„Lemmingshaft“ – oder: die Stunde der Schlafwandler

Zu DDR-Zeiten gehörte zu den politischen Witzen, die gern, wenn auch vorsichtshalber hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden, dieser:
Frage: Sind die Sowjets eigentlich unsere Brüder oder unsere Freunde?
Antwort: Unsere Brüder natürlich. Freunde kann man sich doch aussuchen.
Heute könnte man solches – unter Weglassung der vorgehaltenen Hand – wieder erzählen. Nur dass die problematischen Brüder inzwischen gewechselt haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin ist den russophoben unter den deutschen Mainstreammedien wie Spiegel und anderen inzwischen nur noch die Inkarnation des Bösen. Vorstellbar ist, dass man in deren Redaktionen deshalb bedauert, dass es von Putin zwar gerade erst Fotos gab, auf denen er angesichts der Flugzeugkatastrophe über der Ukraine außer Gleichgültigkeit keine weiteren erkennbaren Emotionen erkennen ließ, aber keine zur Visualisierung des Bösen noch deutlich besser geeignete Aufnahmen – am besten solche, die ihn in seinem Palast bei der Liveübertragung der Ermordung eines Regimegegners durch russische Spezialkräfte zeigten. Derartige Aufnahmen gibt es ja – allerdings nur vom aktuellen US-Präsidenten Barak Obama und der möglichen künftigen ersten US-Präsidentin Hillary Clinton. Da war vom Bösen in den betreffenden Medien jedoch keine Rede, ja man kam nicht einmal auf die Idee zu fragen, warum es den US-Seals nicht möglich gewesen sein sollte, den Mann lebend mitzunehmen und, wie es sich für einen selbsterklärten vorbildlichen Rechtsstaat gehört hätte, in Washington vor Gericht zu stellen. Den Leichnam transportierten sie ja auch ohne weiteres ab, um ihn irgendwo im offenen Meer über Bord zu verklappen. Wurde die Frage von Politik und Medien mehrheitlich vielleicht deswegen nicht gestellt, weil man die Antwort kannte, damit aber das deutsche Publikum nicht irritieren wollte? Dass nämlich die Seals genau den Befehl ausgeführt hatten, der ihnen erteilt worden war.
Es ist übrigens auch Obama und nicht Putin, auf dessen völkerrechtswidrige Weisung hin ganze Landstriche, zum Beispiel Pakistans, seit Jahren durch Drohnenüberflüge und -angriffe terrorisiert wurden und werden und wo bei gezielten Tötungen zahlreiche Frauen, Kinder, Greise sowie andere Nichtkombattanten zu Tode kamen.
Und der russische Geheimdienst hat, wie alle seine westlichen Pendants, sicher genug Dreck am Stecken – aber Geheimgefängnisse im willfährigen Ausland zur rechtswidrigen, willkürlichen Inhaftierung und zum Foltern vermuteter Gegner gehören zumindest bis jetzt noch nicht dazu.
Über die letztgenannte amerikanische Praxis haben die hier in Rede stehenden deutschen Medien zwar zum Teil Krokodiltränen vergossen – führende Politiker taten nicht einmal das –, aber bis zu grundsätzlichem Nachdenken darüber, an was für einem Land als Hauptverbündeten und Führungsmacht wir da eigentlich festhalten und inwieweit die USA Mitverantwortung für die schlimmer gewordenen Zustände in verschiedenen Regionen des Globus tragen, hat auch alles bisher Genannte zusammen nicht geführt. Ein Wunder ist das mitnichten: Denn wer dem Brandstifter zuvorderst das Image eines Feuerwehrmannes nicht nur andichtet, sondern dies auch noch glaubt, für den sind die Dinge dann wirklich schwer auseinander zu halten. Das funktioniert bei Putin natürlich viel besser; weil dem ein solches Image bekanntlich gar nicht erst konzediert worden ist.
Wahrnehmbar höher als bei den bisher aufgeführten, von Washington zu verantwortenden Untaten schlugen die Wellen der politischen und medialen Empörung hierzulande aus einem vergleichsweise viel harmloseren, weil wahrscheinlich keine unmittelbare Auslöschung von Menschenleben zur Folge habenden Anlass – wegen der flächendeckenden Ausschnüffelung unserer gesamten digitalen Kommunikation durch die NSA und ihren britischen Kumpan GCHQ. Halt, ganz richtig ist das nicht. Eigentlich schlugen die Wellen nur wegen eines einzigen Handys wirklich hoch, dem der Kanzlerin, und weil hinterher gleich auch noch zwei subalterne US-Spione beim BND und im Verteidigungsministerium aufflogen. (By the way: Woran kein Fachmann zweifelt ist, dass Washington solche seit der bundesdeutschen Staatsgründung immer auf seiner Payroll hatte – angefangen beim ersten BND-Chef Reinhardt Gehlen.)
