Die linke Gretchenfrage

Natürlich war „Hamburg“ erfolgreich. Kein Mensch spricht mehr über die substanzlosen G20-Ergebnisse. Aber seit nunmehr zwei Wochen wird darüber orakelt, wie potenziell gewalttätig „die Linken“ nun wirklich seien. Diese Frage ist nicht nur stammtischrelevant, sie wird mit dafür sorgen, dass im September die neue Bundeskanzlerin die alte sein wird. Angela Merkel wird allein mit der CDU mindestens genauso viele Prozentpunkte einfahren wie „R2G“ zusammen. Eine Katastrophe ist das nicht. Das ist der reale Zustand dieser Republik.

Nun sind es nicht die „richtig Roten“, die dem deutschen Bürger seelisches Ungemach bereiten, es ist ein merkwürdiger Haufen, der unter dem Namen „Schwarzer Block“ firmiert und von dem niemand so richtig weiß, wer dahinter steckt. Dass der so oft in die Nähe der Linkspartei gerückt wird, ist deren eigene Schuld: LINKEN-Politiker geben sich immer wieder richtig große Mühe, Heldentaten wie die jüngste Hamburger Gewaltorgie klein zu reden. Das Geschwätz in der jungen welt von „uniformierten Chaoten“ – man meint natürlich nicht die schwarz uniformierten Steinewerfer, sondern die gleichfalls dunkel gewandete Polizei – gehört zur Grundausstattung pseudolinker Folklore. Weitaus bedenklicher ist es aber, wenn das Blatt die stellvertretende Landessprecherin der NRW-LINKEN Sylvia Gabelmann zitiert, die tönte, dass sie solch brutale Polizei noch nie erlebt habe und es ablehne, eine Debatte über Gewalt mit „denjenigen zu führen, die selbst für massive Gewalt verantwortlich sind – sei es durch Kriegseinsätze, Waffenlieferungen, das Flüchtlingselend oder soziale Grausamkeiten“. Uff, das sitzt aber!

Gabelmann ist keine verwirrte Einzelerscheinung: Die Distanzierung von unmäßiger Polizeigewalt zieht sich derzeit durch alle linken Diskurse. „Deutsche Polizisten marschieren durch den Distrikt 'Schanze' während der Unruhen von Hamburg am 7. Juli 2017“ untertitelte die junge welt ein Pressefoto. Sprache ist verräterisch: „Distrikt 'Schanze'“ klingt irgendwie nach Petrograd. Revolution! „Unruhen von Hamburg“, wem kommt da nicht der dilettantische KPD-Putschversuch in den Sinn, der als „Hamburger Aufstand“ mystifiziert wurde? Selbst Parteichefin Katja Kipping geißelte mit starken Worten die Polizeigewalt, um sich allerdings als geübte Meisterin des Sowohl-als-auch gleichzeitig von den Randalierern abzusetzen. Mit letzterem distanzierte sie sich aber zugleich von vielen Mitgliedern der eigenen Partei, die dem „Kampf gegen das Schweinesystem“ mit Sympathie und den Widerständlern gegen die „ausufernde Bullengewalt“ mit Verständnis begegnen. Diese Leute lesen übrigens eher die junge welt als neues deutschland, dem manche nur noch aus Solidarität die Abo-Treue halten. Sprache ist verräterisch: Den „System“-Begriff benutzte die NSDAP-Propaganda gern, um die Weimarer Republik zu verunglimpfen. Die LTI wird auch von links ganz gern benutzt...

Dass man mit solch Herumgeeiere dem Klassenfeind die besten Argumente liefert, bleibt den linken Haudegen – egal, ob mit Rollator oder Brandfackel bewaffnet – verborgen: Genüsslich zitierte die F.A.Z. einen Vertreter der „Interventionistischen Linken“, der die Hamburger Krawalle als „Aufstand der Hoffnung“ bezeichnete. Was dieser denn bezweckte, sagte der aufrechte Jung-Revolutionär nicht. So etwas erleichtert es den Rechtskonservativen, Thesen in die Welt zu pusten, die sie sich ohne solche Schützenhilfe nicht zu sagen trauten. Die brennenden Kleinwagen von Hamburg waren noch nicht gelöscht, da verlangte Bundesinnenminister Thomas de Maizière bereits eine „europaweite Linksradikalen-Datei“. Ein deutscher Innenminister will europaweiten Zugriff auf die Daten von in anderen Ländern als oppositionell eingestuften Menschen! Solche Visionen hatten deutsche Polizeigewaltige zuletzt vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. De Maiziére wird seine Datei nicht bekommen. Nicht weil die deutschen Demokraten so stark sind, dass sie ihm diese paranoiden Ideen austreiben. Das sind sie nicht. Unsere europäischen Partner werden einen Teufel tun und ausgerechnet den Deutschen...

