Das Bernie-Sanders-Phänomen

Sicherlich ist es verfrüht, die Sozialistischen Vereinigten Staaten von Amerika noch in diesem Jahr auszurufen. Und die linken Kritiker von Bernie Sanders haben durchaus Recht, wenn sie in dessen Sozialismus-Modell in erster Linie die traditionellen sozialdemokratischen Rezepte der 1950er bis 70er Jahre diagnostizieren, die im Rahmen fester kapitalistischer Eigentumsverhältnisse umgesetzt werden sollten.
Sanders fordert bei seinen zahlreichen, oft von bis zu 30.000 Menschen besuchten Wahlkampfauftritten zwar beharrlich eine neue amerikanische Revolution, doch im engeren Sinne läuft sein Programm auf Reformen und Korrekturen innerhalb der existierenden Machtverhältnisse hinaus. Es gibt daher für Linke gute Gründe, skeptisch zu sein. Noch bessere Gründe gibt es allerdings für alle, die eine tatsächlich emanzipatorische, egalitäre und basisdemokratische Umgestaltung favorisieren, im Sanders-Phänomen nicht nur die eingebauten Begrenzungen und Illusionen zu sehen, sondern vor allem die gewaltige Chance, erstmals seit Jahrzehnten zahlenmäßig relevante Bevölkerungsgruppen für das Projekt einer solidarischen und freiheitlichen sozialistischen Gesellschaft zu gewinnen. Natürlich kann ein solches Unterfangen am Ende nicht in einer von den finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Eliten kontrollierten Partei wie den US-amerikanischen Demokraten bewerkstelligt werden. Für die amerikanische Linke kommt es nun darauf an, die jahrzehntelange Isolation und Selbstisolation zu überwinden, außerhalb der von den herrschenden Schichten kontrollierten Institutionen zukunftsträchtige Strukturen aufzubauen und sich dabei die neue und mit Bernie Sanders verbundene – aber zugleich auch weit über ihn selbst hinausgehende – Dynamik zunutze zu machen.
In der Tat: Sandersʼ Sozialismusvorstellungen – wie auch die der Mehrzahl seiner immer zahlreicher werdenden Anhänger – zielen auf sozialstaatliche Reformen, um den Kapitalismus erträglicher zu gestalten, und damit gewiss nicht auf ein wie auch immer definiertes Projekt der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also der Überwindung des Kapitalismus. Außenpolitisch hat Sanders relativ wenig zu sagen. Er deutet nicht einmal an, dass eine humanere Welt ohne eine Transformation des bis an die Zähne bewaffneten und mit weltweiten Militärstützpunkten untermauerten US-Imperiums nicht zu haben ist. Washingtons Überwachungs- und Militärstaat, verbunden mit verdeckt agierenden und weltweit mordenden Eliteeinheiten und Drohnenangriffen, haben unsere Welt immer unsicherer und instabiler gemacht, wie selbst konservative Beobachter vom Schlage eines Peter Scholl-Latour und Helmut Schmidt erkannten.
Auf der anderen Seite vertritt Sanders durchaus Positionen, die zumindest in den erzkapitalistischen USA seit Generationen kein sich ernsthafte Wahlchancen ausrechnender Politiker offen zu vertreten wagte. So schließt sein Wahlprogramm die Zerschlagung der Großbanken ebenso ein wie wachsende Sozialleistungen, verbunden mit beträchtlichen Steuererhöhungen für die oberen und obersten Einkommensschichten. Der gegenwärtig weit unter dem Existenzminimum liegende Stundenlohn soll endlich auf 15 Dollar bundesweit angehoben werden. Sanders prangert nicht nur an, dass die Direktverschuldung von US-Studenten durch Studiengebühren inzwischen mit über 1,3 Billionen Dollar größer ist als die Kreditkartenverschuldung aller USA-Haushalte zusammen, sondern fordert Gebührenfreiheit an allen staatlichen Colleges und Universitäten. Und er tritt für eine allgemeine staatliche Krankenversicherung ein, die um ein Vielfaches nicht nur gerechter, sondern auch effizienter und kostengünstiger wäre als das in den 90er Jahren von konservativen Think Tanks entwickelte private und schließlich von Barack Obama adoptierte Modell.
Nach dem sozialen Kahlschlag der vergangenen 40 Jahre, verbunden mit im besten Falle stagnierenden Löhnen bei expandierenden Kosten und Schulden für die Bevölkerungsmehrheit, möchten immer mehr Amerikaner eine Kursänderung. Und obgleich die Konzernmedien Bernie Sandersʼ Wahlkampf über Monate hinweg fast völlig ignorierten, stoßen seine Themen und Forderungen auf ein gewaltiges Echo. Die als zuverlässig anerkannten Umfragen der Quinnipiac University vom 21. Dezember 2015 beziffern Sandersʼ Unterstützung bei den Vorwahlen der Demokraten mit 30 Prozent. Zwar lag Hillary Clinton mit 61 Prozent weit vorn, doch für einen sich offen als Sozialisten bezeichnenden Politiker in einer traditionell derart antisozialistischen politischen Kultur sind solche Umfragewerte erstaunlich. Am 5. Februar hatte sich Bernie Sanders gar auf 42 Prozent emporgearbeitet, während Hillary Clinton auf 44 Prozent kam. Im Dezember lag sie 31 Prozentpunkte vor Sanders, nun waren es ganze zwei.
