Klassenkämpferische versus korporatistische Gewerkschaft

Eine Bestandsaufnahme aus anarchosyndikalistischer Perspektive

Wie in jedem Jahr seit den Ereignissen rund um den Chicagoer Haymarket 1886 werden auch dieses Jahr wieder Lohnabhängige auf dem ganzen Globus am 1. Mai auf die Straße gehen. Auslöser für dieses historische Ereignis war unter anderem die Minimalforderung nach einer Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden sowie die Aufhebung der sich verschärfenden Klassengegensätze. Die Eskalation nahm ihren Lauf, als Unbekannte, möglicherweise Vigilanten,1 drei Tage später, am 4. Mai, einen Sprengsatz in den Polizeireihen zündeten, welcher diese dann veranlasste, in die Masse der ArbeiterInnen zu feuern, was eine unbekannte Zahl an Opfern forderte. Die Ereignisse gingen schließlich als Haymarket-Tragödie in die Geschichtsbücher ein. Von diesem Zeitpunkt an war die anarchistische ArbeiterInnenbewegung, die jenen Generalstreik initiierte, Zielscheibe der Repression. Unter den anarchistischen AktivistInnen befand sich auch Adolph Fischer aus Bremen, der als Schriftsetzer in die Vereinigten Staaten emigrierte und sich dem militantesten Flügel des Anarchosyndikalismus anschloss, den „Unversöhnlichen“. Sein Fazit aus den Ereignissen wird deutlich durch folgende Feststellung: „Die Arbeiter werden von frühester Kindheit an auf ihr späteres Schicksal vorbereitet, genauso wie Tanzbären von ihren Meistern dressiert werden. In Schulen und Kirchen lernen sie, es sei Gottes Wille, daß es Reiche und Arme gäbe“.2 Er verweigerte das Betteln auf ein Gnadengesuch und wurde mit seinen Genossen am 11. November 1887 hingerichtet.

Obwohl sich diese historischen Daten in das kollektive Gedächtnis der ArbeiterInnen gebrannt haben, ist es kaum noch bekannt, dass die blutigen Ereignisse rund um den Haymarket der Auftakt eben jenes „May Day“ oder „1. Mai“ waren. Vielmehr wird die Tatsache verleugnet, dass dieser Tag aus dem Impuls der anarchistischen ArbeiterInnenbewegung stammt, welche klar und offensiv gegen das kapitalistische Unterdrückungssystem aufbegehrte und die Befreiung des Menschen von Klassengegensätzen kompromisslos vorantrieb.3

Wie steht es heute um klassenkämpferische Positionen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung?

Die Spielregeln des Kapitals haben sich spürbar erneuert.4 Der französische Soziologe Robert Castel definierte bereits vor einiger Zeit, dass wir ZeugInnen einer anhaltenden „Transformation des Kapitalismus“ sind, den es vielmehr zu begreifen als zu benennen gilt.5 Das sogenannte „deutsche Modell“ soll darüber hinaus die Blaupause für ein zeitgemäßes, „modernes“ Wirtschaften innerhalb der Europäischen Union darstellen. Man behauptet, „uns“ gehe es ja gut und die Forderungen nach einer klassenlosen Gesellschaft seien überholt und Relikte aus der DDR.6 Es ist die fortwährende Entwertung der Personen, die außer ihrer Arbeitskraft nichts besitzen, was sie zu Markte tragen können. Wir Lohnabhängige werden nach wie vor als bloßes „Humankapital“ im betriebswirtschaftlichen Kontext aufgeführt, denn unsere individuellen Schicksale und Lebensbedingungen sind irrelevant für die Ziele eines kapitalistisch geführten Unternehmens. Die Folgen, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Sozialabbau, werden sogar tagtäglich in den Mainstreammedien ausgestrahlt. Trotzdem schlägt der sozialrevolutionären Bewegung ein eiskalter Wind entgegen. Mit extremismustheoretischen Diffamierungen wird gegen klassenkämpferische Positionen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gehetzt, sobald die Forderung nach Besetzung, Boykott oder Sabotage aufkommt. Um es unmissverständlich auszudrücken: Damals wie heute werden lohnabhängige Menschen ihrer Würde und Autonomie beraubt. Tagtäglich und überall. Zu allem Übel wird die Idee von einer menschenwürdigen und solidarischen Gesellschaft zunehmend auf breiter gesellschaftlicher Ebene ignoriert und als utopische Spinnerei abgetan.