Es macht Sinn, zehn Jahre zurückzublicken. 2007 erschien in Frankreich die 100-Seiten-Schrift „Der kommende Aufstand“. Von links heftig beklatscht, schien das Pamphlet eine überfällige Beschwörung revolutionären Handelns in restauratorischen Zeiten zu sein. Selbst Gregor Gysi zeigte sich hin und wieder begeistert von „französischen Zuständen“, die es bei uns (leider?) nicht gebe. Was die Linken bis heute grundsätzlich ignorieren, war (und ist) die Möglichkeit, dass der „kommende Aufstand“ auch von „richtig rechts“ kommen könnte. Jedenfalls vermieden es die Autoren der Schrift, sich allzu sehr auf Inhalte einzulassen. Frustriert über das Ausbleiben – ich gebrauche jetzt ihre Worte! – einer „Aufheiterung“, der Revolution, der atomaren Apokalyse oder einer sozialen Bewegung hielten sie es für notwendig, „auf die eine oder andere Weise in die aufständische Logik einzutreten. Es bedeutet aufs Neue das leicht erschreckte Zittern in der Stimme unserer Regierenden zu hören, das sie nie verlässt. Denn Regieren war niemals etwas anderes, als mit tausend Listen den Moment, wo die Menge sie aufhängen wird, zu verschieben, und jeder Akt des Regierens ist nichts als die Weise, die Kontrolle über die Bevölkerung nicht zu verlieren. […] Alles ist aufzubauen im aufständischen Prozess. Nichts scheint unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger.“

Das ist die Sprache des Bürgerkrieges um des Bürgerkrieges willen. Die politische Vision wird durch die Lust an der Gewalt, am Brennen, Zerstören, in letzter Konsequenz am Morden ersetzt. Die Rollen dabei sind austauschbar: Die klassischen links-rechts-Muster versagen bei diesen Strategen. Dass sich offensichtlich auch Nazis im Schanzenviertel austobten, muss keinen verwundern.

Es ist notwendig, sich dieser „Denke“ offensiver zu stellen. Es waren und sind keine Wirrköpfe, die so etwas in die Welt setzen. Diese Leute können aber nur in Freund-Feind-Kategorien denken. Und Feinde sind zu bekämpfen, mit denen diskutiert man nicht. Siehe Frau Gabelmann. Die Partei DIE LINKE hat ein Problem mit ihnen. Sie gehören immer noch zu ihr, auch wenn manche das Parteibuch meiden wie der Teufel das Weihwasser. 

Vor einem knappen Jahr feierte die Berliner Antifa-Gruppe TOP („Theorie, Organisation, Praxis“) ihren 25. Geburtstag. Die Gruppenmitglieder bezeichneten sich selbst als „berufsjugendliche Vollzeitrevolutionäre mit Teilzeitjobs (oder andersrum), Asta-Gammlerinnen und Jobcenterjongleure, Workaholics, Nachtarbeiterinnen und Reisekader, Kommunistinnen ausnahmslos“. Auch wenn da ein für Linke ungewöhnliches Maß Selbstironie drin steckt – die Beschreibung trifft zu. Mit der working class und deren Interessen wollen diese Kader nichts mehr zu tun haben. Immerhin habe diese „kulturveranstaltungsaffine Gruppe“, so Florian Schmid im nd, einiges für das „libertäre Marx-Studium“ getan, und es gebe hochwertige Techno-Parties. Ach ja, ab und zu operiere man im „Black-Block-Modus“... Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, meinte Francisco Goya. Und Dostojewski warnte in seinen „Dämonen“ nachdrücklich vor den blutsaufenden Nestschajews, den Stehaufmännchen gleichen Weltverbesserungsterroristen.

Die G20-Randale war übrigens kein Bestandteil des „kommenden Aufstandes“. Der läuft seit längerem. Es ist allerdings ein Aufstand des rechten und konservativen Lagers. Es ist der Aufstand eines übersättigten und zugleich höchst verunsicherten Bürgertums gegen sich selbst. Ein Aufstand gegen mühsam errungene europäische Standards, gegen alles Internationale, gegen freies Denken, gegen libertäre Formen des Zusammenlebens – gegen alles, was den Geist der europäischen Aufklärung ausmacht. Dieser Aufstand ist nicht auf Deutschland beschränkt. Er zeigt sich bei fast jedem Wahlgang bei unseren Nachbarn. Er äußert sich im Brexit. Er zeigt sich in den diversen Sezessionsbewegungen, auch wenn diese linke Tünche anlegen. Er ist kreuzgefährlich für die, die ihn tragen – die Millionen „kleiner Leute“, die sich von ihm eine Verbesserung ihrer Verhältnisse erhoffen. Es ist auch der Aufstand der Kälber für schickere Metzger. Unser Kontinent riecht wieder nach Schwarzpulver, und die Geschichte hüstelt derzeit leise vor sich hin. Wenn sie erst anfängt zu husten, wird sie Blut spucken. Kälberblut.

Verhindern könnte das nur eine einig agierende Linke. Eine Linke, die sich über zwei Dinge im Klaren sein muss: die strikte Ablehnung jeglicher politischer Gewalt und die Notwendigkeit, alternative gesellschaftliche Modelle zu entwickeln, zu denen sich breiteste Mehrheiten auch bekennen können. Das sind mitnichten zusammengeschusterte Parlaments-Mehrheiten „links von der CDU“. Das ist auch kein billiger Umsturz durch wen auch immer. „Immer werden, die selbst einer Revolution ihre Herrschaft verdanken, späterhin die Unnachsichtigsten und Unduldsamsten gegen jede Neuerung sein“ (Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt). – „Wer sagt, was links ist“, fragte Tom Strohschneider kürzlich in neues deutschland. Die LINKE jedenfalls ist es derzeit nicht. In den sozialen Netzwerken ist sie momentan hauptsächlich von den eigenen Wahlplakaten peinlich berührt. Um ihre Gretchenfrage, die Frage nach ihrem Verhältnis zu politisch motivierter Gewalt, drückt sie sich. Das ist das eigentliche Problem.