Wer die Rechte bekämpfen will, muss ihr Denken kennen

Eine Antwort auf Richard Gebhardt

DAS ARGUMENT 325/2018

Thomas Wagner

Wer die Rechte bekämpfen will, muss ihr Denken kennen

Eine Antwort auf Richard Gebhardt

 

Ende Juni 2017 erhielt ich eine SMS von einem jungen Politikwissenschaftler, mit dem ich mich zu einem Telefoninterview verabredet hatte. Die junge Welt habe auf ihren Thema-Seiten einen bemerkenswerten Text von Sevim Dağdelen veröffentlicht. »Sie hat kritisiert, wie der Begriff der Menschenrechte von der Mainstreampolitik missbraucht wird«, erläutert er mir kurze Zeit später am Telefon. »Sie hat gesagt, wenn wir über Menschenrechte reden, dann muss es auch um die sozialen Menschenrechte gehen, um Deutschland als Niedriglohnland, die Kluft zwischen arm und reich, um den freien Zugang zur Bildung, wirkliche Chancengleichheit. « Bei meinem Gesprächspartner handelte es sich um Benedikt Kaiser, den Lektor des von Götz Kubitschek betriebenen Verlags Antaios.3 Ein junger Rechtsintellektueller begeistert sich für die Idee der sozialen Menschenrechte. Das war mir bislang noch nicht untergekommen. Gehörten die Menschenrechte nicht zu jenen Universalbegriffen, die schon Armin Mohler, einer der wichtigsten Vordenker dieses Milieus nach dem Zweiten Weltkrieg, deswegen verwarf, weil sie eine Herrschaft der Abstraktion über das Konkrete implizierten? »Für mich ist die Frage, wie der Begriff der Menschenrechte gegenwärtig und voraussichtlich noch mehr in der Zukunft missbraucht werden wird, um politische Interessen zu verfolgen, wichtiger, als alte Debatten um die Frage von Universalismus und Nominalismus aufzuwärmen«, entgegnet mir Kaiser. Das gegenwärtige Verständnis der Menschenrechte sei unzureichend, weil die soziale Dimension ausgeklammert werde, und es werde missbraucht, um westliche Interventionskriege zu führen und geostrategische Interessen durchzusetzen. Er stimme Dağdelen zu, auch wenn er »die von ihr benutzte, zugespitzte Wortwahl nicht immer« schätze.

In seiner sachlichen Auseinandersetzung mit meinem Buch schreibt Richard Gebhardt, dass der Universalismus der Menschenrechte mit rechter Ideologie nicht kompatibel sei. Verlässt Kaiser an dieser Stelle also den Boden rechter Ideologie? Dessen Positionierung in der sozialen Frage ist, wie Gebhardt weiß, im rechtsintellektuellen Milieu umstritten. Ist es wirklich so, wie Gebhardt im vollen Brustton der Überzeugung behauptet, dass Kaisers »genuin rechte[m] Ansatz […] jedwedes progressive Element« fehlt? Kaiser argumentiert sozial, er sagt, dass er die Demokratie nicht abschaffen, sondern verteidigen will. Er kritisiert den Antisemitismus in der rechten Kapitalismuskritik und verwirft ausdrücklich eine im eigenen Lager gepflegte Rhetorik, welche die Flüchtlinge für ihr Schicksal verantwortlich machen  will. Ich denke, es macht nicht viel Sinn, solchem Denken jeden ›progressiven‹ Gehalt zu bestreiten. Vielmehr ist es angezeigt, darüber nachzudenken, ob es nicht solche Inhalte sind, welche die AfD in Zukunft für immer breitere Schichten, darunter eine Menge potenzieller Linkswähler und viele für eine fortschrittlich Politik ansprechbare Jugendliche, attraktiv machen könnten. Kaiser ist ein wichtiger Stichwortgeber des Björn-Höcke-Flügels der AfD. Sollte seine Position innerhalb des ideologisch widersprüchlich zusammengesetzten rechten Milieus gegenüber den wirtschaftsliberalen Positionen an Raum gewinnen, wäre das gefährlich – und zwar zunächst einmal für die linken Kräfte. Einer in sozialpolitischer Hinsicht progressiv aufgestellten rechten Partei könnte es in den östlichen Bundesländern schon sehr bald gelingen, die SPD und die Linkspartei nahezu bedeutungslos zu machen und sie auch bundespolitisch merklich zu schwächen. Und zwar gerade aufgrund ihrer von Gebhardt bestrittenen ›progressiven Elemente‹, die Kaiser und seine Unterstützer dem gegenwärtig noch ›gärigen Haufen‹, so Alexander Gauland über die AfD, hinzufügen wollen.

