Girls Invented Punk Rock Not England

in (09.02.2017)

In dem 1978 veröffentlichten Buch The Boy Looked at Johnny von Julie Burchill und Tony Parsons wird Punk als erste Ära der Rock’n’Roll-Geschichte gewürdigt, in der Frauen nicht mehr bloß schmückendes Beiwerk waren: „Punk rock in 1976 was the first rock and roll phase ever not to insist that women should be picturesque topics and targets of songs.“ Die Punk-Revolution räumte 1976 mit dem eindimensionalen Frauenbild in der Musik auf: Nachdem die Popkultur jahrzehntelang von Männern definiert und geprägt wurde, ermöglichte die egalitäre Weltanschauung der Punks und der in der Bewegung verankerte Do-It-Yourself-Gedanke Frauen dazu, sich erstmals in der Geschichte der Rockmusik als Musikerinnen auszuprobieren, Bands zu gründen und aufzutreten. „Punk hatte etwas sehr motivierendes. Plötzlich standen auch die Türen für Frauen offen – Gaye Advert, Poly Styrene, Siouxsie oder Chrissie Hynde sind dank Punk zur Musik gekommen“, gab die Slits-Sängerin Ari Up schwärmerisch im 2006 publizierten Punk Rock: An Oral History von John Robb zu Protokoll.

Girls To The Front

Die aufkommende Punk-Bewegung Mitte der 1970er-Jahre in London konnte in der Tat mit Bands wie The Slits, The Raincoats oder X-Ray Spex (die hier stellvertretend für viele andere weibliche Punk-Gruppen aus der Zeit stehen sollen) einen vergleichsweise hohen Frauenanteil vorweisen. So schrieb die Musikjournalistin und damalige Freundin von Paul Simonon (The Clash), Caroline Coon, die übrigens als erste in der britischen Musikpresse die Bezeichnung Punkrock für Bands wie die Sex Pistols benutzte, über die damalige Zeit: „It would be possible to write the whole history of punk music without mentioning any male bands at all – and I think a lot of [people] would find that very surprising.“ Eine erstaunlich optimistische Ansage, die sicherlich nicht viele teilen. Dass im kollektiven Gedächtnis Frauen nach wie vor keine allzu große Rolle in der Punk-Ära spielen, bewies diesen Sommer die British Library in London. Deren groß angelegte Punk-Retrospektive anlässlich des 40-jährigen Jubiläums erwähnte die Pionierleistungen zahlreicher weiblicher Wegbereiterinnen aus dieser Zeit erst gar nicht und erntete dafür berechtigte Kritik von damaligen Musikerinnen wie Viv Albertine. Die 1954 in Sydney geborene Gitarristin war Mitglied der ersten Band im Punk, die nur aus Mädchen bestand: The Slits. Mit welchen Widerständen man als musikbegeisterte Frau im rauen Londoner Punk-Untergrund früher zu kämpfen hatte, kann man in Albertines extrem unterhaltsamen Punk-Memoiren Clothes, Clothes, Clothes, Music, Music, Music, Boys, Boys, Boys (auf Deutsch bei Suhrkamp unter dem Titel A Typical Girl erschienen) nachlesen. Darin schreibt sich Albertine, wie so viele Frauen aus dieser Zeit, selbst in die Punk-Geschichte zurück. Wie übrigens auch in der erwähnten Ausstellung. Dort schritt sie kurzerhand selbst zur Tat und ersetzte auf zahlreichen Info-Tafeln The Sex Pistols, The Clash und The Buzzcocks durch The Slits, X-Ray Spex und Siouxsie & The Banshees.

