Was ist kritisch an der Kritischen Psychologie?

Gekürzter Beitrag zur Eröffnung der Ferien-Uni 2012

Zum achten Mal fand im September 2012 die Ferienuni Kritische Psychologie statt. Im Verständnis der Organisator_innen soll die Ferienuni ein Forum sein, sich über den aktuellen Stand und die Weiterentwicklung der Kritischen Psychologie und kritischer Wissenschaft zu verständigen und auszutauschen. Doch was bedeutet kritische Wissenschaft eigentlich? In seinem – hier gekürzt wiedergegebenen – Eröffnungsbeitrag erläuterte Morus Markard am 11.09. sein Verständnis von Kritischer Psychologie.

I.

Ansetzend an der Doppeldeutigkeit der Frage, die zu beantworten ich gebeten worden bin, will ich sie so auffassen: Was war oder ist die spezifische Kritikintention der Kritischen Psychologie, wie ist sie rezipiert worden, und was ist an Beidem ggf. selber kritisch bzw. zu kritisieren?

Vorab: (Gegenseitige) Kritik ist zentrales Bewegungsmoment von Wissenschaft. Deswegen kann es in formalem Sinne unkritische Wissenschaft gar nicht geben. Wie W.F. Haug hervorgehoben hat, ist »Kritik« aber auch im außerwissenschaftlichen Bereich allgegenwärtig, ein Allerweltsbegriff – damit aber auch ein, wie er formuliert, »stachelloser Gemeinplatz«. Er verweist auf die Einschätzung, der Begriff der Kritik sei »inhaltlich bagatellisiert und politisch depotenziert worden. Und dass man sich allgemein kritisch nennt, hindert nicht, dass radikale Kritik wie eh und je ebenso allgemein suspekt erscheint.«. In diesem Sinne, meint Haug, könne der »anstößige Name Marx […] dem Begriff der Kritik seinen Stachel und seine Verheißung zurück[geben]«.

Eben dies ist Intention und Spezifikum der Kritischen Psychologie, bzw. das ist der Weg, den Klaus Holzkamp in der Rezeption der Wissenschafts- und Gesellschaftskritik der Studentenbewegung eingeschlagen hat. Und das macht auch den Unterschied zu allerlei anderen kritischen Psychologien aus, die von gemeindepsychologischen über psychoanalytische, kulturpsychologische, feministische bis zu ›poststrukturalistischen‹ Richtungen reichen. Der kleinste gemeinsame Nenner aller kritischen Psychologien besteht darin, sich nicht dem experimentell-statistisch orientierten Mainstream der Psychologie zuzurechnen oder ihm zugeschlagen zu werden.

II.

Das Anstößige an der Kritischen Psychologie ist also, das sie marxistisch ist. Das hat Holzkamp selber kurz vor seinem Tode noch mal hervorgehoben, als er denen, die hofften, sein Foucault-Bezug in der Schul-Analyse bedeute eine zeitgeist-gemäße Absetzung vom Marxismus, deutlich machte: »nichts von Aufgabe, oder auch nur Relativierung, unserer marxistischen Grundorientierung!«. Schon 1983 hatte er resümiert, dass sich für ihn durch die Beschäftigung mit Marx »ein Feld noch ungenutzter Erkenntnismöglichkeiten von unabsehbarer Fruchtbarkeit eröffnet habe: Möglichkeiten […], deren Verwirklichung aber die Potenzen meiner Einzelexistenz nach allen Seiten hin übersteigt«.

Wesentlich für das damit verbundene Denken ist der Zusammenhang von fundamentaler Psychologiekritik und Gesellschaftskritik, den Holzkamp zunächst aus einem methodologischen Blickwinkel herstellte, nämlich aus der Kritik des Experiments heraus. Das für unseren Argumentationszusammenhang zentrale Argument lautet: dass dort bestenfalls erfasst werden könne, wie Menschen sich unter von ihnen unbeeinflussbaren Bedingungen verhalten. Es werde davon abgesehen, dass Menschen nicht nur unter Bedingungen leben, sondern ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern.