Der Grundimpuls für mein Buch bestand darin, einmal nicht zu untersuchen, was an dem Denken der Neuen Rechten ›falsch‹ ist, darüber ist schon viel publiziert worden, sondern herauszufinden, was es attraktiv macht – und zwar nicht nur für ›Ewiggestrige‹ sondern gerade auch für intelligente und empfindsame junge Leute. Ein Thema, dass auch Henning Eichberg am Ende seines Lebens umtrieb. Mein Ansatz bestand also nicht darin, die Rechten zu ›entlarven‹, zum Beispiel etwaige von ihnen verborgen gehaltene finstere Absichten aufzudecken, sondern mich den Wahrheitskernen ihrer Weltsicht anzunähern und deren Faszinationskraft nachzuspüren. Das ist auch der Grund, warum ich in meinem Buch der kulturellen Dimension: Theater, Literatur, Popkultur, Techno und Neofolk viel Platz einräume. Worauf in den vielen Rezensionen meines Buches leider fast überhaupt nicht eingegangen wird. Ursprünglich hatte ich auch mehr von meinen eigenen Berührungspunkten zum rechten Denken (und Fühlen) erzählen wollen. An dieser Selbsterkundung bin ich jedoch gescheitert – schon aus Zeit- und Platzgründen. Übrig geblieben ist »der nüchterne Tonfall«, der in meinen Augen das Buch für breite Kreise lesbar gemacht hat.

Gebhardt betont, dass auch Rechtsintellektuelle ein Recht darauf haben, »richtig zitiert und adäquat referiert zu werden«. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit. Er vermisst gründliche Recherche und beklagt Verstöße »gegen elementare journalistische (und auch wissenschaftliche) Standards«. Zu meinem Verdruss stehen linke Medien den bürgerlichen in dieser Hinsicht in nichts nach. Allzu schnell wird in die selbst gestellte Falle der Dämonisierung getappt. Man macht die Nazi-Schublade auf, steckt dort alles rein, was sich rechts von den Unionsparteien und der FDP im politischen Raum bewegt und glaubt, damit wäre dem antifaschistischen Zweck genüge getan. Das ist ein Irrtum, der sich politisch als verhängnisvoll erweisen könnte. Man kennt den Gegner kaum, den man bekämpfen will, und macht daher vermeidbare Fehler. Während sich die Rechtsintellektuellen nicht scheuen, die Analysen des politischen Gegners zu studieren, um sich argumentativ zu wappnen, starren die meisten Liberalen, Linksliberalen und Linken wie das Kaninchen auf die Schlange.

Auf die Gefahr hin, dass mir wieder vorgeworfen wird, ich würde eine rechte Selbstdarstellung »verdoppeln«, möchte ich an dieser Stelle zitieren, wie Benedikt Kaiser seine Denkmethode beschreibt: »Den Impuls, den ich mit Benoist teile, würde ich so beschreiben: Ich greife aus und bilde mich in alle Richtungen weiter und integriere das in mein Denken oder – und das ist der Unterschied zur alten Rechten – ich verzichte auf Bestandteile meines alten Weltbilds und entwickle ein neues beispielsweise auch auf der Grundlage linker Ideen und neuerer Erkenntnisse der Forschung. Es geht darum, herauszuarbeiten, welche Widersprüche es in einer Gesellschaft gibt und welche Herausforderungen die Gegenwart an politische Gruppierungen stellt. Es geht darum, Antworten zu finden, die natürlich an ein weltanschauliches Fundament zurückgebunden sind. Dabei kann in alle möglichen Richtungen ausgegriffen werden, wenn es eben nützlich erscheint. ›Linken Leuten von rechts‹ wird oft vorgeworfen, einfach nur zu klauen. Aber es geht nicht um geistigen Diebstahl. Stattdessen wird geschaut, wo etwas von linken Theoretikern, meinethalben auch mal von einem liberalen Denker, tatsächlich besser analysiert und formuliert wird. Das kann im Sinne einer kritischen Übernahme aufgegriffen und in die eigene Position integriert werden. Es wäre borniert zu sagen, ich tue das nicht, weil es sich um einen linken Denker handelt.«