Die momentan vorherrschende Produktionsweise hat nicht die Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse aller zum Ziel, sondern das Streben nach kurzfristigen Profiten. Die korporatistische Haltung7 der systemstabilisierenden Gewerkschaften führt zu einer zunehmenden Isolation zwischen den Lohnabhängigen. Allzu gerne wird gewerkschaftliche Klientelpolitik betrieben, die sich in Form von Lohndiskriminierung und Konkurrenz beim Mitgliederwerben ausdrückt.8 Dies äußert sich häufig in der Marginalisierung von LeiharbeiterInnen und anderweitig prekär beschäftigten ArbeiterInnen, die nicht das Privileg eines Normalarbeitsverhältnisses für sich beanspruchen können. Die Situation prekär beschäftigter Lohnabhängiger wird nicht selten von privilegierten Lohnsklaven mit Normalarbeitsverhältnis und gewerkschaftlicher Organisation genutzt, um chauvinistische Positionen diesen gegenüber zu vertreten. Der arrogante Irrglaube, jede/r sei an der eigenen Situation zum Großteil selber schuld, reiht sich ein in weitere diskriminierende Denkschablonen, welche die Minderwertigkeit nicht „normal“ Beschäftigter implizieren.

Die Allianz der Bosse oder: Das „betriebsbezogene Mehrheitsprinzip“

Es herrscht eine gespenstische Einigkeit zwischen den Funktionären der großen Gewerkschaften und VertreterInnen der Politik, wenn es um die Untergrabung von grundlegenden Rechten der ArbeitnehmerInnen geht, wie dem Streikrecht. In diesem Zusammenhang seien vor allem die kommenden Verhandlungen bezüglich der Tarifeinheit genannt. Im laufenden Jahr sollen hier die Weichen gestellt werden, mit gravierenden Folgen für die für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit der ArbeitnehmerInnen in Deutschland. Die Propagandamaschine der Repression funktioniert dabei tadellos. Kleine Gewerkschaften wie Vereinigung Cockpit und Marburger Bund werden hierbei gerne exemplarisch als Sprachrohr „egoistischer Großverdiener“ angeführt, um für die Sinnhaftigkeit der geplanten Initiative zur Tarifeinheit zu werben. Den Vorwurf, dass bestimmte berufsbezogene Sparten eine gewisse Privilegiertheit besitzen (was die Höhe ihres Einkommens betrifft und mit dem Druckpotential ihrer Profession korreliert), mag zwar stimmen. Doch es ist nicht der edelmütige Ruf nach der Überwindung von berufsbezogenen Lücken und Lohnhierarchien unter den Lohnabhängigen. Es ist der zweite Versuch nach 2010, das Quasi-Monopol der großen, zentralistischen und systemstabilisierenden Gewerkschaften gesetzlich zu zementieren, jegliche Opposition und Konkurrenz zum DGB in Tarifverhandlungen auszuschalten und die Tarifautonomie kleiner Gewerkschaften zu unterbinden.9 Im kollektiven Arbeitsrecht wird bei Wettbewerbsformen mit tariflichem Hintergrund zwischen „Tarifkonkurrenz“10 und „Tarifpluralität“11 unterschieden. Heiner Dribbusch geht davon aus, dass tarifpolitische Konkurrenz immer dann besteht, „wenn eine Gewerkschaft versucht in Abgrenzung zu einer anderen Gewerkschaft eigenständige Tarifverträge möglichst exklusiv in selbst beanspruchten Geltungsbereichen durchzusetzen“.12

Die DGB-Gewerkschaften scheuen dabei nicht einmal den Pakt mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Deshalb ist die Aussicht auf gewerkschaftlich getragene Selbstbestimmung der Lohnabhängigen so fern wie lange nicht mehr. Die Initiative des Mehrheitsprinzip zur Tariffindung („betriebsbezogenes Mehrheitsprinzip“) stellt einen eklatanten Angriff auf den Tarifpluralismus und auf das, im Artikel 9 des Grundgesetzes verankerten „Prinzips der Koalitionsfreiheit“, dar. So schreibt Detelf Hensche, langjähriger Vorsitzender der IG Medien, dass „die Kurzsichtigkeit, die die DGB-Gewerkschaften [bewogen hat, das Regierungsvorhaben zu unterstützen], verblüfft. Selbst wenn sie hoffen, eine Handvoll konkurrierender Berufsverbände mit staatlicher Hilfe aus dem Tarifgeschäft verdrängen zu können, ist keineswegs sicher, ob der Schuss nicht nach hinten losgeht. Da der Gesetzgeber die Tarifeinheit nach dem betrieblichen Mehrheitsprinzip regeln soll, ist die Entscheidung in die Hände der Arbeitgeber gelegt. Denn allein diese bestimmen, welche Arbeitseinheiten zu einem Betrieb zusammengefasst bzw. ausgegliedert werden.“13 Auch von Seiten der ILO14 wird seit mehreren Jahren die Verletzung von international gültigen, gewerkschaftlichen Standards bezüglich einer wiederholt geplanten Tarifeinheit angeprangert. Auf parlamentarischer Ebene wird die geplante Tarifeinheit von einer mehrheitsfähigen Koalition von getragen. Der versprochene flächendeckende Mindestlohn wird im Gegensatz dazu, mit aller Wahrscheinlichkeit nach, ein leeres Versprechen bleiben.

