Jenseits von Ferguson?

In den USA sind die Proteste gegen rassistischen Justiz- und Polizeiterror abgeflaut. Aber die „black lives matter“-Bewegung lebt und mobilisiert weiter.

Die neue antirassistische Bewegung, die den ganzen Sommer und Herbst über mit Sit-Ins, Blockaden und Sprechchören wie „I can’t breathe“, „Hands up, don't shoot“ und „Black lives matter“ auf sich aufmerksam machte, hat einen Mythos zerstört — den von der post-rassistischen Gesellschaft. Denn die Proteste in Ferguson, New York und vielen weiteren US-Groß-und Kleinstädten, die den Nicht-Anklagen mordender Polizisten folgten, waren so massiv, dass sich die Mainstream-Medien ihnen nicht mehr verschließen konnten. Beweise hatten die Videos geliefert, die sich in den sozialen Netzwerken verbreiteten: von Michael Brown in Ferguson im Bundesstaat Missouri und vor allem von Eric Garner im New Yorker Stadtteil Staten Island. Letzterer wurde von Polizisten zu Boden gerissen und erwürgt. Keiner der beteiligten Beamten machte minutenlang Anstalten, ihn wiederzubeleben. „Rassistischer Alltag“, hieß es seitens vieler Afroamerikaner_innen, die gleichwohl ihrer Empörung Ausdruck verliehen.    

Die Irritationen, die die hunderttausendfach heruntergeladenen Videos in den Wohnzimmern vieler Weißer auslösten, waren dagegen nur von kurzer Dauer. Denn große Teile der gesetzesgläubigen US-Öffentlichkeit sahen sich bald darauf in ihren Vorurteilen bestätigt. Als der weiße Polizist Darren Wilson, der für seine Schüsse auf Michael Brown nicht angeklagt wurde, als freier Mann den Dienst quittieren und sich aufs Altenteil zurückziehen konnte, stand auf einmal das „Fehlverhalten“ des unbotmäßigen Schwarzen im Vordergrund. Dasselbe galt für Eric Garner. Weshalb ließ sich der übergewichtige (!) und illegal Zigarretten verkaufende (!) Afroamerikaner von der Polizei nicht freiwillig festnehmen? Es musste wohl an der „Kultur der Armut“ und der „Feindseligkeit gegenüber der Ordnungsmacht“ liegen...

Foto: flickr.com/Light Brigading/CC BY NC 2.0
 

Die in Ferguson ausharrenden Mainstreammedien — sämtliche US-Fernsehsender und Hunderte von Journalisten aus dem Ausland — trugen das Ihre dazu bei. Der staatsanwaltliche Anklageverzicht wurde, wenn überhaupt, dann schwach kommentiert übertragen. Die erwarteten Reaktionen auf der Straße dagegen setzten die Medien wiederum dem vermeintlichen Publikumsgeschmack entsprechend in den Kontext von „Unruhen“ und „Krawallen“. In der Berichterstattung deutsch­sprachiger Medien inklusive derer in Österreich und der Schweiz fiel bis auf wenige Ausnahmen unzählige Male als Erklärung der Begriff „Rassenunruhen“. Der seit vielen Jahren in New York ansässige und nach Ferguson eingeflogene Spiegel-Online-Korrespondent faselte gar von der „schwersten Rassenkrise seit Generationen“. Ihm müsste bekannt sein, dass die in den USA breit verwendete Bezeichnung „race“ Ethnizität und Herkunft bedeutet und eben nicht die biologistisch-nazideutsche „Rasse“. Aber selbst in den US-Mainstreammedien war keine Rede von einer „racial crisis“ oder einem „race war“. Vermutlich spielte beim deutschen Beobachter der Grundtenor, nämlich der Zeigefinger Richtung USA mit der parallel dazu verlaufenden Entlastung des eigenen Stalls zuhause, eine nicht unbedeutende Rolle.         

Von „Rassenunruhen“ zu sprechen ist ebenso unsinnig wie die Behauptung vom spontanen Aufstand Jugendlicher, wie es in einigen liberalen Medien hieß. Denn beide negieren, dass hinter dem oft gezeigten und skandierten Slogan „black lives matter“, der 2014 bekannt wurde, schon vorher organisierte Ansätze standen, die sich zu einer Bewegung in den gesamten USA ausgeweitet haben. Der Name begann als Twitter-Hashtag #BlackLivesMatter und verbreitete sich im Juli 2013 nach dem Freispruch des privaten Sicherheitsmanns George Zimmerman, der in Florida den Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. Mithilfe desselben Hashtags fanden sich 2014 unmittelbar nach dem Tod von Michael Brown in Ferguson, John Crawford III und Eric Garner Betroffene zusammen. Sie waren die ersten, die in Ferguson noch vor Ort, als die Leiche auf der Straße lag, Informationen austauschten. In diesen viereinhalb Stunden multiplizierten sich nicht nur die darauf bezogenen Tweets, sondern auch die Demonstrant_innen aus der Umgebung, die noch am selben Tag nach Ferguson strömten. Die Initiative geht auf drei Frauen zurück und ist dem Selbstverständnis nach „ein einzigartiger Beitrag, der über die gesetzlosen Morde an schwarzen Menschen durch Polizei und Milizen hinausblickt“. Bis Ende Januar hatte „black lives matter“ fast 700 Demonstrationen in den USA und international organisiert.