In vorhergehenden Studien habe ich beschrieben, wie sich das bürgerliche Spektrum und die radikale Rechte lange vor der Gründung der AfD immer stärker angenähert haben (Wagner 2011), wie sehr das Denken Peter Sloterdijks einem rechten Nietzscheanismus verbunden ist (Rehmann/Wagner 2010) und welche Bedeutung Thilo Sarrazin für die Formierung eines Rechtspopulismus hatte (Zander/Wagner 2011). Diese Erkenntnisse habe ich in meinem neuen Buch wieder aufgegriffen, ohne dass dies allerdings in den Rezensionen berücksichtigt worden wäre. In meinem neuen Buch behaupte ich – ohne die Bedeutung weiterbestehender Verbindungen der Rechten ins bürgerliche Lager vernachlässigen zu wollen –, dass der heutige Erfolg der Rechten auch mit einer spezifischen ideologischen Modernisierung zu tun hat, die in Reaktion auf ›1968‹ erfolgt ist. Das spitze ich zu der These zu, dass es sich dabei um ein Schlüsseljahr für die Neue Rechte handelt. Man mag dies, wie Gebhardt, als »überpointiert« bezeichnen. Für das Buch erwies sich dieser Ansatz als produktiv. Immerhin gelang auf diese Weise, wie Gebhardt schreibt, nicht nur ein »kundiger Streifzug durch das Milieu der Neuen Rechten«, das »abwägend, nachdenklich, nachfragend« bewertet, sondern zudem »ein lesenswertes Panorama der politischen Kultur der Gegenwart«, das »durch wissenschaftlich fundierten Kenntnisreichtum bei dennoch publikumsnaher Darstellung heraus[ragt]«. Vielen Dank für das Lob! Mehr hatte ich mir nicht erhofft.

Meine Arbeitshypothese war zunächst: Weil sich die Protagonisten der Neuen Rechten vom Nazi-Faschismus distanzieren, keinen autoritären Führerstaat, sondern mehr direkte Demokratie propagieren, von der Linken die Bedeutung der Theoriearbeit gelernt haben, an die Popkultur andocken, gewaltfreie Methoden verwenden, die Provokationsmethoden der Studentenbewegung als rechte Spaßguerilla adaptieren ..., ist es heute und wird es in Zukunft schwerer sein, sie als politische Gegner erfolgreich zu bekämpfen. Dieser Eindruck verstärkte sich, als ich noch während der Schreibarbeit beobachtete, wie hilflos Kulturbetrieb und Presse auf gewaltfreie Aktionen der Identitären Bewegung reagierten und dass eine Reihe von auf Theaterbühnen geplanten Diskussionsveranstaltungen mit Rechtsintellektuellen wie Marc Jongen und Götz Kubitschek auf äußeren Druck hin abgesagt wurden. Ich nahm das spontan nicht als Erfolge antifaschistischer Interventionen wahr, sondern als eine beunruhigende Reaktionsweise verunsicherter Kulturinstitutionen, deren Aufgabe es doch sein müsste, radikale gesellschaftliche Widersprüche auf der Bühne darzustellen und demokratisch bearbeitbar zu machen. Um mir darüber ein Bild zu machen, führte ich weitere Gespräche mit dem Theaterautor Falk Richter und dem Dramaturgen Bernd Stegemann. Erst in diesem Zusammenhang, und damit am Ende meiner Arbeit, festigte sich meine Überzeugung, dass die auf offenen Podien geführte Auseinandersetzung mit Rechtsintellektuellen nicht zu vermeiden ist, sondern geführt werden muss, wenn die Linke im öffentlichen Diskurs bestehen will.

Gebhardt hat recht, wenn er betont, dass die Gründung des für die französische Neue Rechte wichtigen G.R.E.C.E. (Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne) nicht in erster Linie auf den Einfluss der 1968er zurückzuführen ist, sondern »zuvorderst eine Antwort auf die Algerienfrage und die damit verbundene Aufgabe der Rolle Frankreichs als Kolonialmacht« war. Ich stimme ihm ausdrücklich zu, wenn er die Gründungsmotive der jungen französischen Rechtsintellektuellen »nicht primär in der Auseinandersetzung mit den neuen Linken« sieht. Ich habe an dieser Stelle missverständlich formuliert. Statt zu schreiben, dass die Gründung des GRECE nicht zuletzt auch eine Antwort der jungen Rechten auf die Herausforderung durch eine Neue Linke war, formulierte ich: »Mit der Gründung des GRECE antworteten junge Rechte auf die Herausforderung durch eine Neue Linke«. Die notwendige Relativierung ließ ich in meinem Text dann den französischen Rechtsintellektuellen Alain de Benoist vornehmen: »Benoist bestreitet allerdings, dass die Denkfabrik eine Abwehrreaktion ›auf die kulturrevolutionären Impulse des Pariser Mai 1968‹ war. Man habe sich selbst nicht als Gegenmodell verstanden, ließ Benoist im Rückblick vernehmen, und ›manchmal gewisse Sympathie‹ verspürt.« Weil ich darüber mehr wissen wollte, befragte ich ihn per E-Mail schriftlich zu seinem Verhältnis zum Pariser Mai.

