Warum Care Revolution?

 

Unter Reproduktionsarbeit verstehen wir, die Arbeitsgruppe um Gabriele Winker und das Feministische Institut Hamburg, die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Tätigkeiten, die nicht warenförmig, sondern am Gebrauchswert orientiert in familiären Bereichen realisiert werden. Dies umfasst vor allem die Ernährung, die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen als neue Generationen von Arbeitskräften sowie die Reproduktion der eigenen Arbeitsfähigkeit und die anderer Erwerbspersonen (Winker 2010: 170). Reproduktionsarbeit im breiten Sinne, so wie wir sie verstehen, fokussiert nicht nur auf die (Wieder-) Herstellung von Arbeitskraft, sondern bezieht auch das Überleben und Wohlbefinden ehemaliger Arbeitskräfte und damit die Versorgung unterstützungsbedürftiger alter Menschen ein (ebd.).

Die feministische Ökonomiekritik versteht unter Care-Arbeit alle unbezahlten und bezahlten Arbeiten für die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Erwachsenen sowie die Hausarbeit für abhängige wie arbeitsfähige Personen (Madörin 2007: 142/143). Diese Arbeiten sichern nicht nur das Überleben und das tägliche Wohlbefinden von Menschen, sondern sie sind auch die Voraussetzung für die Produktion von Gütern sowie für einen guten Lebensstandard und den gesellschaftlichen Wohlstand. Dazu gehören ebenso die Sorge um sich, die Zeit die Menschen brauchen, Dinge zu tun, die auch aber nicht nur der Erhaltung ihrer Arbeitskraft dienen, die sie rein aus Spaß, Freude und Genuss am Leben realisieren. Wir benutzen zusätzlich den Begriff der Reproduktionsarbeit, der darauf verweist, welche Bedeutung die unbezahlte Care-Arbeit in Familien in einer kapitalistischen Gesellschaft hat.

Reproduktionsarbeit muss in zunehmendem Maß parallel zur Erwerbsarbeit geleistet werden; dies wird durch neue politische Rahmungen, die sich u.a. in einer wirtschaftsorientierten Familienpolitik[1] und in neoliberalen Reproduktionskonzepten[2] zeigen, normativ verankert. Faktisch wird jedoch derzeit das neoliberale Ideal der beidseitigen Vollzeitbeschäftigung von der Mehrheit der Eltern insbesondere in Deutschland nicht realisiert, so dass es überwiegend teilzeitbeschäftigte Frauen sind, die Care-Arbeit leisten.

Da es immer mehr Menschen gibt, die keine Care-Arbeit für Kinder verrichten müssen, wird Care zunehmend auch zu einer Kategorie sozialer Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Studien zeigen hinreichend, dass die Anforderungen gestiegen sind und dass die parallele Erfüllung von Erwerbs- und Familienarbeit zu Stress und prekärer Selbstsorge führt. Ein Hinweis auf die systematische Überlastung sind die steigenden Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen. Diese stiegen von 1994 bis 2010 um 80% an (Fehlzeiten-Report 2009 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK).

 

Die Diskussion um Lohn für Hausarbeit: Warum flog die Tomate?[3]

 

Bevor ich mich der aktuellen Krise der sozialen Reproduktion zuwende, möchte ich einige Worte zur Historie des Diskurses verlieren. Innerhalb der 68er-Bewegung  machten die Genossinnen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf sexistische oder patriarchale Unterdrückungsverhältnisse aufmerksam. Helke Sander warf auf dem SDS-Delegiertenkongress am 13. September 1968 in Frankfurt/Main den männlichen Mitgliedern vor, die spezifische Ausbeutung der Frau im privaten Bereich zu tabuisieren. Sie forderte die männlichen Genossen auf, sich damit auseinanderzusetzen. Diese reagierten mit Gelächter und Ignoranz, woraufhin die hochschwangere Studentin Sigrid Damm-Rüger Tomaten in Richtung des Vorstandstisches warf. Die mediale Verbreitung dieser Aktion führte dazu, dass sich in den Universitätsstädten Frauengruppen konstituierten, die auf bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in der APO wie in der Gesellschaft aufmerksam machten. Die gesamte internationale Frauenbewegung zog ihre Konsequenzen aus dieser auch in der 68er-Bewegung verbreiteten Missachtung.