Unter anderem hängt das damit zusammen, das sich das Selbstverständnis des akademischen psychologischen Mainstream weniger inhaltlich als vielmehr methodologisch bestimmt: es speist sich aus der Privilegierung des experimentell-statistischen Experiments als Ausweis der Wissenschaftlichkeit, verstanden als Naturwissenschaftlichkeit des Unternehmen »Psychologie«. Dieser Primat der Methode vor dem Gegenstand bedeutet, dass die Möglichkeit der im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Erforschbarkeit psychologischer Probleme davon abhängig gemacht wird, wieweit dies mit dem experimentellen Schema machbar ist. Anders herum formuliert: Alle Probleme, die erforscht werden sollen, müssen so formuliert bzw. umformuliert werden, dass sie auf diese Weise zu untersuchen sind. Es ist auch klar, dass das funktioniert; ich denke, dass man alle Fragestellungen so entspezifizieren kann, indem man jedwede inhaltliche Bedeutung auf einen Reiz oder jedes erfreuliche Ereignis auf eine Verstärkung reduziert. Die Frage ist nur, um welchen Preis. Wer etwa das interpersonelle Geschehen bei einem Zungenkuss als gegenseitige Verstärkung bei kleinmotorischen Aktivitäten mit Austausch von Körperflüssigkeiten zu fassen versucht, könnte sich schon rein methodologisch als Trockenschwimmer blamieren. Aber diese methodologische Bornierung hat eben auch inhaltliche Konsequenzen.

Methodische Restriktion und begriffliche Reduktion sind also zwei Seiten einer Medaille. So weit so gut, so richtig und so kritisch: Der zentrale Punkt ist nun aber der, dass Holzkamp diese Probleme der Mainstream-Psychologie als Ausdruck einer Gesellschaft dachte, die gerade dadurch funktioniert, dass Menschen sich an vorgegebene Bedingungen anpassen und sich Fremdherrschaft unterwerfen, dass es sich also um eine Psychologie handelt, die für eben eine solche Gesellschaft nützlich ist. Demgegenüber sei eine kritische, praktisch eingreifende Psychologie zu entwickeln. Die aber war nicht bloß aus dieser Kritik heraus zu entwickeln – wie aber dann?

III.

Hier stellen sich drei Probleme: 1. Wie genau sieht die Gesellschaft aus, die zur Debatte steht 2. Wie sind angemessene psychologische Begriffe zu entwickeln? Und 3: Wie sind diese beiden Fragen miteinander verbunden?

Ich will hier mit einem Beispiel anfangen, bei dem uns der Rekurs auf eine reduzierte experimentelle Anordnung analytisch nicht weiterhilft, weil es um theoretische Überlegungen geht, und zwar zur sog. Emotionsregulation: In einem Papier des in Osnabrück lehrenden Hochschullehrers Julius Kuhl heißt es: »Wer seine Gefühle regulieren kann, […] der kann immer das psychische System einschalten, das er gerade braucht.« Er fragt dann, was eine »›gestandene‹« »Persönlichkeit« ausmache, und hebt dabei »zwei Aspekte« als »besonders wichtig« hervor: »Erstens dass jemand seine Absichten und Ziele im Großen und Ganzen auch verwirklichen kann. Das meinen wir, wenn wir jemanden ›willensstark‹ nennen, in dem Sinne, dass er auch schwierige oder unangenehme Absichten effizient umsetzt. Zweitens gehört zu einer gestandenen und gereiften Persönlichkeit, dass sie Absichten und Ziele bildet, mit denen sie sich wirklich identifizieren kann und die mit ihren eigenen Bedürfnissen und Werten, aber auch mit den Bedürfnissen und Werten ihrer sozialen Umgebung abgeglichen sind. Das meinen wir im Alltag, wenn wir sagen, jemand ›wisse, was er wolle‹ und er sei ›im Einklang mit sich und seiner Umgebung‹. In der Psychologie nennt man das Selbstkongruenz.«

Zu den damit angesprochene Fragen hat sich Adorno folgendermaßen geäußert: »Wenn von einem Menschen vorgeschrittenen Alters gerühmt wird, er sei besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, dass sein Leben eine Folge von Schandtaten darstellt. Aufregung hat er sich abgewöhnt. Das weite Gewissen installiert sich als Weitherzigkeit, die alles verzeiht, weil sie es gar zu gründlich versteht. … Wer nicht böse ist, lebt nicht abgeklärt, sondern in einer besonderen, schamhaften Weise verhärtet und unduldsam.«

Wenn also von Willensstärke als Umsetzung unangenehmer Absichten, von Übereinstimmung mit den Werten der Umgebung, von Selbstkongruenz die Rede ist, wäre auch immer zu fragen, welche Widersprüche hier ggf. eliminiert werden.

