»Merkel gehört abgewählt!« ist noch kein Politikwechsel

Wahlparteitag der LINKEN in Hannover

Die mehr als 500 Delegierten der 2. Tagung des 5. Parteitags der Partei DIE LINKE haben am Sonntag in Hannover in großer Einmütigkeit ein Wahlprogramm mit dem gegenüber dem Entwurf geänderten Titel »Sozial. Gerecht. Frieden. Für alle!« beschlossen. Ab heute sollen nun in einer Aktionswoche die zentralen Punkte den Wahlkampfauftakt von Mandatsträgern und der Parteibasis in vielen Städten auf Straßen und Plätzen unterstützen.

Dafür dürften die Debatten auf dem Parteitag nur bedingt hilfreich gewesen sein. Denn dem Beschluss war eine zweieinhalbtätige Beratung von über 100 Seiten Leitantrag des Parteivorstands zum Wahlprogramm vorausgegangen, zu dem es mehr als 1.000 Änderungsanträge gab, die von der Antragskommission auf knapp 300 verdichtet und schließlich vom Parteitag in großer Disziplin innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmes auch abgearbeitet wurden.

Dadurch war die Zeit zur Diskussion der Positionsbestimmungen von Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht, den Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, dem Vorsitzenden des Ältestenrates Hans Modrow und dem Präsidenten der Europäischen Linken Gregory Gysi zu den aktuellen politischen Herausforderungen zu knapp.

Die vorhandenen unterschiedlichen Bewertungen etwa in der Europapolitik, zur Erklärung der Gründe des Rechtspopulismus und der Frage möglicher Regierungsbeteiligungen wurden zwar sichtbar, aber in den Konsequenzen für die Begründung und Ausarbeitung eigener Alternativen nicht zugespitzt. Das hat zwar den Charme, dass die von einigen Medien in den Vordergrund gerückten Differenzen nicht die Rolle spielten, die ihnen im Vorfeld beigemessen wurde, aber auch nur den.

So hat der Parteitag in der Frage der Kündigung aller Kirchenstaatsverträge die beschlossene Sektiererei zwar wieder zurückgeholt und die gefassten Beschlüsse korrigiert, aber eine grundsätzliche Kritik an fundamentalistischen Positionen auch in anderen Fragen war nicht zu erkennen. Und zur Schärfung der Argumente in der Wahlauseinandersetzung dürften die diversen Formelkompromisse ebenfalls wenig beitragen.

 

Eine linke Idee von Europa

Die beiden zentralen Botschaften der Parteivorsitzenden in ihrer Eröffnungsrede sind in der anschließenden politischen Generaldebatte kaum aufgegriffen worden, stattdessen wurde die eigentlich für eine Verständigung über die politischen Schwerpunkte vorgesehene Diskussion genutzt, die an Regierungskoalitionen beteiligten Landesverbände ob ihres Abstimmungsverhalten zur Neuregelung des Länderfinanzausgleichs und der daran vom Bundesfinanzminister gekoppelten »Autobahnprivatisierung« abzumeiern und so die Partei auf einen reinen Oppositionswahlkampf einzuschwören. Dem hat Dietmar Bartsch zu Recht widersprochen: »Lasst uns doch bitte im Wahlkampf … in den Mittelpunkt stellen, dass Thüringen ein beitragsfreies Kita-Jahr einführt, dass Brandenburg das macht und dass Berlin beim Sozialticket von 36 auf 27 Euro zurückgegangen ist.«

Katja Kipping hatte sich dafür ausgesprochen, die Forderung nach einem Politikwechsel nicht bloß symbolisch aufzuladen, denn es reiche nicht, dass DIE LINKE sich auf eine »Oppositionsrolle beschränken sollte(n). Machen wir uns nicht kleiner als wir sind, liebe Genossinnen und Genossen. Denn es geht um mehr. Es geht darum, Mut zu machen, dass sich hierzulande und in Europa etwas Grundlegendes ändern kann. Es geht auch darum, Lust auf eine bessere Gesellschaft zu wecken.« Es gilt also, neue soziale Bindungen aufzubauen, bei denen der materielle Lebensunterhalt eine Schlüsselrolle hat – nicht nur in der Lohnarbeit, sondern auch im Bereich der Care-Tätigkeiten.