So reagierten zum Beispiel die Frauen innerhalb der Kommunistischen Partei Italiens mit doppelter Militanz. Sie kämpften als Teil der internationalen Kommunistischen Bewegung und gleichzeitig als Teil der internationalen Frauenbewegung gegen geschlechtsspezifische Formen der Ungleichheit und Unterdrückung, die sonst bei vielen Genossen keinen Widerhall fanden.

Aus theoretischer Sicht kämpften die Frauen gegen einen Herrschaftsbegriff, der auf dem Marxismus-Verständnis der Zweiten und Dritten Internationalen basierte. Dort wurde das Klassenverhältnis als das Grundverhältnis der sozialen Herrschaft begriffen, dass alle anderen Herrschaftsverhältnisse dominiert. Klasse ist ein Ableitungsbegriff für Sexismus, Rassismus und Kolonialismus und kennzeichnet den Hauptwiderspruch. Die Frauenfrage wird so zu einem Nebenwiderspruch und nicht als ökonomisch fundiertes, sondern als ein kulturell nachgelagertes Verhältnis begriffen. Dagegen wurde der Slogan das „Private ist Politisch“ gesetzt. Das begründete ein neues Politikverständnis. Eine wichtige Anschlussstelle für den Streitpunkt war folgendes Marx-Zitat aus dem Kapital Bd. I, 4. Kapitel zur „Verwandlung von Geld in Kapital“: „Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei“ (Marx 1968a, 191).

Marx analysiert den Kapitalismus, beginnt mit der Ware und tastet sich langsam zu den Triebkräften des Kapitalismus vor. Er kommt dann auf den Dreh- und Angelpunkt des Profits zu sprechen. Der Profit ist die Differenz zwischen der notwendigen Arbeit und der Mehrarbeit. Dazu müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Die Arbeiter müssen doppelt frei sein, frei von Produktionsmitteln und frei ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und sie müssen mehr arbeiten als sie für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigen. Wenn sie 10 Stunden arbeiten müssen, um den Wert zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft zu erwirtschaften, aber 12 Stunden tätig sind, dann erwirtschaften sie in 2 Stunden einen Mehrwert, den der Kapitalist erhält. Diese Aneignung des Mehrwertes ist nach wie vor ein gesellschaftlich umkämpftes Verhältnis: Was steht dem Lohnarbeiter zu? Hier haben die Feministinnen mit folgenden Argumenten eingehakt. Hinter dem Arbeiter steht immer seine Frau. Maria Mies, Veronica Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof fragten deshalb nach, wer die Ware Arbeitskraft produziert. Sie gingen so weit zu sagen, dass nicht der Arbeiter, sondern die Hausfrau die Ausgebeutete ist (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983). Die Hausfrauisierung verlaufe immer parallel zum Prozess der Proletarisierung. Das sei ein Indiz dafür, wie sehr die nicht entlohnten Arbeiten integrale Bestandteile des Kapitalismus sind.

Eine Arbeitsteilung, die über die Geschlechterhierarchie begründet ist, die sich auch in einem Familienlohn widerspiegelt, der dem Mann vorbehaltlos zugestanden und der der lohnabhängig beschäftigten Frau verweigert wurde, macht die Frau nicht nur zur Hausfrau und Nebenerwerbstätigen, sondern damit auch zu einer unbezahlten Reproduktionsarbeiterin. Zu dieser Problematik werden wir im Kapital von Marx nicht fündig, allerdings schreibt Friedrich Engels 1884 dazu:

„Mit der patriarchalischen Familie, und noch mehr mit der monogamen Einzelfamilie wurde dies anders. Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt. Erst die große Industrie unsrer Zeit hat ihr – und auch nur der Proletarierin – den Weg zur gesellschaftlichen Produktion wieder eröffnet. Aber so, daß, wenn sie ihre Pflichten im Privatdienst der Familie erfüllt, sie von der öffentlichen Produktion ausgeschlossen bleibt und nichts erwerben kann; und daß, wenn sie sich an der öffentlichen Industrie beteiligen und selbständig erwerben will, sie außerstand ist, Familienpflichten zu erfüllen… Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussklaverei der Frau… Der Mann muß heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen… Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat“ (Engels 1884, 75).