Gebhardts Vorhalt, dass ich entgegen meiner Intention den neurechten Inhalten zu wenig widerspräche, setzt voraus, dass ich mit meinem Buch vorgehabt hätte, den Streit mit der Neuen Rechten zu suchen. Das ist jedoch nicht der Fall. Mir ging es um eine spannend zu lesende Darstellung ihrer Geschichte, die Stärken und Schwächen sichtbar macht, um auf diese Weise eine streitbare Auseinandersetzung mit ihren Positionen und Strategien zu erleichtern. Meine Meinung als Autor sollte dabei gerade nicht im Vordergrund stehen. Ob ich meinen Gesprächspartnern in den entsprechenden Passagen zu wenig widerspreche, halte ich für eine nachrangige Frage. Ich hoffe, dass ich das Buch so geschrieben habe, dass sich alle, die es zur Hand nehmen, selbst ein Bild machen und eine Position entwickeln können.

Ich selbst bin schließlich unter anderem zu dem Schluss gekommen, dass die Linke gut daran täte, den offenen Streit mit den Rechtsintellektuellen zu suchen. Andere mögen zu anderen Schlüssen gelangen. Irritiert bin ich darüber, dass Gebhardt so viel Wert darauf legt, die Unterschiede zwischen Studentenbewegung und Neuer Rechter zu betonen. Nirgendwo behaupte ich, dass sich linke und rechte Inhalte und Strategien nicht unterschieden hätten. Die jungen Rechten haben ›1968‹ als Rechte rezipiert – als was denn sonst? Verkappte Linke waren sie damals nicht. Als Rechte haben sie eigene Theoriedefizite bemerkt und durch Lektüren und Theoriearbeit zu beseitigen versucht. Es gab im eigenen Lager Diskussionen über den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit, über die Gewaltfrage, den Antisemitismus, die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Industriegesellschaft. Dass die Adaption von linken Themen, Kampfmitteln und Strategien nicht neu ist, sondern schon von Ernst Bloch als »Entwendungen aus der Kommune« gekennzeichnet wurde, ist richtig beobachtet. Aber das ist doch kein Einwand gegen meine Darstellung. Manche meiner Kritiker sagten mir, dass von einer Neuen Rechten gar nicht die Rede sein dürfe, wo sie doch die gleichen Methoden anwendeten und die gleichen Ideen verfolgten, wie ihre jungkonservativen und nationalrevolutionären Vorbilder. Darüber lässt sich diskutieren. Doch wäre es dann nicht ebenso fragwürdig, von einer Neuen Linken zu reden? Auch diese bildete sich auf der Grundlage eines vielfältigen Rückbezugs auf bereits bekannte – zum Teil in Vergessenheit geratene – theoretische Quellen und förderte alte Organisationsformen wieder neu zu Tage, beispielsweise die Rätedemokratie. In meinem Buch behaupte ich nicht, dass die Rechte eine ganz andere geworden sei, sondern belege, dass sie sich in Reaktion auf ›1968‹ auf eine Weise erneuert hat, die es schwerer macht, sie zu bekämpfen. Am weitesten sind dabei nationalrevolutionäre Gruppen um Henning Eichberg gegangen, die sich linken Positionen in den 1980er Jahren so weit angenähert hatten, dass sie untereinander uneinig waren, ob sie links, rechts oder etwas ganz anderes seien. Was sie damals von der Mehrzahl der linken Organisationen unterschied, war die Betonung der nationalen Frage, sprich das Beharren auf der Überwindung der deutschen Teilung.

