Des Kremls „fünfte Kolonne“?

Am 11. Januar verschwand die dreizehnjährige Lisa – das Mädchen ist russlanddeutscher Herkunft – aus Berlin-Mahlsdorf auf dem Weg zur Schule. Nach 30 Stunden tauchte sie wieder auf und erzählte eine wilde Geschichte von einer Entführung mit anschließender Vergewaltigung durch Männer, die wie Araber oder Nordafrikaner ausgesehen hätten. Ihre Tante fütterte mit der Story die sozialen Medien. Schon am 18. Januar gab es eine Demonstration von 250 aufgebrachten Russlanddeutschen vor einem Marzahner Flüchtlingsheim, das nur durch das Eingreifen der Polizei geschützt werden konnte. Eine Stunden zuvor bei Facebook veröffentlichte Information der Berliner Polizei hatte keine Wirkung: „Fakt ist – nach den Ermittlungen unseres LKA gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung. Wir bitten ausdrücklich um Ihr Verständnis, dass wir nähere Angaben insbesondere zum Schutz der Persönlichkeit des Mädchens und ihrer Familie nicht machen werden.“
Die Polizei informierte zu spät, zu unkonkret und – ihr wurde nicht geglaubt. Der Familie „schien, dass die Beamten lediglich darauf aus waren nachzuweisen, dass überhaupt kein Verbrechen vorlag.“ So der Geschäftsführer von Vision e.V., einem Verein der Spätaussiedler, Alexander Reiser in einem Interview. Lisa hatte tatsächlich gelogen. Aufgrund schulischer Probleme hatte sie Angst, nach Hause zu gehen, und tauchte bei einem Freund unter. Der Umgang mit solchem Verhalten gehört zum Polizeialltag.
Zum Problem wurde der Fall, weil er sich trefflich in die Angstkampagnen der Rechtsextremen gegen Flüchtlinge einfügen ließ. Die Kölner Ereignisse lagen erst wenige Tage zurück. Seit Anfang Januar 2016 intensivieren NPD, AfD und die Pegida-Bewegung mit ihren regionalen Nachahmern die Strategie der Sexualisierung der Ängste einer „schweigenden Mehrheit“ vor den Fremden. Das ist nicht neu. Und lustig, so skurril die Schwimmbad-Ordnungshüter zwischen Lausitz und Sauerland auch erscheinen, ist es auch nicht. Das ist die schleichende Reanimierung der „Stürmer“-Propaganda. Zu Julius Streichers Standard-Repertoire gehörte das Bild des lüstern über blonde Maiden herfallenden Semiten.
Reiser weist auf ein weiteres Problem hin: „Bei den Russlanddeutschen kommt hinzu, dass ihre Erlebnisse in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion eine anhaltende Verunsicherung gegenüber Behörden hinterlassen haben. […] Niemand glaubte mehr dem Staat.“ Was er allerdings verschweigt: Gerade in Spätaussiedlerkreisen sind die Vorbehalte – von mehrheitlich rassistischen Prägungen zu sprechen verbietet sich – gegenüber neuen Zuwanderern nicht zu unterschätzen.
Dieser Tage versuchte die Süddeutsche Zeitung angesichts einer hauptsächlich von Spätaussiedlern getragenen Anti-Flüchtlingsdemonstrationswelle in Bayern, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Eine überzeugende Antwort fand sie nicht. Auch sie leierte das Mantra der gelungenen Integration daher. Aber ihr Autor Andreas Glas verwies auf offensichtliche psychologische Wundmale. Man könne die Flüchtlinge von heute nicht mit den Aussiedlern von damals gleichsetzen. Parallelen gebe es aber schon, meinte er und erinnerte an den ehemaligen bayerischen Innenminister Günther Beckstein (CSU), „der im Wahlkampf 1998 die erhöhte Kriminalität bei Russlanddeutschen anprangerte. Säufer, Schläger, Diebe – das waren die Vorurteile, mit denen Russlanddeutsche damals leben mussten. Und heute, spätestens seit Silvester, sind die Vorurteile wieder da: Säufer, Schläger, Diebe.“ Nur würden sie diesmal von den seinerzeit Diskriminierten gegen Flüchtlinge in Stellung gebracht.
Der „russlanddeutsche“ Bevölkerungsanteil in der Bundesrepublik ist erheblich. Schätzungen gehen von mindestens 2,5 Millionen Menschen aus. Statistisch sind sie schwer zu erfassen, da sie selbstverständlich als Deutsche nicht gesondert gezählt werden. Es ist eine sehr heterogene Gruppe. Ebenso wie heute die Flüchtlinge wurden auch die Spätaussiedler aus den GUS-Staaten nach 1990 auf die Bundesländer aufgeteilt. Dieses Verfahren erwies sich als Fehler. Familienbeziehungen, landsmannschaftliche Zusammenhänge und ähnliches sorgten bald für eine Perforierung der bürokratischen Demografie-Planungen.
Nach Berlin kamen in den Jahren 1990 bis 2000 insgesamt 37.146 Zuzügler mit deutschem Pass aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Davon lebten Ende 2014 mindestens 15.847 in Marzahn-Hellersdorf. Das waren 49 Prozent aller im Bezirk lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. 44 Prozent von ihnen kamen aus der Russischen Föderation –viele aus Sibirien –, etwa 22 Prozent aus Kasachstan und um die fünf Prozent aus der Ukraine. Nur ein knappes Drittel kommt aus ländlichen Gebieten. Entsprechend der städtischen, industriell geprägten Herkunft ist der Facharbeiteranteil recht hoch (etwa 30 Prozent), gleiche Werte erreichen die Anteile derer mit Hoch- und Fachschulabschlüssen. Etwa 50 Prozent der sowjetischen beziehungsweise russischen Abschlüsse werden aber in Deutschland nach wie vor nicht anerkannt. Besonders hart trifft das die Frauen. 90 Prozent von ihnen waren voll in das Berufsleben integriert – häufig in industriellen Berufen, die in Deutschland als „Männerberufe“ gelten. Jetzt sitzen sie zu Hause und bedienen ungewollt das Vorurteil, dass die „Russin“ sich irgendwo zwischen Herd und Ikonenwand bewege. Der Kochherd wurde erzwungen, auch die Ikonenwand stimmt nicht. Über 50 Prozent aller Russlanddeutschen bekennen sich zur evangelisch-lutherischen Kirche, 20 Prozent sind katholisch, nur 10 Prozent russisch-orthodox.