Das Weiße Haus, das zurecht als weltweit größtes PR-Unternehmen mit Fühlern in alle Richtungen gilt, reagierte bereits Ende November auf die Proteste. 75 Millionen Dollar sollen in den kommenden drei Jahren für über 50.000 am Körper getragene Polizeikameras ausgegeben werden. Auch auf die wachsende Kritik an der militarisierten Polizei ging Washington ein. Unter dem Druck der Demonstrationen von „black lives matter“ war bekannt geworden, dass sich örtliche Polizeiabschnitte unter einem sogenannten „1033-Programm“ seit 1997 gratis mit Militärwaffen aus den Beständen des Verteidigungsministeriums eindecken, allein im Jahr 2013 im Wert von einer halben Milliarde Dollar. So kam es, dass beispielsweise die Polizei in Ferguson mit Schützenpanzern und Nahkampfausrüstung aus den Kriegen im Irak und Afghanistan sowie Schnell­feuergewehren auf Demonstrant_innen losging. Das Programm lasse sich vom Präsidenten nicht einstellen, hieß es, denn es sei vom Kongress verabschiedet worden. Eine Zeitschrift enthüllte diesbezüglich anekdotenhaft, dass sich etwa die Polizei im Örtchen Keene mit seinen 23.000 Einwohner_innen im Bundesstaat New Hampshire ein taktisches Panzerfahrzeug zulegte. Die Begründung des örtlichen Polizeichefs lautete allen Ernstes, solch ein Kriegsvehikel sei für das jährliche „Kürbisfest und ähnlich gefährliche Situationen“ notwendig.                   

Mitte Dezember richtete Barack Obama eine Arbeitsgruppe mit dem schönen Namen „Task Force on 21st Century Policing“ ein, die die Beziehungen zwischen Polizei und Communities verbessern soll. Derzeit finden in mehreren Städten Anhörungen statt, in denen Regierungsvertreter Beschwerden und Anregungen mitschreiben. Die Crux liegt allerdings in der Glaubwürdigkeit der Initiative. Denn zum Leiter der Task Force ernannte Obama ausgerechnet den Polizeichef von Philadelphia Charles Ramsey, der 1998 bis 2007 in der Bundeshauptstadt den Hardliner-Bullenchef gegeben hatte, mit „außergewöhnlich großer Gewaltanwendung, Massenfestnahmen ohne Grundlage und unter völliger Missachtung der Grundrechte“, wie kritische Anwälte monierten. Ramsey war außerdem in Ferguson als „Berater“ anwesend.

Auch in New York, das formal der liberale Bürgermeister Bill DeBlasio regiert, versuchen die Behörden, die durch die Proteste von „black lives matter“ geöffneten Spielräume wieder dichtzumachen. Ausgangspunkt war der Doppelmord an zwei Streifenpolizisten im Stadtteil Brooklyn am 20. Dezember 2014, den die Polizeigewerkschaft zum Anlass für wütende Verbalattacken gegen DeBlasio und direkte Drohungen gegen Demonstrant_innen und Polizeikritiker_innen nahm. Der Polizeichef William Bratton forderte eine massive Strafrechtsverschärfung für zivilen Ungehorsam. Außerdem kündigte er eine neue Einheit namens „Strategic Response Group“ an, die mit Maschinenpistolen ausgerüstet werden soll, „um uns im Umgang mit Demonstrationen zu helfen“.

Mitgliedern von „black lives matter“ ist bewusst, dass auf den Straßen wahrscheinlich ein schärferer Wind blasen wird. Aber die Bewegung befinde sich objektiv in einer neuen Situation. Jetzt gehe es darum, das Networking und die Organisationsarbeit zu verstärken, um nicht ein ähnliches Schicksal wie Occupy Wall Street zu erleiden. Ein positives Zeichen war der 30. Januar: 800 Menschen trafen sich zu Strategieberatungen und Workshops für zivilen Ungehorsam.