Gebhardt schreibt, es sei »unnötig«, dass ich »exklusive Gespräche mit Vertretern verschiedener Generationen der Neuen Rechten« ankündige, weil viele Journalisten Kubitschek und Kositza einen Besuch abgestattet hätten. Was die beiden betrifft, stimmt das. Wenngleich sie mir einiges erzählt haben, was woanders nicht zu lesen ist. Im Hinblick auf meine anderen Gespräche mit Eichberg, Sellner, Böckelmann und den schriftlichen Austausch mit Benoist lasse ich den Einwand jedoch nicht gelten.

Über mein Gespräch mit Kubitschek schreibt Gebhardt: »Wagner will sein Gegenüber verstehen, nicht aber provozieren – vermutlich wohl wissend, dass der Diskurs dann beendet wäre«. Das ist Quatsch! Ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, dass es zu einem Gesprächsabbruch kommen könnte. Und warum hätte ich meinen Gesprächspartner auch provozieren sollen? Ich habe Kubitschek aufgesucht, um ihn über die Konservativ Subversive Aktion und sein Verhältnis zu dem 68er Bernd Rabehl zu befragen. Nicht um mit ihm zu streiten. Da anschließend noch viel Zeit war, habe ich ihm und Ellen Kositza noch eine Reihe von weiteren Fragen – etwa zur Gewaltfrage, dem Bruch mit Karlheinz Weißmann und der Jungen Freiheit sowie zu ihrem Interesse an neofaschistischen Bewegungen wie der Casa Pound gestellt. Das war vorher nicht abgesprochen gewesen, und ich habe diesen nicht geplanten »Beifang« für so wertvoll gehalten, dass ich ihn in das Buch aufgenommen habe. Ich habe Kubitschek und Kositza als angenehme Gesprächspartner in Erinnerung, aufmerksam, konzentriert, sachlich und neugierig auf ihr Gegenüber, von dem sie wussten, dass er aus der radikalen Linken kommt. Was nun Gebhardts Vorwurf betrifft, ich hätte Martin Sellner damit konfrontieren sollen, dass unter dem Label IB in Aachen harte Neonazis auftreten können, hätte ich ihn garantiert dazu befragt. So wurde nur seine eigene Neonazi-Vergangenheit – und vieles andere, etwa die Vorgeschichte der IB in Österreich – thematisiert. Obwohl ich vieles, was auf Seiten der Neuen Rechten an Rassismus, gefährlicher Polemik, irrigen Gedanken in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geäußert wurde, in meinem Buch nicht angesprochen habe – schon aus Platzgründen: mein Thema ist ja auch nicht eine umfassende Darstellung menschenfeindlicher Elemente in der Ideologie der Neuen Rechten –, glaube ich, dass ich diese Aspekte durch die Dramaturgie meiner Erzählung habe deutlich werden lassen. Aber das müssen die Leserinnen und Leser selbst beurteilen.

An dieser Stelle möchte ich einige der von Gebhardt gestellten Fragen beantworten: Nein, ich halte die (links-)liberalen Antidiskriminierungspostulate nicht nur für das paternalistische Programm einer kosmopolitischen Mittelschicht. Aber ihre Umsetzung schießt zuweilen so sehr über das Ziel hinaus, dass sie für das linke Projekt, das auf Popularisierung und Massenwirksamkeit angewiesen ist, gefährlich werden können. Nein, ich halte eine »konsequente Durchsetzung der Frauenquote« nicht für ein Beispiel eines von mir abgelehnten »Verordnungsliberalismus«. Ein Beispiel für diesen möchte ich gerne schildern: Im vergangenen Jahr wollten zwei Dozenten der schwedischen Universität Lund ein Seminar zur konservativen Kritik demokratischer Ideale im 19. Jahrhundert durchführen. Die Textgrundlage bestand ausschließlich aus Primärquellen, Texten, die darüber hinaus ausschließlich von Männern verfasst worden waren. Damit verstießen die Wissenschaftler gegen Quotierungsregeln der Institutsleitung, die ihnen prompt einen Text der Philosophin Judith Butler auf die Literaturliste setzte. Die war darüber allerdings nicht amüsiert. In einer Mail, deren Inhalt die FAZ (24.11.2017) wiedergab, bewertete sie das Vorgehen der Institutsleitung als einen Angriff auf die akademische Freiheit, die es im Zuge der Ausbreitung autoritärer Herrschaftsformen doch zu verteidigen gelte. Das Beispiel zeigt: Werden emanzipatorische Ideen auf die falsche Weise institutionalisiert, können auch sie das Projekt der Aufklärung gefährden. Systematisch zu Fragen der »affirmative action« recherchiert oder gar geforscht habe ich – nach Veröffentlichung meiner Dissertation über die US-Diskussion um den Einfluss der Irokesen auf die Verfassung (Wagner 2004) – nicht mehr, weshalb ich dieses wichtige Thema im Schlusskapitel meines Buchs nur angerissen habe und auch an dieser Stelle nicht vertiefen möchte. Ich kann aber nicht verhehlen, dass mir die in linken Subkulturen und im linken akademischen Kurs vorhandenen Tendenzen zur Selbstzerfleischung – etwa im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über das Buch Beißreflexe – große Sorgen machen.