Allgemeiner formuliert: Die Frage ist die, in welchem Verhältnis gesellschaftliche Widersprüche zu Momenten psychologischer Theorienbildung stehen und woher eigentlich der Maßstab kommt, an dem ich den Gehalt psychologischer Begriffe beurteilen zu können meine.

IV.

Fangen wir mit der gesellschaftlichen Ebene an: Es war, wie schon erwähnt, der Einfluss der Studentenbewegung, die Klaus Holzkamp dazu brachte, sich mit marxistischen Gesellschaftsanalysen zu befassen und die Widersprüche als kapitalistische zu fassen: Maß und Ziel der Produktion ist Profit, nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Es ist klar, dass diese Gesellschaftsordnung in sehr verschiedenen Formen und aktuellen Ausprägungen existiert: derzeit in der gesellschaftstheoretischen Diskussion sind bekanntlich Neoliberalismus und die damit verbundenen Krisen. Dies sind definitiv per se keine psychologischen Sachverhalte, sondern welche, auf die sich psychologische Überlegungen sozusagen interdisziplinär beziehen müssen.

V.

Bei der eigentlich psychologischen Ebene war die Ausgangslage insofern schwieriger, als eine marxistische Subjekttheorie erst entwickelt werden musste – also eine Psychologie, die, wie Holzkamp auf dem ersten Kongress Kritische Psychologie formulierte, auf die »Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit« aus war. Dies war im Übrigen mit einem extrem hohen Anspruch verbunden, nämlich dem der »Überwindung der Beliebigkeit psychologischer Theorien«, wie es im Titel eines programmatischen Aufsatzes Holzkamps von 1977 heißt. Was Holzkamp »beliebig« nannte, entspricht dem, was Graumann 1994, also 17 Jahre später, als vorparadigmatischen Zustand der Psychologie diskutierte, also als das Fehlen eines mehr oder weniger als verbindlich angesehenen Systems von Begriffen und Methoden (und damit Fragestellungen und Lösungswegen) in der Psychologie.

Aber: Müsste man nicht sagen, dass es in der Psychologie sehr wohl der Fall sei, dass es ein als verbindlich angesehenenes System von Begriffen und Methoden gibt, wenn man sich bspw. Vorlesungsverzeichnisse an deutschen Universitäten ansieht? Nein. Und zwar deswegen nicht, weil die da erscheinende Verbindlichkeit sich im Wesentlichen der administrativen Verdrängung und nicht einer wissenschaftlich ausgewiesenen Durchsetzung verdankt. Man kann kaum ungeniert die Auffassung vertreten, in den Auseinandersetzungen der Psychologie-Entwicklung hätten sich – im Sinne einer begrifflich und methodisch ausgewiesenen kumulativen Erkenntnisentwicklung – jeweils die besseren Argumente in Richtung auf eine ausgewiesene Lösung ihrer Problembestände durchgesetzt.

Inhaltlich sind in der Psychologiegeschichte nämlich grundlegende Kontroversen unerledigt, was mit der bis in das 19. Jahrhundert zurück gehenden Auseinandersetzung um die Natur- bzw. Geisteswissenschaftlichkeit oder Sozialwissenschaftlichkeit der Psychologie vermittelt ist. Der Philosoph Windelband unterschied seinerzeit »nomothetische« und »idiographische« Wissenschaften. Die nomothetisch verfahrenden Naturwissenschaften, so Windelband, formulieren und prüfen allgemeine Gesetze, die »idiographisch« verfahrenden, wörtlich: das Einzelne beschreibenden, Geisteswissenschaften arbeiten Individuelles, Besonderes heraus – was übrigens subjektwissenschaftliche Verallgemeinerung nicht ausschließt, sondern gerade ermöglicht.

