von sich überzeugt sind und heute große Töne spucken, aber gerade diejenigen sind, die damals mitgemacht hätten.

Ihre Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte, ihre kritische Denkweise und ihr Durchhaltevermögen könnten jungen Studierenden der Rechtswissenschaften zum Vorbild gereichen. Was würden sie jungen kritischen Jurist*innen heute mit auf den Weg geben wollen?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich denke, junge Juristen und Juristinnen sollten sich vermehrt mit philosophischen Fragen befassen. Es stellt sich dann die Frage, ob man sich der idealistischen oder materialistischen Philosophie anschließt. Ich selber bin ja Anhänger der materialistischen Denkweise. Das idealistische Denken führt die Menschheit nicht weiter. Letztlich ist alles bestimmt von der Umwelt in der die Menschen leben. Auf der anderen Seite gibt es eine Wechselwirkung in der Subjekt-Objekt-Dialektik. Ganz auszuschließen ist das Idealistische daher auch nicht. Man sollte sich aber zumindest bemühen, sich auf einer Ebene zu bewegen, die das Profitdenken und die Verherrlichung des Individualistischen, was ja auch im Bürgerlichen Gesetzbuch teilweise anklingt, vermeidet. Letztendlich wäre es natürlich ideal, wenn es eine Gesellschaft gäbe, in der nicht mehr das materielle Gewinnstreben der ausschlaggebende Gesichtspunkt ist. Die materialistische Philosophie führt auf diesen Weg. Leider ist heute der Vulgärmaterialismus tonangebend. Als Juristin oder Jurist kann man aber zu der Zurückdrängung dieses Vulgärmaterialismus beitragen. Ferner denke ich, dass sich Juristen und Juristinnen die Relativität des Rechts bewusst machen sollten. Denn im Grunde genommen stellt die Juristerei keine Wissenschaft dar. Das Recht ist immer  interpretationsfähig und im Grunde vergleichbar mit der Theologie oder der Literaturauslegung. Wenn man ein verschwommenes Gedicht hat, wird man in jedem Fall zwei Literaturkritiker finden, die das Werk unterschiedlich interpretieren. Die beiden Interpretationen stehen sich dann gegenüber. So ist es letztlich auch im Recht. Es ist alles eine Frage der Interpretation. Jede Weltanschauung produziert ihr eigenes Recht.
Schließlich sollte man aber versuchen, so lange wie möglich auf Grundlage des Grundgesetzes zu argumentieren und nicht zu früh in eine zu starre oppositionelle Haltung zu verfallen. Das Grundgesetz bietet schon gute Ansätze. Mit dem marxistischen Professor Abendroth habe ich mich oft über die Frage ausgetauscht, welche Wirtschaftsform das Grundgesetz zulässt. Gemeinsam vertraten wir den Standpunkt, dass die Art. 14, 15 des Grundgesetzes nicht eine kapitalistische Wirtschaftsform festschreiben, sondern dass wirtschaftspolitische Neutralität gewährleistet ist. Insofern könnte auf Grundlage des Grundgesetzes auch der Übergang in eine sozialistische Wirtschaft vollzogen werden. Zwar ist aus interessierten Kreisen immer wieder versucht  worden, Begrifflichkeiten wie „Marktwirtschaft“, „Wachstumsstreben“ und dergleichen Verfassungscharakter zu verleihen. Das ist nach dem Wortlaut des Grundgesetzes aber Wunschdenken.

Hatte Ihre materialistische Weltanschauung auch Auswirkungen auf ihre praktische Tätigkeit, also auf von Ihnen gefällte Urteile?
Die Grundlage meiner Weltanschauung ist die historisch-materielle These: „Es ist nicht das Bewusstsein, das unser Sein bestimmt, sondern umgekehrt, das Sein, das unser Bewusstsein bestimmt.” Diese These führt dazu, dass der Resozialisierungsgedanke, der übrigens von Fritz Bauer in sehr ausgeprägter Form bedient worden ist, stets weitgehend Berücksichtigung finden muss. Natürlich stellt sich diesbezüglich die Frage, ob bei tausendfachen Mördern wie den NS-Gewaltverbrechern die Resozialisierung ein relevantes Instrumentarium ist. Meines Erachtens ist diese nur bei individuellen Straftaten in Erwägung zu ziehen und nicht bei Taten, die an sich nach dem Völkerstrafrecht zu ahnden sind. Für die Urteile im Auschwitz-Prozess war ich als Untersuchungsrichter aber natürlich gar nicht zuständig. In Verfahren, in denen ich die Urteile gefällt habe, habe ich aber den  Gedanken der Resozialisierung stets besonderer Berücksichtigung unterzogen.

Welche Perspektive sehen Sie für linke Politik?
Also, ich bin ja jetzt im 89. Lebensjahr und, wenn man alles in Betracht zieht, kann man natürlich schon in eine gewisse Resignation verfallen. Es gab und gibt in der Politik immer wieder Bewegungen, die meinten, man könne das Leben altruistischer gestalten. Der Ausgangspunkt hiervon war im Grunde genommen das Christentum, später dann der Sozialismus. Die sind alle gescheitert. Letztlich hat auch die 68er-Bewegung nicht viel bewirkt, außer, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus ins Bewusstsein der Menschen eingegangen sind. Aber die Profitgier und dergleichen ist dadurch nicht berührt worden. Aber natürlich darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Man hofft ja immer, dass es doch mal eine gerechtere Gesellschaftsordnung geben wird. Daher sollte man nicht zu pessimistisch sein. Das Meiste hat sich schon etwas gebessert.

Das Interview führte Nils Schmeltzer. Er ist Rechtsreferendar am Landgericht Gießen.

Weiterführend:
Wilhelm Rösing, Der Einzelkämpfer – Richter Heinz Düx, Dokumentarfilm, 2011.
Heinz Düx, Justiz und Demokratie. Anspruch und Realität in Westdeutschland nach 1945. Gesammelte Schriften, herausgegeben von Friedrich-Martin Balzer, Erscheinungstermin: November 2013.
_____________________________________________
[1] Als „schwarze Wand“ wurde ein mit schwarzen Isolierplatten bestückter Kugelfang zwischen Block 10 und 11 des Stammlagers des KZ Auschwitz bezeichnet, an dem weit über tausend Todesurteile durch Erschießen vollstreckt wurden.