Trotz seiner kritischen Position und seiner profunden Kenntnis der Marxschen Theorien zum Kapital umschreibt er die zu leistende Reproduktionsarbeit mit dem Begriff Familienpflicht und stellt sie damit außerhalb der marxschen Betrachtung zur Reproduktion im Akkumulationsprozess des Kapitals.

Der Begriff der Hausfrauisierung und der durch ihn beschriebene Prozess waren in den 80er und 90er Jahren höchst umstritten, weil hier die Hausfrau gegen den Proletarier gestellt wurde, was zu fruchtlosen und verletzenden Debatten führte. Der zentrale  Streit drehte sich um die Frage, ob die Arbeit der Hausfrau wertbildend ist. Aus dieser Auseinandersetzung entstand die Forderung nach einer Entlohnung der Hausarbeit. Stefan Paulus hat in „Hausarbeitsdebatte Revisited“ die Entstehung und Entwicklung der Debatten zusammengestellt (Paulus 2013).

Der zweite Angriffspunkt der Feministinnen war das Männlichkeitskonstrukt in der Marx'schen Analyse. Hier ist Christel Neusüß mit ihrem Werk „Die Kopfgeburt der Arbeiterbewegung“ zu nennen (Neusüß 1989). Ihre These besagt, dass dem männlich konnotierten Kopfdenken der Linken ein weiblicher Ganzheitsanspruch entgegengestellt werden muss. Allerdings ist diese knappe Rezeption eine extreme Verkürzung von Neusüß Werk.

Als drittes sind die Argumente von Frigga Haug anzuführen. Marx hat die Geschlechterverhältnisse zwar erwähnt, so Haug, sie aber nicht analysiert, sondern naturalisiert. Haug definiert auch das Geschlechterverhältnis als Produktionsverhältnis (Haug 2005; dies. 2009). Es ist somit eine Form des Kapitalismus, in der die Fragen der Reproduktion privatisiert gelöst werden. Hierarchische Geschlechterverhältnisse sind demnach integraler Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Bezüglich der Krise der sozialen Reproduktion soll schließlich Rosa Luxemburg genannt werden. Sie war zwar keine Feministin, aber in ihrer Theorie der „Akkumulation des Kapitals“ (1913) entwickelte sie folgende These zum Kolonialismus: Der Kapitalismus braucht für seine Reproduktion ein Hinterland als Ressource, das noch nicht nach kapitalistischen Gesetzen funktioniert. Luxemburg bezog  sich dabei auf die These von Marx, nach der die Entstehung von Kapital immer mit einer gewaltigen Zerstörung von nicht kapitalistischen Produktionsweisen einhergeht (Marx 1968b). Sie erweiterte die Marx‘sche Sicht dahingehend, dass dieser Effekt  nicht nur in der Geburtsstunde des Kapitals auftritt, sondern dass der Kapitalismus in jeder Phase auf die Zerstörung solcher Gesellschaftsformen angewiesen ist, um sich deren Ressourcen anzueignen.