Die Pointe ist nun die, dass diese Unterscheidung zwischen den Wissenschaften sich innerhalb der Psychologie findet – als Dualismus von ›erklärender‹ und ›verstehender‹ Psychologie. Die nicht zu bestreitende Vorherrschaft des naturwissenschaftlich orientierten Mainstreams bedeutet faktisch seine auch nicht zu leugnende ›Koexistenz‹ mit den akademisch – international in unterschiedlichem Ausmaße – abgedrängten ›alternativen‹ Ansätzen und Konzeptionen. Das, was hier abgedrängt, aber nicht inhaltlich erledigt ist, zeigt sich etwa im problematischen Verhältnis von Grundlagenwissenschaft und Anwendung, nomothetischer Theorie und klinischer Einzelfallpraxis, quantitativen und qualitativen Methoden.

Wieso findet sich dieser Dualismus gerade in der Psychologie? Weil in deren Gegenstand sich Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte niederschlagen: Wir sind natürliche Organismen, leben in konkret-historischen Gesellschaften und wir sind Menschen mit eigenen Biographien, so dass Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit individueller Existenz zur Debatte stehen müssen, statt dass sie dualistisch auseinander gerissen werden. Denn im genannten Dualismus stehen sozusagen vor-paradigmatisch inhaltliche Aspekte des Gegenstandes der Psychologie neben- und gegeneinander.

Der Anspruch der Überwindung der Beliebigkeit psychologischer Theorien- und Begriffsbildung meint also nicht eine antiplurale Vereindeutigung der Psychologie, sondern im Gegenteil den Versuch, sowohl gegen administrative Vereindeutigungen als auch gegen begriffsloses Hin und Her, die Entscheidung zwischen Theorien argumentativ zu begründen.

Eben dies ist es, worauf die Kritische Psychologie aus ist, und das ist das kritische Potenzial ihres historischen Ansatzes, bei dessen Durchführung das Verhältnis von gegenstands- und wissenschaftsbezogener Rekonstruktion bislang allerdings m.E. unvollendet geblieben ist.

VI.

Ich möchte mich stattdessen auf das Problem konzentrieren, dass einerseits subjektwissenschaftliche Psychologie die objektive Realität zur Kenntnis nehmen soll und muss, andererseits aber Psychologie vom Standpunkt des Subjekts sein soll, eine Psychologie, deren Gegenstand nicht das Subjekt ist, sondern die Welt, wie das Subjekt sie erfährt. Wie kriegt man das ins Verhältnis gesetzt?

Eine der frühen kritisch-psychologischen Kritiken der Psychologie, insbesondere der Sozialpsychologie war, dass diese die Beschaffenheit der objektiven Realität ausklammere. So schreibt Holzkamp im erwähnten Beliebigkeitsartikel: »Berühmt geworden ist folgendes Beispiel Lewins für die vermeintliche psychologische Irrelevanz objektiver gesellschaftlicher Tatbestände: ›Wenn die Mutter einem ungezogenen Kinde mit dem Polizisten droht, … so kommt es für die Darstellung und Erklärung des Verhaltens des Kindes nicht auf die rechtliche oder soziologisch tatsächliche Macht des Polizisten über das Kind an, sondern auf jene Macht, die der Polizist dem Glauben des Kindes gemäß besitzt. … Ähnlich wie die physikalischen sind vielmehr auch die sozialen Fakten nur insoweit und in der Form in die Darstellung der psychologischen Gesamtsituation aufzunehmen, wie sie für das betreffende Individuum im vorliegenden Zeitpunkt wirksam sind.‹« (zit. nach Holzkamp, »Beliebigkeit«: 168f). Eigentlich ist diese Formulierung Lewins aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine schwächere Fassung dessen, was in der Soziologie Dorothy und William Thomas 1928 meinten: »Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie real in ihren Konsequenzen«. Holzkamp kritisiert an der Position Lewins, dass damit die »Realitätsangemessenheit sozialer Kognition aus der sozialpsychologischen Theorienbildung« ausgeschlossen werde (169). Auch der Dissonanztheorie gelinge das »Kunststück«, »Kognitionen unabhängig von ihrer Angemessenheit gegenüber dem, was kogniziert wird, zu definieren und zu operationalisieren« (ebd.).