Neue Weiblichkeitsentwürfe

Dass Punk bis heute hauptsächlich mit dem Bild des aggressiven, männlichen Jugendlichen verbunden wird, zeigt nur, wie schwer es Frauen nach wie vor haben, in den Kanon der Rockmusik aufgenommen zu werden. „Über die Slits ist nie im besonderen Maße geschrieben worden [...]. Ein Kapitel über Frauen fehlt in der Geschichte der Rockmusik, aber das entsprach nicht der Realität von Punk. Dort gab es die Möglichkeit für Frauen sie selbst zu sein“, bekräftigte Ari Up. Im Punk konnten Frauen mit Identitäten jenseits konventioneller Weiblichkeitsentwürfe herumexperimentieren und aus der für sie vorgesehenen traditionellen Frauenrolle ausbrechen. Man denke nur an Poly Styrene von der Band X-Ray Spex, die immer mit Zahnspange auftrat und von der das schöne Zitat stammt, dass sie sich lieber die Haare abrasieren würde denn als Sex-Symbol bezeichnet zu werden. Oder Ari Up von The Slits, die gerne derbe Chelsea Boots zu obszön kurzen Röcken auf der Bühne trug. Das alte, von der Musikindustrie konfektionierte Bild von der Sängerin im schicken Abendkleid hatte vorläufig ausgedient. Doch nicht nur in modischer Hinsicht wirkte Punk befreiend: Bis dato waren Frauen als Instrumentalistinnen in der von Männern beherrschten Rockwelt bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa Proto-Punk-Ikone Patti Smith, nahezu unsichtbar. Der Griff zur E-Gitarre – also dem Phallus-Symbol in der Rockmusik schlechthin – sorgte sogar unter emanzipierten Geschlechtsgenossinnen für Verwirrung. Obwohl die Musik der Punk-Bewegung rau, ungeschliffen und laut klang (also mit ganz und gar unweiblichen Attributen gespickt war), fühlte sich erstaunlich viele Frauen von ihr angezogen. Der Mangel an weiblichen Identifikationsfiguren stellte Frauen im Punk aber vor ein Problem. Anders als ihre männlichen Kollegen konnten sie nicht auf Vorbilder aus der Vergangenheit zurückgreifen, sondern mussten sich alles selbst beibringen – nicht selten vor den Augen der Öffentlichkeit. Anders als zuvor im Rock, Pop, Jazz oder Blues waren musikalische Vorkenntnisse im aufkommenden Punk aber zum Glück nicht nötig – drei Akkorde reichten. Im Gegenteil, zu viel Musikexpertise (Noten lesen, technische Virtuosität an Instrumenten) oder teures Equipment wurden gnadenlos verspottet. In diesem „dilettantischen“ Umfeld konnten sich Frauen relativ gefahrlos bewegen und musikalische Experimente wagen, so wie die Slits, die schon sehr bald ihre Punk-Songs mit Reggae- und Dub-Elementen anreicherten. Kein Wunder, dass die meisten ehemaligen Akteurinnen in der Rückschau oft ins Schwärmen geraten. Punk mit seinen zugänglichen D.I.Y.-Strukturen war einfach die erste Subkultur, die es Frauen erlaubte, selbst zu kreativen Akteurinnen aufzusteigen und in kulturelle Sphären vorzudringen, die bisher ausschließlich Männern vorbehalten waren. Zum Beispiel als:

* Musikjournalistinnen: Julie Burchill wurde als 17-jähriger Teenager als Punk-Redakteurin bei dem einflussreichen Popmusik-Magazin New Musical Express eingestellt und stieg dort innerhalb kürzester Zeit zur gefürchteten Kritikerin und lokalen Szene-Größe auf. Weniger prominent, aber nicht minder wichtig: Caroline Coon, die schon früh für die Zeitschriften Sounds und Melody Maker über Punk als ernstzunehmende Bewegung schrieb und 1982 als Beraterin bei der Punk-Satire Ladies and Gentlemen, The Fabulous Stains mitwirkte, die bis heute Kultstaus genießt. Und nicht zuletzt: Vivien Goldman, die für so ziemlich jedes relevante Musikblatt in England schrieb, bevor sie sich selbst der Musik zuwandte und Ende der Siebziger – wie die Slits – den Punk in den Reggae überführte.
* Unternehmerinnen: Vivien Westwood, Gründerin und Schlüsselfigur der SEX-Boutique in der King’s Road, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre zum Zentrum der Londoner Punk-Szene entwickelte. Sie prägte mit ausgefallenen Fetisch- und Bondage-Looks den modischen Zeitgeist der Ära, lange bevor es den Begriff Cultural Influencer überhaupt gab.
* Bandleaderinnen wie Poly Styrene (X-Ray-Spex) oder Ari Up (The Slits), die heute zu den feministischen Ikonen der Riot-Girl-Bewegung gezählt werden.
* Musikerinnen, die sich in Bands wie den bereits erwähnten The Slits oder The Raincoats zusammentaten oder Solo-Künstlerinnen wie Vivien Goldman, die inspiriert vom feministischen Punk-Spirit etwas verspätet aktiv wurden.