Korporatistische Gewerkschaften und ihre BefürworterInnen lassen sich mit der Tarifeinheit somit weiter auf ihre Rolle als systemstabilisierende Eckpfeiler dar, in dem sie die Masse der Lohnabhängigen unter Kontrolle halten und aufmüpfiges Verhalten durch unzufriedene Lohnabhängige unterbinden. Was ist nun eine Gewerkschaft wert, die darauf bedacht ist, den Burgfrieden mit den AusbeuterInnen einzuhalten und fortfährt die Lohnabhängigen zu spalten? Es wäre töricht zu glauben, dass signifikante Verbesserungen für alle Lohnabhängigen auf der Basis von korporatistischem Gewerkschaftsgebahren erkämpft werden können. Der Mainstream des Gewerkschaftsapparats ist nahezu nahtlos im kapitalistischen System integriert und arbeitet somit aktiv an der Zersetzung grundlegender ArbeitnehmerInnenrechte. Es ist schlicht der Verrat an der ArbeiterInnenklasse, Dass die Tarifbindung sukzessive schwindet und im Westen nur noch bei 60% und im Osten bei rund 50% liegt15 zeugt von einer systematischen Untergrabung von ArbeitnehmerInnenrechten. Die wenigen Krümel (z.B. Tariferhöhungen, die gerade die Inflationsrate kompensieren können), die man uns zugesteht, haben darüber hinaus ein grundlegendes Manko: Als Zugeständnisse können diese von unseren „GönnerInnen“ auch schnell wieder entzogen werden, nach dem sich die Lage wieder beruhigt hat. Der Frust über die wirtschaftsfreundliche Politik lässt sich auch anhand des anhaltenden Schwunds an Mitgliedern über die letzten Jahre bemessen.16 Es muss in diesem Zusammenhang aber klar betont werden, dass die autoritäre Politik der Funktionäre von IG Metall, DGB und Verdi keineswegs auf uneingeschränkte Zustimmung innerhalb deren Basis trifft.17 So regt sich bereits spürbarer Widerstand im Rahmen der geplanten Tarifeinheit auch unter unseren GenossInnen an der Basis der großen Gewerkschaften. An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die Konferenz zur Abwehr des Gesetzesvorhabens „Tarifeinheit“ hingewiesen die am 15. Juni in Frankfurt am Main stattfinden wird.18

Die Spaltung der Lohnabhängigen

Das Phänomen prekärer Formen von Arbeit ist symptomatisch für eine Gesellschaft, in der die Klasse der Lohnabhängigen systematisch ihrer Freiheit beraubt wird. Eine Form der Kontrolle, die über unsere Existenzsicherung vollzogen wird. Das Phänomen ist nicht neu. Marcuse stellte in einer Diskussion mit Habermas schon 1978 fest, dass die „Allianz zwischen Kapital und Arbeit funktioniert, weil mit der anhaltenden Arbeitslosigkeit Anpassung immer wichtiger für Arbeiter wird, wenn sie leben und überleben wollen“.19 Flexibilität bedeutet für uns Lohnabhängige zunehmende Unsicherheit. Und das in allen Lebensbereichen. Das „deutsche Modell“ eines deregulierten Arbeitsmarkts verspricht soziale Gerechtigkeit durch Sicherung bestehender Arbeitsplätze und durch Schaffung von neuen, prekären Beschäftigungsformen. In anderen Worten: Man will uns weiß machen, dass die Schaffung von sozialer Ungleichheit in Form von Prekarität, Deregulierung und Sozialabbau für soziale Gerechtigkeit sorgen soll...

