Gracias a la Vida

Violeta Parra – Mentorin des neuen chilenischen Liedes

Die chilenische Musikerin Violeta Parra war Leitfigur der lateinamerikanischen Volksmusik. Sie hat die volkstümlichen Melodien in ihrem Land erforscht und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Später wurde sie zur Mentorin des »Nueva Canción Chilena« (Neues Chilenisches Lied).

Als eine Journalistin sie einmal fragte, welche ihrer vielen künstlerischen Ausdrucksformen sie besonders bevorzuge, antwortete sie, ihr ginge es nur um eins: »Nah bei den einfachen Leuten zu bleiben«.

Mit musikalischen Erinnerungen und Ausstellungen in Peru, Kolumbien, Trinidad & Tobago, Uruguay, Brasilien, Kuba und Mexiko sowie in Europa wird die Künstlerin, die in diesem Monat 100 Jahre alt geworden wäre, derzeit gewürdigt. Den Höhepunkt bildete zweifellos die Hommage chilenischer Musiker vor dem Regierungssitz Moneda in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile, an der mehr als 6.000 Menschen teilnahmen. [1]

Die volkstümliche Musik ihrer Heimat wurde Violeta del Carmen Parra Sandoval, die am 4. Oktober 1917 in der Provinzstadt San Carlos in der Bio-Bio-Region auf die Welt kam, quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater Nicanor Parra Parra war ein begnadeter Gitarrist, der als Gewerkschaftler wiederholt seine Anstellung als Musiklehrer verlor; ihre Mutter Clara Sandoval Navarrete arbeitete als Schneiderin, sang Volkslieder und spielte ebenfalls Gitarre.

 

Eine Pionierin in der Ethnographie

Ihre Kindheit und die ihrer acht Geschwister war von Armut und harter Arbeit auf dem Land im Süden Chiles geprägt. Sie war neun, als sie anfing, Gitarre zu spielen, und zwölf, als sie ihre ersten eigenen Lieder komponierte. Auch die Geschwister hatten musikalisches Talent, und als der Vater schwer erkrankte, sangen die Kinder auf der Straße und im Zirkus, um zum Familienunterhalt beizutragen. Im Jahr 1932, nach dem Tod des Vaters, holte sie ihr Bruder Nicanor Parra Sandoval, der später als Dichter berühmt wurde, in die Hauptstadt Santiago de Chile. Nachdem auch die anderen Familienmitglieder nachgezogen waren, begann Violeta Parra mit ihrer Schwester in Bars und Cafés zu singen. 1939 kam ihre Tochter Isabel und zwei Jahre später ihr Sohn Ángel zur Welt.

Auf Anregung des Bruders Nicanor begann sie Chiles Volksmusik zu erforschen. Sie entdeckt nahezu vergessene Musik, sammelt systematisch alte Lieder und Bräuche und begann, sie bekannt zu machen. Eine 2012 in Argentinien gedrehte Fernsehserie über ihr Leben zeigt, wie sie zu Fuß, begleitet von ihrem achtjährigen Sohn Ángel, durch einsame chilenische Halbwüsten wandert, bei armen Bauernfamilien anklopft und sie darum bittet, Volkslieder vorzutragen, deren Text und Melodie sie aufzeichnet.

Es war zum einen eine ethnographische Pionierleistung und zum anderen bildete diese Sammlung die Grundlage ihrer eigenen künstlerischen Arbeit. Sie selbst sagte 1960 bei einem Auftritt in der Universität der südchilenischen Stadt Concepción: »Nicht einmal ein Zehntel der Chilenen kennt die eigene Volksmusik. Ich muss sie also fast vor jeder Haustür trällern.«

Violeta Parra, die seit 1938 die politische Arbeit der Kommunistischen Partei Chiles unterstützte, wurde in ihrer künstlerischen Arbeit zunehmend politischer. Langsam gelang es ihr, die Menschen für die »Volksmusik« zu begeistern, die sie 1954 mit einer eigenen Radiosendung im ganzen Land erreichte. Preisgekrönt als »beste chilenische Folkloristin des Jahres« wurde sie im gleichen Jahr zum Weltjugendfest nach Warschau eingeladen. Sie reiste nach Polen, in die Sowjetunion und nach Frankreich, wo sie sich zwei Jahre aufhielt und ihre ersten Schallplatten aufnahm.

Als vielseitige Künstlerin widmete sie sich nicht nur der Musik, sondern auch der Malerei, der Töpferei und der Bestickung von Sackleinen. Ihre Kunstwerke sind gemalte oder gestickte Lieder. Ob sie große Pappen mit Figuren und Fabelwesen bemalt, mit Keramik arbeitet oder großformatige Wandteppiche mit Stoffresten bestickt – ihre berühmten arpilleras –, immer erzählt sie Geschichten des Alltags, Geschichten des chilenischen Volkes. 1964 konnte sie im Pavillon de Marsan des Palais du Louvre in Paris als erste lateinamerikanische Künstlerin ihre Bilder und Wandteppiche zeigen.