Anders als Gebhardt bin ich entschieden der Meinung, dass Hans-Thomas Tillschneiders (AfD Sachsen-Anhalt) Ansinnen, in reglementierender Absicht Einfluss auf die Programmgestaltung von Theatern zu nehmen, erst recht ein Grund ist, mit ihm auf Theaterbühnen genau darüber zu diskutieren (was meines Wissens auch gemacht wurde). Gebhardt fragt: »Wozu aber soll eine Debatte mit Kulturzensoren dienen?« Die Frage müsste umgekehrt lauten: Mit wem sollte sich eine kontroverse Debatte denn sonst lohnen als mit einem mächtiger werdenden politischen Gegner? Ich muss doch darum bemüht sein, dessen Argumente zu widerlegen, um das noch unentschiedene Publikum davon zu überzeugen, dass meine und nicht seine Position die richtige ist. Wenn es stimmte, dass Rechtsintellektuellen »an echten inhaltlichen Kontroversen gar nicht gelegen« ist, wäre es heute noch wichtiger, sie mit ihnen zu führen. Denn das wäre ein Zeichen dafür, dass sie befürchten, als Verlierer vom Feld zu gehen.

Gebhardt bemängelt, dass ›1968‹ in meiner Darstellung »unter der Hand lediglich zur Ära des Agitprops und Straßentheaters im Karneval der Ideologien« werde. Seine Bedeutung als »Gründungsmoment auch für radikaldemokratische neue soziale Bewegungen gerät so zur Nebenepisode.« Tatsächlich ist die Ereignis- und auch eine umfassende Wirkungsgeschichte des linken ›1968‹ nicht das Thema meines Buches. Ich nehme mir einen ganz speziellen, bisher wenig beleuchteten Strang der Studentenrevolte heraus, nämlich den der Wirkung, die ›1968‹ auf die Rechte – und zwar vor allem auf die Rechtsintellektuellen in Deutschland – hatte. Erst am Ende meiner sich über mehr als 50 Jahre erstreckenden Darstellung kehre ich zum linken ›1968‹ zurück und zwar zu seinen uneingelösten Versprechen. »Nach wie vor geht es um die Fragen, die nach 1968 im Zuge des langen Marschs durch die Institutionen verloren gegangen zu sein scheinen. Wer verfügt über die Produktionsmittel im 21. Jahrhundert? Wer gebietet über die von uns unablässig produzierten Daten? Sollen wir sie privaten Monopolkonzernen überlassen oder

sie in die demokratisch kontrollierte öffentliche Hand überführen? Was haben die Kriege in Syrien und anderen Ländern des Mittleren und Nahen Osten mit Kapital- und Großmachtinteressen zu tun? Wie gelangen Menschen aus ganz unterschiedlichen beruflichen Zusammenhängen und mit ganz verschiedenen Diskriminierungserfahrungen zu der Einsicht, dass sie gemeinsame Interessen haben, für die es sich auch gemeinsam zu kämpfen lohnt? Und: wie können Forderungen, die gender- und migrations-, umwelt- und behindertenpolitische Gruppen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, auf eine produktive Weise in die Klassenauseinandersetzungen eingebunden werden? Die Antwort auf Fragen wie diese ist heute nicht weniger dringlich als 1968.«

 

 

Literatur

Dağdelen, Sevim, »Generalangriff der Herrschenden«, in: junge Welt, 29.6.2017 (www)

Rehmann, Jan, u. Thomas Wagner, Angriff der Leistungsträger? Das Buch zur Sloterdijk-Debatte, AS 307, Hamburg 2010

Wagner, Thomas, Irokesen und Demokratie: Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation, Berlin u.a. 2004

ders., Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011

Zander, Michael, u. Thomas Wagner (Hg.), Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte. Untersuchungen eines Syndroms, Berlin 2011