„Für Utopü ist es nie zu früh“*

400 x Graswurzelrevolution, und kein Ende in Sicht: „Es wird ein Lächeln sein, das sie besiegt“

Editorial Graswurzelrevolution Nr. 400

 

Liebe Leserinnen und Leser,

vor einiger Zeit besuchte uns Albert Einstein in der GWR-Redaktion. Wir verstanden uns prächtig. Sein Kommentar sollte uns zu denken geben: „Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist anzeigt, wofür steht dann ein leerer Schreibtisch?!“

Okay, die älteren GWR-LeserInnen werden jetzt protestieren und sich beschweren: „Als die Nullnummer der Graswurzelrevolution 1972 erschien, war Einstein schon seit 17 Jahren tot!“

Und, ja, sie haben recht. Richtig ist aber auch, dass viele GraswurzelrevolutionärInnen in vielen Bereichen Positionen vertreten, die schon der Pazifist Einstein vertreten hat, als er beispielsweise feststellte: „Wenn einer mit Vergnügen zu einer Musik in Reih und Glied marschieren kann, dann verachte ich ihn schon. Er hat sein großes Gehirn nur aus einem Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Töten im Krieg ist nach meiner Auffassung um nichts besser als gewöhnlicher Mord.“

Keine Ahnung, ob Einstein die GWR heute lesen würde, wenn er nicht schon 1955 gestorben wäre.

Einer, der der „Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“ heute sicher nahe stünde, wenn er noch leben und nicht 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet worden wäre, ist der 1870 geborene Anarchopazifist Gustav Landauer.

In gewisser Weise steht die GWR in der Tradition der von Landauer herausgegebenen Zeitschrift „Der Sozialist - Organ für Anarchismus-Sozialismus“, in der er 1911 formulierte: „Die Anarchie ist der Ausdruck für die Befreiung des Menschen vom Staatsgötzen, vom Kirchengötzen, vom Kapitalgötzen; Sozialismus ist der Ausdruck für die wahre echte Verbindung zwischen den Menschen, die echt ist, weil sie aus dem individuellen Geist erwächst, weil sie als das ewig Gleiche und Eine im Geist des Einzelnen, als lebendige Idee blüht, weil sie zwischen den Menschen als freier Bund ersteht.“

In der GWR 399 haben wir auf Seite 24 über die Kampagne für den Wiederaufbau eines Gedenksteins für Gustav Landauer auf dem Münchner Waldfriedhof berichtet. Im Mai bekamen wir Post von Siegbert Wolf, einem der Mitinitiatoren:

„…hocherfreut kann ich Ihnen/euch heute mitteilen, dass der Ältestenrat des Münchner Stadtrats unter dem Vorsitz von Oberbürgermeister Daniel Reiter vor wenigen Tagen einstimmig beschlossen hat, die 1925 für den libertären Kulturphilosophen, Schriftsteller und Aktivisten Gustav Landauer auf dem Waldfriedhof der bayerischen Landeshauptstadt errichtete Gedenkstele, die 1933 von den Nationalsozialisten zerstört wurde, wieder aufzustellen.

Die Verwaltung hat jetzt die Aufgabe, diese Entscheidung zügig umzusetzen.“

Ebenso erfreulich ist, dass sich in Berlin eine Gustav Landauer Denkmalinitiative gegründet hat, die bis zur 100. Wiederkehr von Landauers Todestag am 2. Mai 2019 in Berlins Zentrum einen Ort schaffen will, der an Landauer und die anarchistische Bewegung der Zeit öffentlich und gut sichtbar erinnert. Zu diesem Zweck soll am 1. Mai 2019 ein Denkmal eingeweiht und so eine dauerhafte Markierung in der Erinnerungstopographie Berlins realisiert werden.

„Landauers 100. Todestag fällt in eine Zeit, in der die Suchbewegungen nach alternativen Ansätzen und Ausbruchsmöglichkeiten aus der täglich sich vollziehenden Katastrophe ein stärkeres Interesse auch an der Tradition des anarchistischen Sozialismus wieder geweckt haben. Vor diesem Hintergrund begreifen wir den Prozess, der schließlich zu einem Berliner Denkmal führen soll, als Gelegenheit, diese Tradition verstärkt in die Diskussion einzubringen und zu aktualisieren. Einerseits wollen wir Landauer zu größerer Bekanntheit verhelfen, andererseits emanzipatorische Kräfte in der Erreichung eines konkreten Ziels zusammenführen.“ Die Gustav Landauer Denkmal­initiative fordert alle Interessierten zur Unterstützung auf (**). Dem schließen wir uns an.

Die 400. Ausgabe der Graswurzelrevolution ist ein guter Anlass, sich mit graswurzelrevolutionärer Geschichte und gewaltfrei-anarchistischen Perspektiven zu beschäftigen. Wir hoffen, dass Euch dazu die Artikel und Zeichnungen, sowie der liebevoll gestaltete Comic von Andi Wolff anregen können. Leider kommt einiges zu kurz. Der G7-Gipfel ist aufgrund der Überschneidung mit dem GWR 400-Erscheinungstermin kein Thema dieser Ausgabe und ein Resümee der Büchel65-Aktionen können wir Euch ebenfalls erst in der GWR 401 präsentieren. Aufgrund von Platzmangel mussten wir wieder diverse Rezensionen und Artikel verschieben, die zum Teil schon seit Monaten in der Warteschleife stehen.

 

GWR-Sommerpause

 

Die nächste GWR erscheint im September, nach unserer alljährlichen Sommerpause. Redaktionsschluss: 10. August. In der Sommerpause ist das GWR-Büro nicht permanent besetzt.

Ich wünsche Euch einen heißen Sommer, Anarchie, Glück und einen langen Atem,

Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

 

Anmerkungen:

*) Zitat aus: Republik Freies Wendland, Eine Dokumentation, Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1980, Seite 8

**) Gustav Landauer Denkmal­initiative (Berlin), kontakt@gustav-landauer.org, www.gustav-landauer.org

 

Editorial, aus: Graswurzelrevolution Nr. 400, Sommer 2015, www.graswurzel.net