Die Frage ist natürlich die, wie diese Kritik mit der Position einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts zusammen zu bringen ist, deren Gegenstand ja die Welt sein soll, wie das Individuum sie erfährt. Ist das nicht genau das, was Lewin und die beiden Thomasse sagen? Eigentlich schon, aber das ist nur die halbe Miete. Das wird erkennbar, wenn wir mit dem kritisch-psychologischen Begriff der »Prämissen« operieren. Prämissen sind je von mir akzentuierte Handlungsbedeutungen, die wiederum auf objektive gesellschaftliche Bedingungen verweisen.

Insofern geht eine Psychologie vom Standpunkt des Subjekts über Lewin und das Thomas-Theorem hinaus, als sie nämlich in der Tat nach der Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen fragt, was sie aber nur in interdisziplinären Bezügen kann, soweit das Wahrgenommene kein psychologischer, sondern ein gesellschaftlicher Sachverhalt ist. Allerdings gibt es dann nicht mehr die Realitätsangemessenheit wie bei physikalischen Reizen (bei denen die Mainstream-Psychologie diese Differenz ja berücksichtigt). Die Berücksichtigung gesellschaftlicher Sachverhalte erfordert die Berücksichtigung dabei bestehender unterschiedlicher theoretischer Auffassungen. Das muss die notwendig interdisziplinäre Überschreitung bloß psychologischer Dimensionen in Rechnung stellen, wobei die Kritische Psychologie sich eben in marxscher Tradition sieht.

Dies ist auch eine zentrale Perspektive im posthumen Lebensführungstext Klaus Holzkamps, der in gewisser Weise an das erste kritisch-psychologische Projekt von 1978, »Subjektentwicklung in der frühen Kindheit«, anknüpft, und dessen Gegenstand das alltägliche Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen, also deren Lebensführung, war. Auf der letzten Seite des Lebensführungs-Textes steht, was er nicht mehr ausführen konnte: »Nächstes Mal: Von Phänographie zu Bedeutungen nicht nur Änderung des Diskurses, sondern wachsende ›Welthaltigheit‹ der Aussagen«. Es gehe darum, wie in der »Selbstverständigung schrittweise bloß individuell-subjektive Beziehungsform überschritten« werde und um den »Umstand, dass individuelles Handeln notwendigerweise … Realisierungsform von Bedeutungsstrukturen ist und mit den gesellschaftlichen Sozialstrukturen … vermittelt ist. Da dann Widersprüche.« Hier bricht das Manuskript ab.