Die Parteivorsitzende hat zudem deutlich gemacht, dass DIE LINKE bei aller Kritik an der Europapolitik von Merkel, Schäuble & Co. sich nicht in eine antieuropäische Ecke drängen lassen darf: »Lasst uns nicht nur bei Europa über das reden, was uns aufregt, sondern lasst uns über eine linke Idee von Europa reden«. Denn »auf die Krise der EU nun mit einem Rückzug ins Nationale zu reagieren, wäre die schlechteste Antwort überhaupt. Was bitteschön, hätten wir denn gewonnen, wenn die EU auseinanderfällt? Alle Aufgaben müssten dann wieder zwischen den Regierungen der einzelnen Länder bearbeitet werden. Ja glaube doch keiner, dass das Ergebnis dann transparenter, friedlicher oder sozialer wäre!«

Noch akzentuierter hat das der Präsident der Europäischen Linken, Gregor Gysi, vorgetragen: »Die soziale Krise in der EU führt auch zur zunehmenden Spaltung der Bevölkerungen. Die soziale Ungleichheit der Menschen und ihre Ängste werden von den politisch Rechtsextremen ausgenutzt – europaweit. Wie aber soll eine LINKE mit all diesen Problemen umgehen? Im Kern hat auch sie scheinbar zwei Optionen: DIE LINKE könnte glauben, die Europäisierung von Rechtssetzung sei an sich ein Problem. Dann wäre es konsequent, die Rückabwicklung dieses Weges zu fordern. Wir kämen dann wieder bei den alten Nationalstaaten an. Sie existierten wieder nebeneinander, weniger miteinander, manchmal vielleicht gegeneinander bis hin zur Möglichkeit von Kriegen. Nein, liebe Genossinnen und Genossen, die Forderung, ›Zurück zum alten Nationalstaat‹ ist nicht links. Sie ist rechts, sogar extrem rechts.«

Diese Warnung und die Orientierung auf ein solidarischeres Europa auch in Dietmar Bartschs Redebeitrag haben nicht verhindern können, dass in der Beschlussfassung zum europapolitischen Teil des Wahlprogramms große Konfusion herrschte, die Delegierten Pro-EU-Anträge wegstimmten und so der höchst ambivalente Charakter dieses Teils – man muss nicht wie manche Teilnehmer von »schizophren« sprechen – stehen blieb.

 

Konkrete Verbesserungsvorschläge statt Grundsatzdebatten über die Regierungsbeteiligung

Sowohl die Parteivorsitzenden als auch die beiden Spitzenkandidaten haben versucht deutlich zu machen, dass sich DIE LINKE weniger in einer Grundsatzdebatte über »Regierungsbeteiligung oder nicht« verlieren, sondern stattdessen darauf orientieren sollte, Alternativen zur Politik der Großen Koalition auszuarbeiten und konkrete Veränderungsvorschläge in den Vordergrund zu rücken, um so realistische Instrumente zur Rückeroberung der politischen Souveränität der gesellschaftlichen Linken aufzuzeigen.