Allerdings ist der in den Familien gepflegte Wertekanon vergleichsweise konservativ. Das hat viel mit der jahrzehntelang erfahrenen Verfolgungs- und Repressionspolitik zu tun. Wer auch immer die „guten alten Werte“ beschwört, findet hier häufig ein offenes Ohr. Deshalb und aufgrund der beruflichen Ausgrenzungen sowie der immer noch vorhandenen, teils erheblichen sprachlichen Hürden – unverständlicherweise wurden die staatlichen Unterstützungen für sprachliche Integrationsangebote drastisch zurückgefahren – bilden sich an manchen Orten diasporaähnliche Strukturen. Vor einigen Jahren ergab eine Umfrage des Marzahn-Hellersdorfer Bezirksmuseums, dass 96 Prozent der befragten Russlanddeutschen ihre sozialen Kontakte hauptsächlich in der eigenen Gruppe suchen und pflegen. Drastisch ausgedrückt: Viele kamen mit großen Erwartungen nach Deutschland, wurden bitter enttäuscht – und hegen inzwischen ein abgrundtiefes Misstrauen gegen das zweite Staatswesen, das sie erleben.
Dieser breiten Zone der Verunsicherung sucht sich die extreme Rechte zu bedienen. Wenige Tage nach dem überraschenden Auflauf vom 18. Januar waren die Laternenmasten an den „russischen Orten“ Berlins mit bunten Bildchen beklebt: „Wir bitten um Ihre Unterstützung!“ Es handelte sich um den Aufruf zu einer Protestkundgebung vor dem Bundeskanzleramt am 23. Januar. Die Aufrufer forderten „Gerechtigkeit, Einhaltung der Gesetze, Schließung von rechtsfreien Räumen und sofortiges Stopp der Gewalt“. Dem Aufruf folgten hauptsächlich Russlanddeutsche. Besonnene Mahner unter ihnen mussten von der Polizei vor ihren Landsleuten geschützt werden. Interessant sind die Aufrufer: Dr. Heinrich Groth für einen „Internationalen Konvent der Russlanddeutschen“ und die „Bürgerinitiative Wir sind gegen Gewalt“. Letztere pflegt offenbar Kontakte zum Berliner Pegida-Ableger „Bärgida“. Groth ist eine interessante Figur. In der UdSSR stand er dem 130.000 Mitglieder starken Verein „Wiedergeburt“ vor. Dessen Ziel war die Wiedergründung der Wolgadeutschen Republik. Als das nichts wurde, fokussierte sich Groth auf das Kaliningrader Gebiet und versuchte das symbolträchtige Trakehnen (heute: Jasnaja Poljana) durch die Ansiedlung Russlanddeutscher zu regermanisieren. Sein rechtslastiger „Konvent“ hat derzeit etwa 50 Mitglieder. Zu unterschätzen ist er dennoch nicht. Für den Februar hat er in Berlin eine weitere Kundgebung geplant. Inzwischen wurde die NPD hellhörig und will ihren „Arbeitskreis Russlanddeutsche in der NPD“ wieder aktivieren.
Groth konnte übrigens ebenso wie der Anwalt der Familie des „entführten“ Mädchens Alexander Danckwardt – bis vor kurzem Linken-Stadtrat in Leipzig, ein begeisterter Fan der prorussischen Donbass-Befreier – seine skurrilen Thesen im russischen Ersten Kanal vertreten. Hier spielt das Sprachenproblem eine Rolle. Nach Reisers Einschätzung leben inzwischen 40 Prozent der Spätaussiedlerfamilien binational: Einer von beiden Ehepartnern spricht überhaupt kein oder nur ein sehr ungenügendes Deutsch, ist also auf russischsprachige Informationskanäle angewiesen. Nur so war es möglich, dass das ruppige Kommentieren der Ermittlungsarbeit der Berliner Polizei durch den russischen Außenminister Sergej Lawrow überhaupt öffentliches Gehör finden konnte. Die Befürchtungen konservativer Medien, „der Kreml“ könnte die Spätaussiedler als „fünfte Kolonne“ zur Destabilisierung der deutschen Verhältnisse – als Retourkutsche für die noch unverschämteren Einmischungen Deutschlands in der Ukraine – ausnutzen, sind ohne ernstzunehmende Basis. Lediglich Politscharlatane wie der erwähnte Danckwardt träumen via Facebook von einem „deutschen Maidan“ zum Sturze Angela Merkels.
Größer ist die Gefahr, dass sich der rechte Rand der deutschen Konservativen eines verunsicherten Teils der Gesellschaft bedient, um das eigene Süppchen leichter kochen zu können. Kaum war Horst Seehofer (CSU) von seiner Stippvisite bei Wladimir Putin zurück, schwadronierte er in der Passauer Neuen Presse über die Zustände in Deutschland: „Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“ Das sagen Pegida, AfD, NPD und Heinrich Groth auch. Die wirklichen Gefahren für die deutsche Demokratie kommen aus der Mitte der Gesellschaft.