Wie dem auch sei: Herrschaftskritik ist zentrales Moment der Kritischen Psychologie, und der Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit markiert diese Intention, und zwar mit der Frage, ob und wie sich die Menschen bei ihren Bemühungen klar zu kommen, sich und anderen schaden, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Diese Frage muss aber jeweils konkret ausformuliert werden. Die Schwierigkeit besteht darin, einerseits die allgemeine Herrschaftsstruktur des Kapitalismus zu berücksichtigen, andererseits unterschiedlichen Konstellationen, Kontexten und Entwicklungen Rechnung zu tragen. Viele kritisch-psychologische Veranschaulichungen von Problemen restriktiver Handlungsfähigkeit lassen genau das vermissen, weil sie eine abstrakte Ausgeliefertheit der Menschen an eine abstrakte Macht imaginieren, die demokratietheoretisch hinter dem Mond ist. Wenn etwa davon die Rede ist, dass sog. Freiräume von den Herrschenden gewährt und jederzeit wieder entzogen werden könnten (wie es u.a. im beliebten Holzkamp-Text »Grundkonzepte« heißt), geht das m.E. an erkämpften Positionen und rechtsstaatlichen Möglichkeiten völlig vorbei. Auch die allgemeine Aussage, dass es einen »Zusammenhang zwischen Art und Grad der Handlungsfähigkeit und der Qualität subjektiver Befindlichkeit« gebe, halte ich in dieser Allgemeinheit für problematisch. Warum? 1. verweist die Formulierung von Graden der Handlungsfähigkeit auf eine immer wieder theoretisch bestrittene, gleichwohl faktisch vorhandene Normativität; 2. macht der Zusammenhang von Handlungsfähigkeit und Befindlichkeit nur dann Sinn, wenn man sie ohne Gradmesser als Fragestellung – mit empirisch offenem Ergebnis bitteschön – auffasst. (Ich komme darauf noch einmal kurz zurück.) Kaum Fragen sind offen, wenn es im genannten Text heißt: »In dem Moment, in dem ich auf Kosten anderer lebe, beschränke ich ja meine eigene Lebensmöglichkeit. Ich reduziere meine Bündnisbasis, reduziere meine Zusammenschlussmöglichkeiten, isoliere mich.« Ich frage mich aber: Was genau heißt eigentlich »auf Kosten anderer leben«? Muss man nicht fragen, wer wem Kosten zahlen soll? Und kann ich meine Bündnisbasis nicht mit anderen verbreitern, die auf Kosten anderer leben wollen oder müssen? Werden hier ggf. gesellschaftliche Konstellationen nach dem Muster von unmittelbaren sozialen Beziehungen gefasst?- Damit will ich den m.E. unverzichtbaren Begriff der »restriktiven Handlungsfähigkeit« nicht in Frage stellen, sondern ihn analytisch öffnen.

Während jedenfalls »restriktive Handlungsfähigkeit« die Frage nach Herrschaftsverhältnissen mit potenzieller Selbst- und Fremdschädigung aufrecht erhält und analytisch nutzen will, markiert »verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« das überschüssige, das utopische Potenzial kritisch-psychologischen Denkens, ohne das eine emanzipatorische Perspektive nicht zu verfolgen ist. In der Kritischen Psychologie ist die Alternative ja klassisch gefasst als »doppelte Möglichkeit«. Die bezieht sich nicht auf Fragen wie »Tee oder Kaffee« oder »Gehen wir zu mir oder zu dir?«, sondern auf Herrschaftsverhältnisse und die Alternative von Anpassung und Widerstand, gedacht als Angebote, das eigene Denken, Empfinden und Handeln zu analysieren. Im Ergebnis ist das alles andere als einfach; denn wäre es einfach, bräuchte man die Kritische Psychologie nicht. Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit bloß so zu fassen, dass sie bedeutet, dass Menschen sich wehren müssen, ist zwar nicht falsch, aber trivial. Das interessante psychologische Problem ist, warum die Leute es nicht tun. Auch das Verhältnis von lang- und kurzfristigen Interessen ist nicht wirklich ein Alleinstellungsmerkmal der Kritischen Psychologie, wie etwa die Umweltpsychologie oder auch traditionelle motivationstheoretische Erwartungs-mal-Wert-Modelle zeigen. Es ist immer zu bedenken, dass restriktive Handlungsfähigkeit eben Handlungsfähigkeit bedeutet und nicht Handlungsunfähigkeit. Und da lässt sich übrigens Einiges auch aus der traditionellen Psychologie lernen, was für uns ein (zu) offenes Feld ist.