Folgen wir dieser Logik, so kann man sagen, dass auch die privatisierte Reproduktionssphäre, obwohl sie eigentlich notwendig ist, sukzessive zerstört wird, um daraus Profit zu generieren. Es braucht aber auch diese Parallelbereiche, die nicht nach Effizienz, Leistung und Geldkriterien funktionieren, um darin Tätigkeiten, die keinen Gewinn bringen, unauffällig auszulagern. Die damit einhergehende Überlastung, aufgrund fehlender Zeit und Ressourcen für die Sorge um sich und andere, bedingen menschliches Leid und destruktive Lebensverhältnisse. Der Neoliberalismus reduziert die Menschen auf ihre verwertbare Leistungsfähigkeit, ihr so genanntes Humankapital und konstruiert den Unternehmer seiner selbst." (Foucault 2006: 314), der leistungsstark, autark, unabhängig ist, jederzeit effizient handelt, immer rational denkt und immer gesund ist. Wer es an Initiative, Dynamik, Mobilität und Anpassungsfähigkeit fehlen lässt, ist nicht fähig, ein freies und rationales Subjekt zu sein (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 30). Neoliberale Konzepte in der Politik drängen die Kranken, nicht Leistungsstarken und Alten an den Rand der Gesellschaft und exkludieren sie als die „Anderen“. Der Neoliberalismus legitimiert sich über dieses Konstrukt, das es so gar nicht gibt, denn jeder Mensch ist mindestens in einem Drittel seines Lebens von der Sorge Anderer abhängig, weil er klein, krank oder alt ist. Neoliberale Verhältnisse basieren darauf, dass diese Sorge-Kosten privatisiert werden und der lukrative Teil der Reproduktionssphäre zur Gewinnmaximierung herangezogen wird. Nach Brenssell existieren zwei Dynamiken der Privatisierung. Diese führen zuerst raus aus der öffentlichen Finanzierung und rein in die private Verantwortung, wo dann zum zweiten der lukrative Teil an gewinnorientierte Unternehmen vergeben und der profittechnisch unattraktive Rest in die private Sphäre verlagert wird.

Zudem existiert eine bezahlte Care Ökonomie, wie z.B. die Soziale Arbeit, die jedoch mehrheitlich als notwendige Reparatur gesehen wird, wenn in der privaten Reproduktionsarbeit Fehler gemacht werden oder offenkundig notwendige Care-Arbeiten dort nicht mehr geleistet werden können.

 

Krise der Sozialen Reproduktion und Care-Revolution

 

Den allermeisten Menschen fehlt es an Zeit und/oder Geld oder an beidem, um  selbstbestimmt für sich und andere sorgen zu können sowie darüber zu entscheiden, von wem sie versorgt werden möchten. Dies liegt nicht an mangelndem individuellem Engagement, sondern hängt eng mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zusammen. Hier spitzt sich gegenwärtig ein zentraler Widerspruch zwischen der Profitmaximierung und der Reproduktion der Arbeitskraft deutlich zu, wobei erstere das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens und letztere wiederum die Voraussetzung für Profitmaximierung ist. Um Profit zu generieren, soll möglichst wenig Geld in die Betreuung und Ausbildung neuer Generationen und in die Qualifizierung und Versorgung der gegenwärtigen Arbeitskräfte gesteckt werden. Diese Krise sozialer Reproduktion führt dazu, dass die Existenzsorgen, Belastungen und Überforderungen für alle Sorgearbeitenden weltweit, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, zunehmen. Über die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse wird mit der sogenannten „Stillen Reserve“ der Zugang zum Arbeitsmarkt reguliert und eine Lohndifferenz aufrechterhalten (Winker i.E.). Wir haben es hier mit heteronormativen, klassistischen, rassistischen und bodyistischen Herrschaftsverhältnissen zu tun. Diese vier Herrschaftsverhältnisse regulieren den Arbeitsmarkt über ungleiche Zugänge, Löhne und Gehälter.

Der Slogan „Care Revolution“ (Winker 2009; dies. i.E.) hat sich als Kristallisationsbegriff für die kollektiven solidarischen Widersetzungen und Alternativprojekte der Care-Bewegung etabliert. Er markiert „eine feministische Perspektive für eine gesellschaftliche Transformation“ (Winker 2013: 119) und steht für eine feministische Ökonomiekritik, die analysiert, wie der lebensnotwendige Bereich sozialer Reproduktion in der kapitalistischen Ökonomie strukturell abgewertet wird (Brückner 2010, Federici 2012). Wenn gesellschaftliche Verhältnisse im Sinne eines guten Lebens für Alle weltweit verändert werden sollen, dann müssen die Widersprüche zwischen der Profitmaximierung und der Reproduktion der Arbeitskraft sichtbar gemacht werden. Menschen handeln nicht freiwillig gegen ihre eigenen Lebensinteressen, sie tun es, weil sie auf gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation hoffen. Deshalb ist es notwendig, Prozesse in Gang zu setzen, die aufschlüsseln, wie wir normativ und strukturell gezwungen werden, uns tagtäglich Forderungen zu unterwerfen. Anrufungen zu akzeptieren und uns an Gegebenheiten anzupassen, die nicht unseren Lebensinteressen entsprechen. Nur dann können wir gemeinsam mit Anderen und für Andere Ideen entwickeln, um uns gegen einen profitorientierten Zugriff auf unser Leben  zu wehren. Brenssell greift den Vorschlag von Mascha Madörin auf, eine Messguerilla gegen das Vermessen unseres Alltags (Brenssell 2012) zu entwickeln, um in den Widerstand gegen die vollständige Ökonomisierung des Lebens zu treten mit dem Ziel, ein gesellschaftliches Umdenken und Bewusstsein dahingehend zu ermöglichen, dass alle Menschen von der Krise der sozialen Reproduktion betroffen sind.  Deshalb sollten alle notwendigen Veränderungen in der Care-Arbeit von den unmittelbaren Lebensbedürfnissen der Menschen ausgehen.

