Entgrenzte Vernichtungswut

Hefteditorial iz3w 352 (Jan./Feb. 2016)

Im Mai 2015 sprengte sich der 23-jährige Yannick N. im irakischen Baidschi in einem mit Sprengstoff beladenen LKW in die Luft. Dutzende Menschen starben mit ihm. Yannick N. führte den Anschlag im Rahmen der dschihadistischen Kriegsstrategie des Islamischen Staates (IS) aus. Bis Mitte 2014 hatte er in Freiburg gelebt. Wegen seiner Entwicklungsstörung und weil er obdachlos war, benötigte er die Unterstützung der Freiburger Straßenschule. Im Frühsommer 2014 beobachteten SozialarbeiterInnen, dass Yannick N. sich in kürzester Zeit radikalisierte und einer islamistischen Gruppe zuwandte. Seine Bekannten gehen davon aus, dass er gezielt von Angehörigen des IS angeworben wurde – in einer für ihn schwierigen Zeit, in der er verzweifelt nach Anerkennung und Gemeinschaft suchte.

Yannick N. reiste in den Irak, wo er dem Journalisten Alfred Hackensperger als »ängstlich« und »unsicher« auffiel. Der IS steckte Yannick N. dann in ein syrisches Trainingslager, wo er als Selbstmordattentäter ausgebildet wurde. »Es sind oft eher die Schwächlichen, die dafür eingesetzt werden. Nicht die Starken, Agilen, die auf dem Schlachtfeld zu gebrauchen sind«, beschreibt Hackensperger das Kalkül des IS.

Die tragische Geschichte des Yannick N. ist eines von hunderten Beispielen für die fortschreitende Entgrenzung des Dschihadismus, sowohl territorial als auch bei den Formen der Gewaltanwendung. Selbstmordattentate werden vom IS und von anderen Dschihadisten wie etwa Boko Haram in Nigeria nicht mehr nur punktuell begangen, sondern massenhaft. Nicht mal vor der Perfidie, zwangsrekrutierte Kinder zu missbrauchen, schrecken Dschihadisten zurück. Man möchte sich lieber nicht ausmalen, was geschieht, wenn es diesen Vernichtungswütigen gelingt, weiter militärisch aufzurüsten.

Obwohl in jüngerer Zeit wöchentlich Massaker und Attentate begangen werden (und Paris war nur das am meisten Aufsehen erregende unter ihnen), herrscht in der europäischen Linken auffälliges Schweigen über die Gefahren des Dschihadismus. Bleiben wir bei Freiburg: Obwohl hier eine linke Szene vielerlei Aktivitäten entfaltet und beispielsweise wachsamer Antifaschismus Common Sense ist, gab es anlässlich des Selbstmordattentates von Yannick N. kein einziges Flugblatt, keine Veranstaltung und keine Demo gegen den IS. Auch nicht seitens des iz3w, wie wir selbstkritisch feststellen müssen.

Die Frage, welche Strategien zur Bekämpfung des Dschihadismus angemessen sind, wird kaum diskutiert. Für die meisten europäischen Linken ist der Hauptfeind aus alter Gewohnheit der Westen. Man lehnt Luftangriffe und Tornadoeinsätze ab, positioniert sich gegen Rechte wie Front National, PEGIDA oder CSU, die das Massaker von Paris für ihre rassistische Agenda instrumentalisieren, verweist auf die Schuld des Westens bei der neokolonialen Unterdrückung muslimischer Länder und verteidigt den Islam als eigentlich friedliebende Religion. Für all das gibt es gute Gründe (aber auch schlechte).

Die Kritik kann sich aber nicht auf den Westen beschränken. Gerade wer militärische Scheinlösungen ablehnt, muss sich Gedanken über andere Strategien machen. Vorschläge dazu stehen im Raum. Als erstes zu nennen ist die vollständige Ächtung von Selbstmordattentaten und von allen Versuchen ihrer Rechtfertigung, wie sie vom Publizisten Matthias Küntzel vorgeschlagen wurde. Auch der in islamistischen Kreisen verbreitete Märtyrerkult und die Todesverherrlichung müssen auf allen Ebenen scharf kritisiert werden. Was selbstverständlich klingt, ist es bei näherem Hinsehen auf arabischsprachige Medien nicht.

Eine zweite Strategie ist die klare Positionierung gegen den Islamismus selbst. Seine mörderische Ideologie erschließt sich nicht aus den Ideologien und Handlungen anderer, sie ist aus sich heraus zum Faszinosum für Millionen Menschen geworden. Auch aus diesem Grunde ist das verbreitete antiwestliche Ressentiment abzulehnen. Es ist ja richtig, dass westliche Nahostpolitik grobe Fehler begangen hat und ihre Freiheitsversprechen leere Floskeln sind. Doch zwischen Kritik am Westen und antiwestlichem Ressentiment (das sich verdächtig oft auch antisemitisch äußert) liegt ein Unterschied ums Ganze. Dschihadistischer Terror ist selbst durch die schlimmste westliche Kriegshandlung nicht zu rechtfertigen, und alle Versuche, hierbei zu relativieren, sind Wasser auf die Mühlen der Ideologen.

Die dritte Strategie ist Druck auf westliche Regierungen, endlich den Sponsoren und Unterstützern des Dschihadismus in die Hand zu fallen – und zwar Verbündeten wie Saudi Arabien, Katar und der Türkei ebenso wie dem Iran. Für die Aufkündigung der Kollaboration mit diesen Regimes zu demonstrieren stünde uns Linken gut an, findet

die redaktion

P.S.: Wie entgrenzt die Gewalt von Boko Haram in Nigeria ist und warum sie besonders Frauen betrifft, schildert die Anwältin Maranatha Duru in einem Radiointerview. Zu hören ist es unter www.iz3w.org/projekte/suednordfunk/dezember-2015