Nach ihrer Rückkehr nach Santiago de Chile bekam sie über die Folklore-Sängerin Margot Loyola Kontakt zu Professoren und Studenten der Musikfakultät der Universidad de Chile. In dieser Phase entwickelt sich Violeta Para zur Mentorin des Nueva Canción Chilena: jenes neue Genre, das die chilenische cueca, eine ländliche Liedform, mit sozialkritischen und politischen Texten über die Armut des Volkes und seinen Kampf um bessere Lebensbedingungen verbindet. Diese Musikrichtung breitete sich in den sechziger und siebziger Jahren in Chile und in großen Teilen Lateinamerikas aus.

 

Einsatz gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit

Mit dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende im Jahr 1970 erlangte diese Musikbewegung ihren ersten Höhepunkt. Dazu trugen vor allem Musiker wie Victor Jara und Folk-Bands wie Quilapayun und Inti Illimani als musikalische Botschafter des neuen Chile bei. Nur wenige Monate vor dem gewaltsamen Sturz des Präsidenten durch das Militär wird das neue Lied des Komponisten Sergio Ortega von Quilapayun gespielt: »El pueblo unido« (»Das vereinte Volk«), dessen Refrain lautet: »El Pueblo unido, jamás será vencido« –»das vereinte Volk wird niemals besiegt werden«. [2]

Seit Mitte der 1960er Jahre bewohnte Violeta Parra im Santiagoer Bezirk La Reina ein Zirkuszelt, genannt La Carpa. Ihr Traum war, den peña (Treffpunkt) zu einem Vorbild der chilenischen Kulturpflege zu machen. Mit Alberto Zapicán und ihren Kindern Isabel und Ángel nahm sie ihre letzte Langspielplatte mit dem Titel »Las últimas composiciones« auf – ein eindrucksvolles Zeugnis ihrer künstlerischen Schaffenskraft.

In ihren Liedern legte sie den Finger in die Wunde der Armut und der sozialen Ungerechtigkeit und sparte nicht mit Kritik an den Regierenden und der Justiz. Es war die Zeit, in der sich in der Bevölkerung ein höheres Bewusstsein über die Klassenkämpfe entwickelte und darüber, dass sie in einer »Demokratur« lebte, in einer Mischung aus Demokratie und Diktatur, wie der uruguayische Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano es charakterisierte.

Violeta Parra war 49 Jahre alt, als sie am 5. Februar 1967 freiwillig aus dem Leben schied, drei Jahre bevor Salvador Allende zum Präsidenten gewählt wurde. In ihrem Freundeskreis war bekannt, dass sie von Depressionen gequält wurde, von »hinterhältigen, gestaltlosen Geschöpfen«, die seit dem Kindesalter an ihrer geschundenen Seele nagten. »Por suerte tengo guitarra. Para llorar mí dolor« – »Zum Glück habe ich eine Gitarre. Um zu beweinen meinen Schmerz«, schrieb Violeta Parra in ihrem Song »La Carta« (Der Brief). Ein Jahr vor ihrem Freitod hatte sie »Gracias a la vida« (»Danke an das Leben, das mir so viel gab…«) komponiert. Das bewegende Lied, mit dem sie sich vom Leben zu verabschieden schien, wurde in den Interpretationen von Mercedes Sosa und Joan Baez weltberühmt.

Nach dem Putsch vom 11. September 1973 ließ die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet das Gelände im Bezirk La Reina plattwalzen. Victor Jara wurde von den faschistischen Schergen in den ersten Tagen der Diktatur im Estadio Chile in der Hauptstadt bestialisch ermordet. [3] Gruppen wie Quilapayun und Inti Illimani wurden auf Europatourneen vom Putsch überrascht und mussten wie ihre Kinder, die Musiker Isabel und Ángel Parra, in Europa im Exil bleiben.

Dennoch: Das von Violeta Parra maßgeblich inspirierte sozial engagierte »Neue chilenische Lied« konnten die Putschisten nicht auslöschen. Es wurde wie »El pueblo unido«, die Hymne auf die Unidad Popular, zum Synonym für das unter der Militärdiktatur leidende und kämpfende Chile. 1989 fanden die ersten freien Wahlen nach der 15-jährigen faschistischen Diktatur statt.

 

[1] »Artistas homenajearon a Violeta Parra en los balcones de La Moneda«, 24 horas, cl 15.10.2017.
[2] Das Lied des linken Chile: El pueblo unido, in: Mitbestimmung 12/2016.
[3] Otto König/Richard Detje: Klage gegen die Mörder von Victor Jara Chile: der lange Weg zur Demokratie, Sozialismus.de, 24.9.2014, www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/chile-der-lange-weg-zur-demokratie/