Es ist wichtig, feministische Perspektiven zu entwickeln, die bei allen individuellen Differenzen die vergleichbaren Lebensbedürfnisse und die für alle Menschen notwendigen Care-Arbeiten in den Focus nehmen (Winker i.E.). Care Revolution ist eine politische Aktivität, die konsequent die Verwirklichung menschlicher Lebensbedürfnisse ins Zentrum stellt und die Ökonomie nicht  als die Wissenschaft von Wachstumsraten, Profitsicherung und Gewinnmaximierung betrachtet. Sie mündet in der Forderung, dass alle für die Daseinsvorsorge notwendigen Arbeiten in einer Gesellschaft von der Warenproduktion und damit vom Verwertungsprimat auszuschließen sind (ebd.). Im Zentrum dieser Ökonomie müssen grundlegende kollektive Formen der Reproduktion stehen, und es gilt, Care-Dienstleistungen in allen Lebensbereichen auszubauen. Menschen sind in vielen Phasen ihres Lebens auf die Sorge Anderer angewiesen und dann auch abhängig. Das bedeutet, zu kooperieren statt zu konkurrieren und sich an lebensnotwendigen Bedürfnissen statt an monetären Größen zu orientieren (Knobloch 2013), also einen grundlegenden Perspektivwechsel vorzunehmen. Dazu müssen auch die Arbeitsbedingungen und Gehälter der Care-Arbeiter_innen deutlich verbessert werden.

Die ersten Schritte einer Care Revolution bestehen darin, finanzielle Ressourcen zu erschließen. Diese stünden mit einem konsequenten Schuldenschnitt zu Lasten der großen Gläubiger sowie einer deutlich stärkeren Besteuerung der Reichen und der Unternehmensgewinne zur Verfügung (Winker i.E.). Gleichzeitig muss  mehr Zeit zum „freien“ Leben erkämpft werden, indem die gesamtgesellschaftliche Produktivitätssteigerung genutzt wird, um die Erwerbsarbeitszeit radikal zu reduzieren und eine Grundsicherung zu gewährleisten.

Es geht darum, möglichst viele Menschen zu mobilisieren und an ihren Lebensalltag anzuknüpfen. Es werden menschliche Bedürfnisse für ein würdevolles Leben und nicht die Ökonomie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt und alle Formen der Abwertung und Ausbeutung abgelehnt. Verbindend ist die Vision – das gemeinsame Dritte (Bertold Brecht) – ein gutes Leben für Alle.

 

Literatur

 

Brecht, Bertold 1967: Lob der dritten Sache. In: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 2. Frankfurt am Main, 878

Brenssell, Ariane 2012: Krise Krankheit Widerstand. taz vom 18.08.2012

- 2011: Kein Kapitalismus ohne (hierarchische) Geschlechterverhältnisse! Vortrag Rosa-Luxemburg-Stiftung, 11.07. Berlin

Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas 2000: Gouvernementalität der Gegenwart.  Frankfurt am Main

Brückner, Margrit 2010: Entwicklungen der Care-Debatte – Wurzeln und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, Ursula; Schmidbaur, Marianne (Hg.): Care und Migration. Opladen, S. 43-58