Bernd Riexinger stellte zu Recht heraus: »Wir haben ausgearbeitete und durchgerechnete Konzepte. Selbst die FAZ muss anerkennen, dass DIE LINKE das einzig durchgerechnete Steuerkonzept hat. Wir können genau sagen, dass bei uns eine Verkäuferin rund 130 Euro mehr rausbekommt und ein Facharbeiter rund 200 Euro. Wir sagen klar, wie wir den Sozialstaat wiederherstellen und die Gesundheitsversorgung für alle besser machen. Und wir sagen, wie das finanziert werden soll.« Er hätte vielleicht noch hinzufügen können, dass der von vielen RednerInnen auf dem Parteitag gefeierte Jeremy Corbyn (auch solchen, die zuvor dem Erneuerungsprozess der britischen Sozialdemokratie eher mit Skepsis bis Ablehnung gegenüberstanden) ein Investitionsprogramm von 280 Mrd. Euro in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt hat, mit dem die auch in Großbritannien immer deutlich zu Tage getretene Spaltung zwischen Arm und Reich bekämpf werden soll.

Bernd Riexinger und  Sahra Wagenknecht haben den Delegierten und der Parteibasis Mut für den anstehenden Wahlkampf machen wollen: »Merkel und ihre Politik können abgewählt werden!« Und nicht nur die beiden haben zugleich immer wieder betont, dass DIE LINKE Druck auf Grüne und Sozialdemokratie ausüben muss, damit ein Regierungswechsel zu einem Politikwechsel führt. Sicherlich ist richtig, dass »die deutsche Sozialdemokratie leider keinen Corbyn im Angebot« hat, wie Katja Kipping es formulierte. Darauf wird man allerdings auch nicht warten können. Es ginge eher darum, ein möglicherweise geöffnetes Zeitfenster zu nutzen, um auf Solidarität gestützte längerfristige Veränderungen anzustoßen.

Nun wird sich niemand dafür aussprechen, die Halbherzigkeiten in der Korrektur der Agenda-Politik und die Zögerlichkeit, mit der der neue Parteivorsitzende der SPD sein Projekt »Soziale Gerechtigkeit« mit konkreten Vorschlägen unterfüttert, im Wahlkampf außen vor zu lassen. Ob es dabei allerdings so klug ist, über Martin Schulz und die mit ihm verbundenen Hoffnungen – nicht nur innerhalb der Sozialdemokratie sondern auch in der Zivilgesellschaft – vor allem Hohn und Spott auszugießen, darf bezweifelt werden.

Und so richtig die von Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht ausgegebene Parole auch sein mag – »Wir gehen in den Wahlkampf mit unserer Programmatik und mit nichts anderem. … Wir sollten jetzt um ein starkes Ergebnis kämpfen« –, so wenig hilfreich ist die zwischen Hochmut und Arroganz schwankende Charakterisierung der linken politischen Konkurrenz (von: wir wissen nicht, »wofür die Sozialdemokraten denn überhaupt stehen« bis hin zur Verächtlichmachung des SPD-Spitzenkandidaten als »Zottelbart«).

Davon, dass auf der LINKEN »eigentlich schon alles klar sei« (früher hieß es stattdessen »Wir sind die einzige Partei ...«), kann auch nach diesem Parteitag nicht die Rede sein. Das einzige, was wirklich klar ist, ist, dass ein Politikwechsel von der LINKEN allein nicht erreicht werden kann. Deshalb muss sich zumindest strategisch auch »eine Birne gemacht werden«, ob und mit wem »wir vielleicht regieren.« Denn »Merkel abgewählt« ist noch kein Politikwechsel. Und die Einführung des Sozialismus steht eh aktuell nicht auf der Tagesordnung.

Insofern ist nicht nur die Umsetzung von mehr als 100 Seiten Wahlprogramm in verständliche Wahlkampfargumentation als Herausforderung zu stemmen, sondern auch die Mahnung von Hans Modrow Ernst zu nehmen: »Es gab Konferenzen mit gewichtigen Themen und verdeckten Hinweisen auf Strategien, die es gäbe. Wissenschaftler aus unseren Reihen, oder solche, die uns kritische-konstruktiv begleiten, stellen die Frage, wenn ihr Elemente einer gesellschaftlichen Alternative habt, dann eröffnet eine öffentliche, starke Strategiedebatte.«