Im Zeichen dieser postfordistischen20 Arbeitsgesellschaft haben die staatlich anerkannten Gewerkschaften, außer Klientelpolitik durch die Verteidigung der Privilegien ihrer Mitglieder, nichts mehr zu bieten. Dieser Klassismus wird nicht nur mit bemerkenswerter Dreistigkeit legitimiert, viel schlimmer: Er ist fest in der Weltanschauung staatstreuer GewerkschafterInnen verankert. Aber auch unter Lohnabhängigen im Allgemeinen nimmt die eine positive Haltung gegenüber dem „deutschen Modell“ spürbar zu. Die Verinnerlichung nationaler Standortkonkurrenz und Sozialchauvinismus von Lohnabhängigen gegenüber anderen Lohnabhängigen sind durchaus als symptomatisch für den Verlust des „Klassenbewusstseins“ zu verstehen. Die Solidarität zwischen den Lohnabhängigen schwindet mit zunehmender Deregulierung bzw. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und sorgt für eine Form der Disziplinierung zwischen den Lohnabhängigen. Es entstehen Lohnhierarchien und -diskriminierung, die durch die Distinktionsstrategie der systemstabilisierenden Gewerkschaften getragen wird. In anderen Worten: Es werden Unsicherheiten des Marktes auf die Lohnabhängigen abgewälzt und lassen durch die lohn- und berufsbezogenen Lücken Konkurrenz anstatt Solidarität zwischen den Lohnabhängigen entstehen. Rechte Phrasendrescher sind innerhalb vieler Gewerkschaften obendrein keine Seltenheit.

Ist eine sozialrevolutionäre Gewerkschaft noch realisierbar?

In erster Linie ist das Problem der Bedeutungslosigkeit revolutionärer Positionen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung hausgemacht. Das, was sich unter vagen Begriff als „links“ in der gewerkschaftlich aktiven Bewegung zusammenfügt, hat sich in den letzten Jahrzehnten von der Lebensrealität der Lohnabhängigen mehr und mehr verabschiedet. JungkarrieristInnen nutzen die Möglichkeit, in gut bezahlte Gewerkschaftspositionen zu gelangen. Ein Umstand der fast alle „linken“ Strukturen erfasst hat. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft wird gerne als „klassenkämpferisches“ Feigenblatt genutzt, um vor allem in der SPD oder der Linken die eigene PolitikerInnenkarriere zu pushen. Darüber hinaus beschränkte sich die letzten Jahre der Diskurs in der „radikalen Linken“ auf Selbstreflexion. Scheinbar wurde parallel dazu kollektiv verdrängt, dass die Emanzipation der Lohnabhängigen einen zentralen, linksradikalen Themenschwerpunkt darstellt und nicht mit den Herrschenden ausdiskutiert, sondern nur in direkter Aktion mit Hilfe von (General-)Streik, Boykott, Besetzungen und Sabotage erkämpft werden kann. Gewerkschaftliche Organisation muss wieder in unserem Sinne politisch werden. Das Problem, das Gewerkschaften an sich nicht revolutionär sind, ist allerdings nicht neu: Errico Malatesta bemerkte schon 1922, noch zu Zeiten, als die anarchistische ArbeitInnenbewegung mehr Einfluss als heutzutage hatte, dass Gewerkschaften an sich reformistisch und nicht revolutionär seien.21 Seiner Ansicht nach liegt das zum einen an dem Umstand, dass Gewerkschaften durch Aufnahme von Verhandlungen mit Institutionen (Staat, Nation und Kapital...), welche eigentlich abgelehnt werden, ständig um die Suche nach Kompromissen bemüht sind. Zum anderen ist es ohne den Einfluss von revolutionären Personen, die ihre Ansichten in die Gewerkschaften hineintragen, schlecht um den Klassenkampf bestellt. Allein die Größe der Mitgliederzahl von Gewerkschaften, so seine Meinung, ist keinesfalls ein entscheidender Faktor für ihren Wirkungsgrad. Vor allem nicht, solange diese in erster Linie als unpolitisch agierende Wirtschaftszusammenhänge zu bezeichnen sind. Deshalb war eine seiner Forderungen in Bezug auf Gewerkschaften, dass AnarchistInnen aktiv sozialrevolutionäre Positionen in diese hineintragen sollten, um die Gewerkschaften als Massenbewegung revolutionär zu machen und um die Emanzipation der Lohnabhängigen, gleichgültig ihrer Herkunft, voranzutreiben. Er stellt allerdings auch fest, dass diejenigen „die der Arbeiterbewegung ehrlich dienten, immer den Traum einer besseren Gesellschaft vor Augen, die Wohlstand und Gerechtigkeit für alle kennt, [...] wie Sisyphos, dazu verdammt“ sind „immer wieder von vorne zu beginnen“.22 Die Frage, ob die sozialrevolutionäre Gewerkschaft noch zu retten ist, stellt sich somit gar nicht. Das Bewusstwerden um die Situation und das folglich kontinuierliche Revoltieren für bessere Lebensbedingungen ist entscheidend.

Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft

Nicht die ArbeiterInnenbewegung ist momentan der entscheidende Faktor, der die Produktionsbedingungen definiert. Es ist momentan die bürgerliche Klasse, die die Bedingungen der Produktionsweise bestimmt und fortwährend revolutioniert. Deshalb reicht es nicht aus, alleine was zu Fressen zu haben und auf die Wohltaten der Herrschenden angewiesen zu sein. Darum fordert, im Gegensatz zu staatskonformen Pseudogewerkschaften, eine echte, sozialrevolutionäre (anarchosyndikalistische) Gewerkschaft nicht die Verteilung von staatlichen Zugeständnissen, sondern die Aufhebung der Klassengegensätze. Als sozialrevolutionäre Bewegung will sie, außer der bloßen Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, deshalb Antworten und Lösungen bezüglich des Zusammenlebens ermöglichen.

Das Projekt des freien Sozialismus, libertären Kommunismus oder auch Anarchosyndikalismus, ist selbstverständlich nicht der leichte Weg. Allerdings ist der Mythos von einem sozialistischen Paradies durch einen Staat spätestens seit dem Scheitern des real existierenden Sozialismus nachgewiesen: Die eine Herrscherkaste wurde einfach nur durch eine andere ersetzt. In diesem Zusammenhang ist es notwendig den Unterschied zwischen Macht und Herrschaft zu betonen. Herrschaft entsteht unter anderem, wenn akkumulierte Macht sich institutionell verselbstständigt. Im Gegensatz dazu strebt das Konzept des Anarchosyndikalismus, über seine föderalistisch-dezentrale Organisationsform, ein Minimum an Akkumulation von Macht an. Dabei sind die Mittel von direkter Demokratie, und das Rotationsprinzip bei der Vergabe von Mandaten und grundsätzliche Gleichberechtigung aller, von zentraler Bedeutung. Wir AnarchosyndikalistInnen lehnen es grundsätzlich ab, staatlich gelenkte Funktionäre oder ähnliche VertreterInnen des Kapitals über unser Lebensbedingungen und Schicksale entscheiden zu lassen. Wir wollen keine Einigung mit AusbeuterInnen. Wir wollen unsere ökonomische und gesellschaftliche Selbstbestimmung durchsetzen und die soziale Revolution vorantreiben!

Traditionell versuchen anarchosyndikalistische, antiautoritäre Bewegungen, die letztlich die Bewegungen der ArbeiterInnen waren und sind, in ihrem kreativen Potential den Ausbruch aus dem System zu wagen. Selbstverwaltung ist dabei eine dieser Traditionen, auf die sich seit geraumer Zeit viele Gruppen wieder besinnen um mögliche Auswege aus dem Kapitalismus zu suchen. In vielen Teilen der Welt schließen sich bereits jetzt Lohnabhängige erfolgreich zusammen, um die Kontrolle über die von ihnen produzierten Waren wiederzuerlangen und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen.23 Die Traditionen der AnarchistInnen, wie Selbstverwaltung, direkte Demokratie, freie Bildung und konkrete Solidarität, sind letztlich Traditionen der gesamten ArbeiterInnenbewegung. Nur wir, die Klasse der Lohnabhängigen, können und müssen nun die Entscheidung treffen: Entweder wir verharren weiterhin in der Bewusstlosigkeit und verlieren, oder wir nehmen unser Schicksal in die eigene Hand. Das heißt in erster Linie, solidarisch im Sinne einer tatsächlichen Verbesserung der Lebensbedingungen für alle Menschen einzutreten und nicht auf primitive Konstrukte wie Nationalismus und Kapitalismus zu bauen. Die Gewerkschaftsbewegung sollte sich deshalb insgesamt auf ihre Wurzeln besinnen und sich klar von jeglicher Form des Chauvinismus distanzieren. Die Befreiung des Menschen durch den Menschen, das kann letztlich nur der Zusammenhalt in der Klasse der Lohnabhängigen leisten. Und obwohl es keine mehrheitsfähige Tradition in der BRD hat, den sozialrevolutionären Weg zu gehen, lasst uns trotz allem nicht aufhören ein besseres Leben einzufordern. Lasst uns den 1. Mai als unseren Tag ins kollektive Gedächtnis rufen. Lasst uns feiern und unsere Forderungen auf die Straße tragen. Denn noch ist nichts verloren....