Doch bevor noch aus dem Glimmen am Fundament der deutsch-amerikanischen Beziehungen Flammen schlagen konnten, gar ein Flächenbrand, schlugen die USA-Bekenner und -Gesundbeter beherzt und nachdrücklich ihre Glöcklein. Norbert Röttgen zum Beispiel, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der uns Bürgern, Medienmacher inklusive, mit staatstragendem Habitus im Deutschlandfunk nahelegte: „ […] wir dürfen übrigens auch nicht den Fehler machen, jetzt die Dummheiten der USA auf dem Gebiet der Geheimdienste zum Maßstab zu nehmen, generell für das deutsch-amerikanische Verhältnis“. Und warum nicht? „[…] weil dieses Verhältnis so wichtig und unverzichtbar ist.“ Brüderlich quasi?
Ausführlicher in diesem Sinne wurde Richard Herzinger von der Welt-Gruppe in seinem – man ist versucht zu sagen herzig – „Freie Welt“ betitelten Blog: „Denn der Dauerbeschuss unserer Öffentlichkeit mit Schreckensberichten über die Machenschaften von US-Diensten spielt denen in die Karten, die […] gegen die transatlantischen Beziehungen Stimmung machen. Das geschieht in einem historischen Moment, da deren Vertiefung dringend notwendig ist. Nicht nur die Zustimmung zum hierzulande von allen Seiten massiv dämonisierten Freihandelsabkommen steht dabei auf dem Spiel. Angesichts einer Welt voller gefährlicher Krisen können sich Amerika und Europa eine nachhaltige Zerrüttung ihres Vertrauensverhältnisses nicht leisten. […] überall sind gemeinsame Antworten des Westens unerlässlich.“ Gemeinsame Antworten des Westens? Angesichts einer Welt voller gefährlicher Krisen? Solche Antworten wie in Afghanistan, im Irak und in Libyen? Die aus bestehenden, die Hekatomben von zivilen Opfern fordern und aus begrenzten Krisen schlimmere, unbeherrschbarere machen. Und das ist dann Ausdruck funktionierender strategischer Partnerschaft?
Gottseidank gibt es aber auch Berufskollegen von Herzinger, die die Politik der USA und den gegenwärtigen Stand des deutsch-amerikanischen Verhältnisses wirklichkeitsnäher reflektieren. Holger Schmale und Christian Schlüter etwa von der Berliner Zeitung.
Schmale: „Es ist […] ein Unterschied, ob man sich über die Politik der USA irgendwo auf der Welt erregt, in Afghanistan, im Nahen Osten, in Guantanamo. Oder ob man sich plötzlich selbst als Opfer dieser Politik erkennt, wo man sich doch als Freund und Partner empfunden hat. So ist das jetzt in Deutschland.“ Und: „Wer den Feind lieber tötet, als ihn vor Gericht zu stellen, ist so weit von den Grundregeln eines Rechtsstaates entfernt wie Washington von Berlin.“
Schlüter: „Wer wegen der sogenannten Wertegemeinschaft vor der Konsequenz zurückschreckt, das transatlantische Verhältnis in toto als Feindschaft zu beschreiben, der wird der Klarheit wegen zumindest von einer deutlich feindlichen Dimension innerhalb dieser Freundschaft sprechen müssen.“
Was muss eigentlich noch passieren, bleibt zu fragen, damit die bürgerliche politische deutsche Elite und ihre journalistische Entourage den Kern der deutschen Staatsräson, das juniorpartnerschaftliche Verhältnis zu den USA – oder sollte man besser sagen: die deutsche Nibelungentreue, denn das bundesrepublikanische Nichtmitmachen im Irak und gegen Libyen war ja die Ausnahme und nicht die Regel –, einmal ernsthaft auf den Prüfstand stellt? Vielleicht mit dem Ergebnis, das Verhältnis von Regel und Ausnahme in Sachen Gefolgschaft umzukehren? Die Antwort lautet so schlicht wie ergreifend: Nichts muss mehr passieren, denn bis hin zu völkerrechtswidrigem Angriffskrieg (Irak) und Staatsverbrechen hat es vonseiten Washingtons auch in der jüngsten Vergangenheit bereits alles gegeben, was dazu Veranlassung hätte bieten können, ja müssen. Es wird also auch jetzt nicht passieren, und mit den vorherrschenden Eliten hierzulande wird es „gefühlt“ nie passieren. Stattdessen lässt sich die Bundesrepublik in den Strudel einer neu angeheizten Feindschaft zu Russland mit hineinziehen, die, in wessen Interesse auch immer, aber keinesfalls im deutschen ist. Das hat unterm Strich etwas von jener Zwanghaftigkeit, die den Lemmingen zu Unrecht nachgesagt wird, oder, um ein in diesem Jahr häufig gebrauchtes Wort zu bemühen, etwas Schlafwandlerisches.