Das Problem des Begriffs »verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« sehe ich darin, dass er im theoretischen Kontext einer geschichtsphilosophisch aufgeladenen Kapitalismusdarlegung im fordistischen Gewand entstanden ist, in dem die Arbeiterklasse als fleischgewordene Negation des Kapitals eben diesem Kapitalismus unter Führung der kommunistischen Partei und mit deren Bündnisorganisationen den Garaus machen würde. Wenn Holzkamp in seinem bekannten Aufsatz Individuum und Organisation meinte, es sei im wohlverstandenen Eigeninteresse, Konflikte nur mit und in der Organisation auszutragen, wird damit klar, dass es eben die Organisation gibt, die den fortgeschrittensten Zustand repräsentiert. »Die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« fasst Holzkamp als »die gezielte Herbeiführung der objektiven Bedingungen, unter denen man sich gemäß dem Gesamt der Interessen verhalten kann.« Sie orientiere auf »die allgemeine Erweiterung der Lebensbedingungen« – mit im Übrigen folgender angenehmer emotionaler Begleiterscheinung, womit auch das Verhältnis von Handlungsfähigkeit und Befindlichkeit zurückkomme: Es heißt nämlich in der »Grundlegung«: »So verschleißen … die Emotionen nicht im kurzfristigen Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, sondern sind in dem Kampf um die Erweiterung der allgemeinen Lebensbedingungen aufgehoben und gewinnen entsprechend der Spannweite der Ziele Kraft und Ausdauer.« Wie es scheint, geht’s hier irgendwie immer geradeaus und nach vorne, offenbar auch ohne Schwankungen. Und hier steht offensichtlich eine Klarheit von Weg und Ziel Pate, die m.E. unseren Kampf- und Analysebedingungen weder entspricht noch je entsprach. Auch Frigga Haug spricht aktuell von einer »höheren Stufe erweiterter Handlungsfähigkeit«. Die kennt die bürgerliche Psychologie natürlich nicht, dafür kennt die unterschiedlich hohe Moralstufen, auch immer von oben aus gesehen natürlich. Einstufungen Anderer sind ansatzübergreifend ein beliebtes Motiv.

Die kritische Theorie hat immer davor gewarnt, das Utopische aus dem Jetzt heraus schon konkret bestimmen und »auspinseln« (Adorno) zu wollen; die Kritische Psychologie war da z.T. weniger vorsichtig und hat sozusagen begriffsexplikativ entworfen, wie es zugehen wird, wenn die Menschen auf kooperativer Basis die menschliche Spezifik, sich zu eigenen Bedürfnissen verhalten zu können, leben. Dann seien Bedingungen geschaffen, »unter denen sexuelle und verwandte Bedürfnisse regelmäßig und angemessen befriedigt werden können, etc.«, das Individuum finde »eine geregelte individuelle Lebensgestaltung vor, so festgelegte Zeiten für Nahrungsaufnahme, Schlaf, Erholung, Freizeit, ebenso Formen zur geregelten Befriedigung von Bedürfnissen im Umkreis der Sexualität und Fortpflanzung wie der Ehe, Familie und ähnlicher Beziehungsstrukturen.« Vorgesehen ist auch die »Sanktionierung von ungeordneten, ›liederlichen‹ Lebensweisen, des ›Sich-gehen-Lassens‹,«; »Die gesellschaftliche Regulation individueller Bedürfnisbefriedigung ist ein Teilmoment der kooperativen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, da hier die Einzelaktivitäten auch im Bereich der sinnlich-vitalen Bedürfnisse so koordiniert werden, dass dabei eine Optimierung des Gesamtprozesses der gesellschaftlichen Produktion entsteht« und »Störungen der Produktion durch asynchrone Bedürfnisbefriedigung verschiedener Individuen« vermieden wird. Was mich persönlich angeht, habe ich zu dieser kooperativen Gestaltung unter Einschluss angemessenen Vögelns nicht die geringste Lust.

VII.

Anders formuliert: Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit macht, wie gesagt, nur als utopisches Potenzial analytisch Sinn. Insofern ist Holzkamps »Formulierung« der »Richtungsbestimmung« sinnvoll, insoweit damit nicht gedacht ist, dass man die Richtung schon weiß. Es geht um den Horizont menschlicher Möglichkeiten – aber nicht so, wie Otto Waalkes das missverstanden hat. Der stand nämlich vorne auf einem Schiff und fragte: »Käpt’n, was ist das denn dahinten?« »Das ist der Horizont, Otto«. »Was – so weit sind wir schon?«. Die Offenheit des Projekts bedeutet, dass es die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit nicht geben kann, sondern dass wir uns am Streiten um die Möglichkeiten menschlicher Emanzipation und die Kämpfe darum beteiligen und uns mit den dabei auftretenden psychologischen Fragen beschäftigen. Einerseits damit, welche Anforderungen an die Menschen gestellt werden (ohne deswegen schon anzunehmen, man wisse, wie sie damit umgehen), und zum anderen empirisch zu untersuchen, wie sie denn tatsächlich damit umgehen.