[1] Vigilanten waren/sind militante Provokateure und StreikbrecherInnen

[2] Karasek, Horst (Hrsg.): Haymarket – 1886: Die deutschen Anarchisten von Chicago – Reden und Lebensläufe, Berlin 1975

[3] vgl. Schumann, Diane: Anarchie: Zur Vorverurteilung eines Begriffs und seiner Anhänger am Beispiel der Haymarket-Affäre 1886 in Chicago, Berlin 2003

[4] vgl. Boltanski, Luc et al.: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz, 2006.

library.mpib-berlin.mpg.de/toc/ze_2003_948.pdf

[5] vgl. Castel, Robert: Die Krise der Arbeit: Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg 2011

[6] Ein gern verwendeter Vorwurf, wenn linke Positionen vertreten werden...

[7] Korporatismus beinhaltet die autoritäre Zwangseinbindung von gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gruppen in politische Entscheidungen. Der (faschistische) autoritäre Korporatismus ist Bestandteil einer Gleichschaltung, die der Gesellschaft die Vielfältigkeit (Pluralismus). entziehen will. Die Tarifeinheit beispielsweise, ist eindeutig als staatlich getragener Zwang gegenüber anderen (Basis-)GewerkschafterInnen zu verstehen und somit klar dem autoritären Korporatismus zuzuordnen. Auch gerne als „deutsches Modell“ als spezifische Form der Wirtschafts-und Gewerkschaftsstruktur bezeichnet.

[8/9] vgl. Dribbusch, Heiner: Tarifkonkurrenz als gewerkschaftspolitische Herausforderung: ein Beitrag zur Debatte um die Tarifeinheit. WSI, 2010.

www.econstor.eu/obitstream/10419/50481/1/636617378.pdf

[10] Gilt wenn mehrere Tarifverträge auf ein Arbeitsverhältnis anwendbar sind und bei Regelung von gleichem Sachgebiet (vgl. Däubler, Wolfgang: Das Arbeitsrecht 1, Hamburg 2006)

[11] Wenn mehrere Tarifverträge im betrieblich überschneidenden Geltungsbereich gelten (ebd.)

[12] Dribbusch, 2010, S.7

[13] In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2014

[14] International Labour Organization, UN-Organisation

[15] vgl. Felix Langhammer: „Tarifbindung in deutschen Unternehmen deutlich gesunken“. In: neues deutschland: www.neues-deutschland.de/artikel/915294.tarifbindung-in-deutschen-unternehmen-deutlich-gesunken.html

[16] vgl. Bernhard Ebbinghaus und Claudia Göbel: „Mitgliederrückgang und Organisationsstrategien deutscher Gewerkschaften“. In: Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden, 2014, S.207-239

[17] vgl. Dribbusch, 2010

[18] Informationen zu der Veranstaltung über: www.fau.org/artikel/art_120105-183341

[19] Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt 1996, S.60

[20] Als „Fordismus“ wird die typische Organisationsform von Arbeit und Kapital ab dem Ende des Ersten Weltkriegs verstanden. Der Begriff beschreibt ausgehend von marxistischen Positionen (u.a. Gramsci) die Entstehung des sogenannten Wohlfahrtsstaats anstelle des krisenhaften Zusammenbruchs des Kapitalismus. Kennzeichen sind zum einen Formen der Massenproduktion wie Fließbandarbeit (Bezug auf Henry Ford) sowie der „Sozialpartnerschaft“ zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Dessen Ende markiert der Eintritt in die „Post-fordistische“ Phase ab den 1970er Jahren mit dem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts und dem beginnenden Umbruch der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft.

[21] Errico Malatesta et al.: Anarchismus und Syndikalismus, Berlin 1978, S.42

[22] vgl. ebd., S.43

[23] vgl. DA 222; José Luis Carretero Miramar: Auf die Zukunft setzen! Perspektiven für eine selbstverwaltete Wirtschaft

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion #223 - Mai/Juni 2014