Engels, Friedrich 1884:  „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 21, S. 36-85

Federici, Silvia 2012: „Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster

Foucault, Michel 2006: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt am Main

Haug, Frigga 2005: Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. In: Kaindl (Hrsg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Eine Einführung in Wissenschafts-, Ideologie- und Gesellschaftskritik. Marburg

- 2009: Geschlechterverhältnisse sind Produktionsverhältnisse. Eröffnungsvortrag beim Kongress der Europäischen Linken Feministinnen (ELF). Wien

Knobloch, Ulrike 2013: Sorgekrise. Ein Handbuchartikel. In: Denknetz Jahrbuch 2013. Care statt Crash. Zürich, S. 24-32

Luxemburg, Rosa 1913: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin. In: Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5, Berlin/DDR. 1975, „Die Akkumulation des Kapitals“, S. 5-411

Marx, Karl 1968a: Die Verwandlung von Geld in Kapital. In: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Zweiter Abschnitt, Viertes Kapitel, Berlin/DDR, S. 161-191

- 1968b: Die Verwandlung von Geld in Kapital. In: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Siebenter Abschnitt, Vierundzwanzigstes Kapitel, Berlin/DDR, S. 741-791

Madörin, Mascha 2007: Neoliberalismus und die Organisation der Care-Ökonomie. In: Denknetz Jahrbuch 2007: Zur politischen Ökonomie der Schweiz. Eine Annäherung, S. 141-162

Neusüß, Christel 1989: Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander. Hamburg

Paulus, Stefan 2013: Hausarbeitsdebatte Revisited. Zur Arbeitswerttheorie von Haus und Reproduktionsarbeit, Harburg. Online verfügbar unter: urn:nbn:de:gbv:830-tubdok-12034

Werlhof, Claudia von/Mies, Maria/Bennholdt-Thomsen, Veronika 1983: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Reinbek

Winker, Gabriele 2009. Care Revolution – ein Weg aus der Reproduktionskrise. http://www.feministisches-institut.de/carerevolution/

- 2010: Prekarisierung und Geschlecht. Eine intersektionale Analyse aus Reproduktionsperspektive. In: Manske, Alexandra/Pühl, Katharina (Hg.): Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Forum Frauen- und Geschlechterforschung Band 28. Münster, S. 165-183

- 2013: Zur Krise sozialer Reproduktion. In: Baumann, Hans; Bischel, Iris; Gemperle, Michael; Knobloch, Ulrike; Ringger, Beat; Schatz, Holger (Hg.): Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus. Zürich, S. 119-133

- (i.E.): Prekarisierungsprozesse in der sozialen Reproduktionskrise. In: Amacker, Michèle/Völker, Susanne Völker (Hg.): Prekarisierungen. Arbeit, Sorge, Politik. Weinheim

 

 



[1] Z.B. Die Unterhaltsreform zulasten langjähriger Hausfrauen, die Ansprüche von Kindern haben Vorrang (2009). Ein erhöhtes Elterngeld für „Leistungsträger_innen“; verringertes Elterngeld für Geringverdiener_innen; kein Elterngeld  für Leistungsempfänger_innen (2007). Die Vergabe von Kita-Plätzen nach Erwerbsstatus der Eltern. Keine bezahlte Freistellung für familiäre Pflegetätigkeiten (2008/12).

[2] Z.B. Reallohnsenkungen und der Abbau des Familienlohns; die steigende Frauenerwerbstätigkeit; die Intensivierung, Verlängerung und Flexibilisierung der Erwerbsarbeit; die Forderung nach Selbstoptimierung; der Abbau sozialstaatlicher Leistungen führen zur Zunahme unbezahlter Reproduktionsaufgaben für sich selbst (Selbstorganisation, Weiterbildung, Gesundheit); für Kinder und Jugendliche (Erziehung, Bildung, Pflege) und für unterstützungsbedürftige Erwachsene (Pflege, Gesundheit).

 

[3] Ich beziehe mich in diesem Abschnitt u.a. auf einen Vortrag von Ariane Brenssell 2011 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Brenssell 2011).