Befragt, wie sich die Wähler entscheiden würden, wenn sie vor der Alternative Clinton oder Trump stünden, gaben 46 Prozent Clinton den Vorzug, 41 Prozent entschieden sich für Trump. Für den Fall, dass Bernie Sanders von den Demokraten als Präsidentschaftskandidat gekürt werden sollte, entschieden sich 39 Prozent für den republikanischen Poltergeist, wogegen Sanders sogar auf 49 Prozent käme.
Natürlich werden solche Umfragewerte auch in Zukunft fluktuieren. Nicht nur, dass die Präsidentenwahl noch fern ist, auch bei der Kür der Spitzenkandidaten von Demokraten und Republikanern kann es noch viele Überraschungen geben. Doch eines scheint klar: Bernie Sanders und sein demokratisches Sozialismus-Konzept sind im Aufwind. Zwar gewann Clinton die Vorwahlen in Iowa, allerdings nur mit hauchdünner Mehrheit (weniger als ein Prozent). Und Bernie Sanders konnte mit 84 Prozent die überwältigende Mehrheit der Jungwähler hinter sich bringen. Umfragen zwischen 4. und 8. Februar ergaben, dass Clinton nur 9 Prozent der jungen Frauen zwischen 18 und 34 Jahren überzeugt hat, für sie bei den Vorwahlen von New Hampshire zu stimmen, Sanders dagegen konnte 87 Prozent dieser Wählergruppe innerhalb der Demokraten gewinnen. In Umfragen lag Sanders in New Hampshire schon seit einiger Zeit vor Clinton, doch sein Vorwahlsieg fiel noch wuchtiger aus als erwartet: 60 Prozent der Stimmen entfielen auf ihn, Clinton lag mit 38 Prozent weit zurück.
Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass die Demokratische Partei ihn nominiert. Zu hoch sind die Barrieren, die von den Machteliten errichtet wurden, um basisdemokratische Resultate abzuwenden. Da sind die riesigen Parteispenden der Superreichen, die fast ausschließlich Clinton zugutekommen. Zwar sammelte Sanders beträchtliche Summen von Kleinspendern ein, doch mit Clintons Kriegskasse kann er unmöglich mithalten. Hinzu kommen die sogenannten Super-Delegates, die vom Pro-Clinton-Führungskreis der Demokraten kontrolliert werden. Diese Super-Delegates haben ein Fünftel aller Stimmen im Nominierungsprozess. Die marktbeherrschenden Konzernmedien propagieren ebenfalls Clinton und sind zunehmend mit Schmierkampagnen gegen Sanders aktiv. Lehrreich ist es auch zu rekapitulieren, wie die unheilige Allianz aus Industrie, Hochfinanz und Politikerelite bisherige linke Herausforderer unter den Demokraten systematisch neutralisiert hat. Etwa den ehemaligen Gouverneur von Vermont, Howard Dean. Als Dean 2004 mit einem links von der Mitte zentrierten Wahlprogramm um die Nominierung kämpfte, wurde er von rechten Kräften in der Partei mit diversen schmutzigen Tricks unterminiert, einschließlich der verwegenen Behauptung, Dean sei ein Seelenverwandter Osama Bin Ladens.
Greift man historisch weiter zurück, stößt man auf den alarmierenden Sachverhalt, dass 1934 der linke Upton Sinclair als Spitzenkandidat der Demokraten das Gouverneursamt in Kalifornien wohl gewonnen hätte, wenn seine eigene Parteiführung mit aktiver Unterstützung von Präsident Franklin Delano Roosevelt mit schmutzigen Tricks nicht indirekt den Wahlsieg der Republikaner ermöglicht hätte.
Daher wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis progressive Kräfte tatsächlich ins Weiße Haus einziehen. Doch die selbst von linken Beobachtern kaum erwartete Resonanz Bernie Sandersʼ und seines demokratischen Sozialismus-Konzepts ist eine ermutigende Entwicklung: Im Kernland des Kapitalismus wächst das Verlangen nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Alternative. Das lässt sich empirisch mit der neuen YourGov-Untersuchung belegen: 43 Prozent aller US-Amerikaner unter 30 Jahren ziehen eine sozialistische Zukunft vor. Nur 32 Prozent dieser Altersgruppe unterstützen einen kapitalistischen Weg. Bernie Sanders ist sowohl Symptom wie auch Katalysator dieser Dynamik. Die amerikanische Linke sollte diese günstige Konstellation nicht verspielen. Sie muss Wege finden, mit dieser Jugend eine humanere Gesellschaft aufzubauen, und darf sich dabei nicht ausschließlich auf parlamentarische Prozesse konzentrieren, sondern muss vor allem auf den Straßen, in den Betrieben und Büros Druck von unten mobilisieren.