Fünf Fehler, die der syrischen Opposition zum Verhängnis wurden

in (08.04.2017)

„Wenn der Streiter von morgen die gestrige Schlacht nicht von Grund aus kennt, so wartet dasselbe Blutbad auf ihn. Unter solchen Umständen ist Schmeicheln gleichbedeutend mit Verrathen. Wer dem Volke falsche Revolutionslegenden erzählt und es – ob vorsätzlich oder aus Unwissenheit – durch Geschichtsdithyramben täuscht, ist ebenso strafbar wie der Geograph, der falsche Karten für die Seefahrer entwerfen würde.“ (Prosper Lissagaray, Pariser Kommune 1871)

Bevor er im letzten Frühjahr in Damaskus verstarb, sagte der syrische Oppositionelle Husein al-Awdat gegenüber As-Safir: „Es hat weltweit kaum eine Opposition gegeben, die so zerrüttet war wie derzeit die syrische Opposition. Jede Gruppe von zehn Personen gibt sich der Illusion hin, die Zukunft des Landes zu entwerfen.“ Wo hat die Opposition entscheidende Fehler gemacht? Ein offizieller Vertreter eines Golfstaates berichtet, dass, als er Ende 2012 eine Delegation der syrischen Opposition empfing und danach einzeln mit den Mitgliedern der Delegation zusammentraf, er zu einer einzigen Schlussfolgerung kam: „Jeder einzelne von ihnen will ein Anführer sein und sie hassen alle einander gegenseitig.“ Er fügte hinzu: „Ich schwöre, nachdem ich sie getroffen hatte, wünschte ich, Hafez al-Asad würde an die Macht zurückkehren.“ Der erste Fehler liegt also in der Zerrüttung der Opposition und den internen Machtkämpfen, die wiederum den zunehmenden Einfluss regionaler und internationaler Akteure ermöglichten.

Der zweite von der Opposition begangene Fehler lag in der absichtlichen Abwendung von einer Position des antiisraelischen arabischen Widerstands. Damit verlor sie eine goldene Gelegenheit, ein bahnbrechendes Modell for Oppositionsgruppen im Nahen Osten zu formen. Letztlich richtete sie ihre Pfeile lediglich auf den Iran, die Hizbullah und die Schiiten und nutzte dies als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen die Hizbullah und andere von Teheran unterstützte Kräfte im syrischen Bürgerkrieg. Michel Kilo, der politische Aktivist mit langjähriger Erfahrung in linken Kreisen, sagte (gemäß absichtlicher oder unabsichtlicher Leaks), dass ein Teil der oppositionellen Jugend nicht demokratisch und vielmehr damit beschäftigt sei, mit dem Geld, das sie von Qatar und anderen erhielt, Geschäfte zu machen. Er sagte außerdem, dass die Saudis kein politisches Niveau hätten und die saudische Regierung keinen Sinn habe für die islamische, nationalistische oder arabische Sache. Aber ist das nicht derselbe Michel Kilo, der auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs wie ein braver Schüler vor dem saudischen Aussenminister Saud al-Faisal saß und sich dessen Empfehlungen anhörte, wie Präsident al-Asad zu stürzen und eine Demokratie aufzubauen sei? War es nicht er, der sich der Illusion hingab, dass „Amerika den syrischen Präsidenten und die Revolutionsgarden bombardieren und ihnen ein Ende setzen würde“?

Der dritte Fehler bestand also darin, sich von regionalen Staaten abhängig zu machen, für die Demokratie keine Priorität ist, und ebenso von westlichen Staaten, die sich noch nie um die Belange unserer arabischen Bevölkerung geschert haben. Nachdem er aus lauter Verzweiflung zurückgetreten war, schrieb Sheikh Moaz al-Khatib, der frühere Präsident der „Nationalen Koalition“: „Ich gebe zu, dass ich in der Vergangenheit einen politischen Fehler begangen habe: den Fehler zu denken, dass es irgendeinen Staat gäbe, der unser Land retten kann! Das bedeutet nicht, dass wir keine Freunde hätten. Aber in der internationalen Politik haben die einflussreichen Staaten nur Interessen und rote Linien. Nur darum geht es ihnen.“ Vor einigen Tagen traf sich die Koalition der Oppositionskräfte in Istanbul. Ihr Präsident, Abdullah al-Fehm, weigerte sich, sich dem prominenten syrischen Schriftsteller Sadek Jalal al-Azm gegenüber solidarisch zu zeigen, weil dieser „säkular“ sei (siehe Seite 62/63 in inamo 89). Einfach großartig. Aber praktiziert Michel Kilo die fünf vorgeschriebenen Gebete?

Der vierte Fehler der syrischen Opposition besteht in der Akzeptanz der Marginalisierung seiner linken, säkularen und liberalen Verteter durch die Bewegung der Muslimbrüder, die finanzielle, militärische und politische Unterstützung aus Qatar, der Türkei und von der NATO erhält. ... Als die nichtislamische Opposition akzeptierte, vor den Muslimbrüdern zurückzuweichen, akzeptierte sie auch die Tatsache, dass ihre Rolle von den bewaffneten Takfiris und Terroristen zunichte gemacht würde, die aus aller Welt gekommen sind, um das Land, die Menschen, Bäume, Geschichte und Zivilisation in Syrien zu zerstören. Damit wurde der Saudi Abdullah al-Muheisni zum [geistigen] Anführer [der Jihadisten].

Die Ergebnisse des fünften Fehlers sehen wir gegenwärtig in Aleppo. Die Opposition dachte, mit Waffengewalt den Sturz des Regimes erreichen zu können. Damit würde die stärkste Seite den Sieg davontragen und diejenigen, die diese mit Waffen unterstützten, letztendlich die Entscheidungen treffen. ... Syrien befindet sich wohl gegenwärtig am Beginn der Schlussphase des Krieges. In seinem jüngsten Interview mit der Zeitung Al-Watan sagte al-Asad, dass der „politische Prozess eine Totgeburt war, weil er nicht zwischen den Syrern selbst angestoßen wurde ...“ Die syrische Opposition vergab eine goldenen Gelegenheit, zu einem Vorbild in der Levante zu werden, die eine wahrhafte Opposition braucht, um den Fehlern des Regimes etwas entgegenzusetzen. [Die syrische Opposition] wurde von Machtkämpfen, widerstreitenden Interessen, Geld und falschen Illusionen zerrieben.

Sami Kleib, Publizist. In: As-Safir vom 14.12.2016. Im Januar 2017 hat As-Safir ihr Erscheinen eingestellt. Aus dem Englischen von Anja Zückmantel