Reproduktion – zur Tragfähigkeit einer Kategorie

Es gibt ganz offensichtlich unterschiedliche Begriffe der Reproduktion, die sich nicht auf einen tragfähigen gemeinsamen Begriff zurückführen lassen. Dennoch lohnt die Frage, was sie uns gerade in dieser ihrer Unterschiedlichkeit als solche zu denken gaben. Ihr nachzugehen, verschafft uns einen spezifischen Zugang zum Kunstwerk – nämlich zu dem, was es für menschliche Individuen spezifisch zu leisten vermag.

1. Polysemie der Reproduktion

Die unterschiedlichen Bedeutungen des Reproduktionsbegriffs lassen sich sinnfällig in drei Gruppen einteilen: Deren erste bezieht sich auf die biologische Reproduktion von Individuen als Exemplare einer Gattung (so etwa in der „Reproduktionsmedizin“), eine zweite auf die Reproduktion von gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. Strukturen (so etwa in Karl Marx' „Reproduktionsschemata“), eine dritte auf die für die Ästhetik grundlegend wichtige Unterscheidung von „Original“ und Reproduktion.
Wir können diese drei Gruppen im Rückgriff auf Gottlob Freges Unterscheidung von Eigenname und Begriff recht präzise unterscheiden:
In der biologischen Reproduktion – schon Aristoteles gebrauchte das Beispiel „Ein Mensch zeugt einen Menschen!“ – geht es darum, dass existierende Individuen gleiche, d.h. der gleichen Art angehörende Individuen hervorbringen, die Reproduktion bewirkt also ganz schlicht die „Wiederkehr des Gleichen“ in der Abfolge verschiedener Individuen. Es geht also darum, immer wieder Individuen zu produzieren, welche unter den gleichen Begriff fallen, und damit eben diesen Begriff in seiner realen Existenz zu halten – die Eigennamen dieser Individuen, und damit ihre Singularität, auf die sich diese beziehen, spielen hier keine Rolle.
In der Untersuchung der Reproduktion von Verhältnissen und Strukturen wird von deren TrägerInnen ganz grundsätzlich abgesehen: Es muss sie zwar geben, sie spielen hier aber als solche überhaupt keine Rolle mehr – es geht nur noch um Beziehungen zwischen Begriffen als solchen, nicht einmal ihre Anwendbarkeit  auf individuelle TrägerInnen ist hier ein Thema. Stattdessen geht es um das Verhältnis von einfacher und erweiterter Reproduktion, d.h. letztlich um den Prozess der Akkumulation, d.h. von quantiativer Erweiterung eines qualitativ Indifferenten bzw. Gleichbleibenden.
In der Kunst, speziell im Kunstwerk, geht es dagegen – selbst „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin) – immer um dessen als solche nicht reproduzierbare Singularität, deswegen bleibt also dessen Reproduktion, so perfekt sie auch dem Kunstwerk gleich kommen mag, immer ein Gegenstand minderen ästhetischen Rechts.
Die verschiedenen Bedeutungen dieser unterschiedlichen Gruppen von Reproduktionsbegriffen lassen sich weder auf einen gemeinsamen Bedeutungskern beziehen (Ibn Sina und Duns Scotus), noch kann zwischen ihnen eine Einheit der Analogie – wie etwa zwischen einer „gesunden“ Gesichtsfarbe, einer „gesunden“ Ernährung, einer „gesunden“ Köperverfassung (Aristoteles, Thomas von Aquin), noch auch weisen sie eine „Famlienähnlichkeit“ (Wittgenstein) auf – wie etwa Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele als „Spiele“. Dennoch gibt es zwischen diesen unterschiedlichen Bedeutungen selbst bedeutungsvolle Zusammenhänge.

2. Zusammenhänge der Reproduktionsbegriffe

Als ein erster, elementarer Zusammenhang dieser Reproduktionsbegriffe lässt sich ein negativer Zusammenhang festhalten: In keiner dieser Gruppen  kann sinnvoll von etwas geredet werden, das mit dem ingenieurwissenschaftlichen Begriff der „identischen Reproduktion“ belegt werden könnte. Bei allem Verständnis für die  Komplexität, vielleicht sogar Dialektik, der Verhältnisse von Identität und Nichtidentität, muss in allen drei Gruppen eine solche Verknüpfung von Identität und Reproduktion begrifflich ausgeschlossen werden.
Darin liegt eine bedeutungsvolle Pointe: Nämlich die Feststellung, dass Reproduktion in allen ihren Spielarten nicht dazu in der Lage ist, die Singularität als solche adäquat zu erfassen. Zwischen begrifflich erfassbaren Sachverhalten kann nur ihre Gleichheit oder Ungleichheit konstatiert werden, während Identität nur zwischen Singularitäten bestehen kann: Shakespeare mag zwar mit Bacon identisch sein – wenn diese etwas abwegige Theorie denn zuträfe –, aber ein eineiiger Zwilling mag zwar dem anderen (fast) vollständig gleichen, oder eine gute Reproduktion sich nicht mehr vom Original unterscheiden lassen, aber sie sind deswegen noch lange nicht miteinander identisch.

3. Zugang zum Kunstwerk

Menschliche Individuen sind im gesamten historischen Prozess die TrägerInnen der Reproduktion von Strukturen und Verhältnissen, in vormodernen Gesellschaftsformationen als persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, in modernen als sachlich vermittelten Herrschaftsverhältnissen unter dem Schein der gleichen Freiheit aller PrivateigentümerInnen. In diesen Verhältnissen gehen menschliche Individuen aber nicht auf. Sie bleiben Singularitäten, die sich durch Aneignung derartiger Verhältnisse und Strukturen erst voll als Individuen konstituieren, als solche bilden müssen. Diese Bildungsprozesse sind immer schon hinter ihrem Rücken erfolgt, lange bevor sie selber die Initiative übernehmen, eigenständig handeln und etwa bewusst darüber nachdenken.
Im Kunstwerk können sie sich als Singularitäten auf Singularitäten beziehen – zumindest mit dem Schein der Unmittelbarkeit. Und dieser Schein verweist auf etwas ganz Elementares: Ästhetische Bildung und Kultivierung von Kunstverständnis gibt zwar Instrumente und Kompetenzen an die Hand, durch die das individuelle Verhältnis zu Kunstwerken verfeinert und auch kommunizierbar gemacht werden kann. Aber es bleibt doch etwas uneinholbar Rohes im Spiel der individuellen Erfahrung von Kunst: Ein primäres Verhältnis von Singularität zu Singularität – und damit etwas, was radikal unvermittelbar und daher auch unkontrollierbar bleibt. Wie sehr auch immer das Kunstverständnis und das Kunsterleben in Konventionen und Konformitäten eingebunden und durch herrschende Modelle des Schönen bestimmt ist, bleibt doch diese primäre, rohe Ebene ihrer Praxis radikal unverfügbar – und insofern immer auch ein Erleben freier, ungebundener, nicht kategorial gefasster Singularität.
Im Schein der Kunst wird damit die unverstellbare Spontaneität der sich im Gegenüber der anderen Singularität begegnenden elementaren und insofern auch rohen Singularität als solche erfahrbar. Zumindest einen verschwindenden Moment lang scheint damit unvermeidlich auch die Möglichkeit befreiter Subjektivität auf.



Frieder Otto Wolf lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin. www.friederottowolf.de


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 32, Sommer 2014, „Re:Produktion“