Punk und Feminismus

In der Subkulturforschung genießt Punk einen guten Ruf, weil er Frauen neue Handlungsspielräume eröffnete. Aber herrschten im Punk tatsächlich paradiesische Bedingungen für Frauen? Oder sind Aussagen wie die zitierten nicht eher ein Zeichen nostalgischer Verklärung? In einem von Vivien Goldman verfassten Nachruf auf die 2010 an Krebs verstorbene Punk-Ikone Ari Up liest sich die Punk-Revolution nicht ganz so rosig: „Weil sie sich niemals verstellt hat, haben sich die Leute von ihr auch oft mehr als provoziert gefühlt. Ari wurde immer wieder tätlich angegriffen, ein paar Mal sogar niedergestochen. Bei der legendären Tour mit The Clash und den Sex Pistols im Jahr 1976 wollte der Fahrer des Tour-Busses ihre Band erst gar nicht mitnehmen. Die Frauen machten ihm Angst.“ Es stimmt zwar, dass Frauen im frühen Punk auf dem Vormarsch waren und ein längst überfälliges neues Frauenbild in der heteronormativen Musiklandschaft etablierten, davon zu spüren bekamen die Pionierinnen zu der Zeit jedoch nur wenig. Obwohl Frauen im Punk die Möglichkeit erhielten, sich als starke Persönlichkeiten zu inszenieren, machten sie sich damit deutlich angreifbarer als die körperlich ohnehin überlegeneren Jungs. Auf dem Papier mag die All-Girl-Band The Slits rückwirkend zu den Kritikerlieblingen jener Ära stilisiert werden, doch im konservativen Großbritannien der 1970er-Jahre bekam die Band fast nichts davon zu spüren. Ganz im Gegenteil – sie zog ständig Ärger in der Öffentlichkeit an. „Wir Slits sind immer gemeinsam rumgelaufen, weil es sonst zu unsicher für uns war, so wie wir aussahen. Wir wurden oft körperlich angegriffen, angespuckt oder beschimpft. Besonders von jungen Männern, die sich dachten: ‚Wenn ihr nicht aussehen wollt wie Frauen und auch nicht so verhaltet, dann müssen wir euch auch nicht so behandeln.’“ Liest man Zeilen wie diese aus Viv Albertines erstaunlich ungeschönten Memoiren A Typical Girl, versteht man, warum sich die Slits nach nur 18 Monaten auflösten. Die Teilhabe an einer nonkonformistischen Subkultur wie dem Punk war für Frauen einfach mit erheblich größeren Stressfaktoren und (körperlichen) Gefahren verbunden. Während von der Norm abweichendes Verhalten bei Männern noch überwiegend toleriert wurde, mussten sich Frauen viel stärker traditionellen Rollenbildern beugen, um gesellschaftlichen Sanktionen zu entgehen.

This Is Not a Love Song

Abschließend bleibt zu bewerten, wie feministisch der Punk der 1970er-Jahre tatsächlich war. Machte die bloße Anwesenheit von starken Frauenfiguren den Punk – zumindest in seinen Anfängen – tatsächlich zu einer profeministischen Bewegung? Und welche Handlungsmöglichkeiten ergaben sich daraus für die involvierten Frauen? „Natürlich ging es in der Punkszene nicht gleichberechtigt zu, das ist damals so wie heute, machen wir uns nichts vor. Aber dass Frauen selbstverständlich Musik machten, sich ausdrückten, sich entdeckten und zu ihrer Stimme fanden, das gab es vor Punk kaum“, bewertet Vivien Goldman, die heute als „Punk-Professorin“ an der New York University unterrichtet, das emanzipatorische Potenzial dieser Zeit. Von einem frauenfreundlichen Klima am Ende der 1970er-Jahre kann insgesamt aber trotzdem keine Rede sein, sonst wäre die Anzahl von Frauen in Punkbands nicht bereits Anfang der 1980er-Jahre so rapide zurückgegangen. Auch wenn es vereinzelt männliche Musiker gab, die Frauen in Bands unterstützten und künstlerisch für voll nahmen, so war das erweiterte Umfeld, in dem sich Musikerinnen bewegten, ihnen gegenüber doch recht häufig kritisch und feindselig eingestellt. Denn obwohl sich Punks gerne ihrer Asexualität rühmten, waren Sexismus und Misogynie auch zur Blütezeit der Bewegung unter Musikern weit verbreitet. Man denke nur an die Stranglers, die 1977 mit ihrer Single London Lady unverhohlen die Rockschreiberin Caroline Coon verunglimpften (heute würde man wohl Slut Shaming dazu sagen). Auch traten die im Punk involvierten Frauen zu der Zeit eher als Einzelkämpferinnen in Erscheinung, die noch dazu ständig von der damaligen Presse miteinander verglichen wurden. Weibliche Allianzen, wie beispielsweise bei den Slits oder später den Riot Grrrls, die in den 1990er-Jahren aus der Punk-Tradition hervorgingen, waren eher Ausnahmen, wie Gina Birch von den Raincoats retrospektiv in einem Interview in Never Mind The Bollocks: Women Rewrite Rock bestätigte: „When you compare the riot grrrl movement to seventies punk bands, I don’t remember us being very supportive of each other [...] Gender wasn’t an issue for us, which perhaps it should have been.“ Dass Punk vor seiner Kommerzialisierung rückblickend oft als Ära weiblicher Selbstermächtigung gefeiert wird, hat die Subkultur ausschließlich seinen unkonventionellen Rebel Girls zu verdanken. Progressiven Frauen wie Ari Up oder Poly Styrene, die sich selbstbewusst gegen die traditionellen Geschlechterrollen und Identitätsmodelle der damaligen Zeit auflehnten und nahezu im Alleingang das Frauenbild in der Musik revolutionierten. Das hat unter leicht veränderten Voraussetzungen erst wieder die aus der amerikanischen Hardcore und Punk entstandene Riot Grrrl-Bewegung zwei Jahrzehnte später geschafft. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Kapitel.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 41, Winter 2016/17, „Punk!“.

Katja Peglow lebt als Kulturwissenschaftlerin und freie Autorin in Köln. Sie ist Co-Herausgeberin des Bandes Riot Grrrl Revisited! Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung (Ventil Verlag 2011).