Es wäre übrigens interessant zu überlegen, was es bedeutet, dass Holzkamps programmatische Konzeption der »verallgemeinerten« Handlungsfähigkeit dauernd als »erweiterte« Handlungsfähigkeit rezipiert wird. Meine Hypothese: »verallgemeinert« verweist auf das Analytische dieser Kategorie (mit geschichtsphilosophischer Aufladung, die zu reflektieren wäre), während »erweitert« sich besser zur empirisch gemeinten Stufung eignet, womit das Analytische dieser Kategorie aber desavouiert ist.

Die Auflösung geschichtsphilosophischer Gewissheiten in theoretische Debatten kann nicht bedeuten, dass für deren jeweilige Positionen wiederum »verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« usurpiert werden könnte. Wenn man verallgemeinerte Handlungsfähigkeit so fasst, dass man sie seinen eigenen politischen Vorstellungen anpasst, braucht man erstens von Psychologie keine Ahnung zu haben, und zweitens handelt es sich nur um eine Instrumentalisierung der Psychologie für eigene politische Zwecke pseudowissenschaftlichen Aufmotzens des eigenen politischen Programms.

Positiv kritisch an der Kritischen Psychologie ist also ihr Bestehen auf Herrschaftskritik, negativ kritisch wird es immer da, wo ihre Begriffe nicht analytisch verwendet, sondern herunterkonkretisiert werden. Was wir unbedingt brauchen, ist eine immerwährende Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen in dem Sinne, dass sich die Kritische Psychologie nur in deren Reinterpretation psychologischer Ansätze weiter entwickeln kann. Denn Kritische Psychologie ist in erster Linie eben Psychologie. Oder wie es Wolfgang Maiers 1979 formulierte: »Kritische Psychologie stellt weder ein Konkurrenzunternehmen außerhalb der bestehenden Psychologie noch ein psychologisches Erkenntnisbemühen außer Konkurrenz dar: sie will zur Klärung objektiv gegebener Kernprobleme beitragen, deren Grund und Lösungsrichtung in der traditionellen Psychologie nicht zureichend erkannt sind.«

VIII.

Ich komme zum Schluss: »Die Kritik (ist) keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.«

Dieses von Karl Marx formulierte Verhältnis von Kopf und Leidenschaft kann man als spezifischen Ausdruck des generell psychologisch bedeutsamen Verhältnisses von Kognition und Emotion verstehen. Im Alltag begegnen wir diesem Verhältnis nicht selten als Gegensatz von »Kopf und Bauch«, also als Gegensatz von Vernunft und Gefühl oder eben Leidenschaft. Und wir alle haben wohl Situationen erfahren, in denen Vernunft und Gefühl sich entgegenzustehen, sich auszuschließen scheinen, zum Beispiel, wenn wir »ausrasten« oder wenn wir uns mühsam beherrschen können.

Dafür, Vernunft und Leidenschaft aber nicht per se als Gegensatz, sondern als – immer wieder problematisches – Verhältnis zu begreifen, scheint mir die zitierte marxsche Passage über Kritik aufschlussreich zu sein. Sie thematisiert nämlich das, was den »Glutkern« und was den »Theoriekern« von Kritik ausmacht: personale Empörung über den Zustand der Welt und die (subjektive) Notwendigkeit, sowohl die Empörung als auch deren Gegenstand theoretisch zu begreifen zu versuchen.

Insofern sind das Kritische an der Kritischen Psychologie auch immer die Leute, die sie betreiben, sie vorantreiben. Mit anderen Worten: Ohne uns geht es nicht, nicht ohne unsere Empörung und nicht ohne unsere theoretischen Bemühungen. Wenn wir dies zusammen bringen, bringen wir auch die Kritische Psychologie weiter – und damit unsere Lebensmöglichkeiten in einem offenen Projekt.

Prof. Dr. Morus Markard, FU Berlin. Mitbegründer und Redaktionsmitglied des Forum kritische Psychologie; Redaktionsbeirat der Zeitschrift Das Argument. Arbeitsgebiete: Entwicklung der Perspektive der Kritischen Psychologie und der Psychologiekritik; lange Zeit im Vorstand, nun im Beirat des BdWi.