Herrschaftsgottnochmal!

Zur Ideengeschichte des Anarchismus

Der Anarchismus stand immer im Schatten von zwei konkurrierenden Strömungen der globalen Linken: Kommunismus und Sozialdemokratie. Bis heute herrscht selbst in der Linken viel Unwissen über anarchistische Strömungen. Grund genug für einen Streifzug durch deren Ideengeschichte und für die Frage: Was ist eigentlich Anarchismus?

Grundsätzlich strebt Anarchismus nach gesellschaftlichen Zuständen, in denen sowohl Gleichheit als auch individuelle Freiheit verwirklicht sind. Mit dem Liberalismus teilt er dabei den Fokus auf die Individuen und dessen Misstrauen gegenüber abstrakten Vorstellungen vom »Allgemeinwohl«. Ebenso verabscheut er paternalistische Konzepte der Erziehung, durch die Menschen zu ihrem Glück genötigt werden sollen. Zugleich aber wendet er sich scharf gegen den Liberalismus, indem er in seinen Hauptströmungen das Privateigentum an Produktionsmitteln ablehnt und dieses als eine der Ursachen von Herrschaft denunziert. Zudem lehnt er Staat und Regierung in jeder Form ab – sei es auch nur als liberaler Nachtwächterstaat.

In seiner Gegnerschaft zu Staat und Kapital berührt sich der Anarchismus dort mit dem Marxismus, wo dieser an Marx‘ Orientierung an einem »Verein freier Menschen« festhält. Nichtsdestotrotz existierten auch schon zur Lebenszeit von Marx deutliche Differenzen zwischen ihm und anarchistischen Ideen. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der Anarchismus eine umfassendere Vorstellung davon hatte, was als Revolution zu verstehen sei. Nicht nur, dass sich die Revolution auf sämtliche Lebensbereiche erstrecken müsse, sondern auch, dass eine solche Revolutionierung nur dann erfolgreich vollzogen werden könne, wenn sie sich soweit wie möglich herrschenden Organisationsformen und autoritären Verhaltensweisen verweigert.

In diesem Sinn besitzt das sogenannte Jurazirkular von 1871 den Stellenwert einer Gründungsurkunde anarchistischer Politik. Darin proklamieren die abgespaltenen antiautoritären Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA, 1864-1877): »Die künftige Gesellschaft soll nichts anderes sein, als die universelle Anwendung der Organisation, welche die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also Sorge tragen, diese Organisation so weit wie möglich unserem Ideal anzunähern. Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich.«

Letzten Endes sind also nicht Staat und Kapital, sondern die Autorität – auch verstanden als Instanzen, Institutionen oder andere Organisationszusammenhänge, die politische und ökonomische Herrschaft nach sich ziehen – das Angriffsziel der AnarchistInnen. Mit dieser Gegnerschaft korrespondiert die Vorstellung der Etablierung von Organisationsformen, die sich auf den Willen der einzelnen Menschen gründen, welche ihr Leben selbst – und zugleich solidarisch mit anderen – bestimmen.

Anarchismus ist immer mehr als ein Denkgebäude oder eine politische Bewegung gewesen, denn er stellt ebenfalls die Frage nach der Lebensführung. Es geht also sowohl darum, Verhältnisse und soziale Beziehungen zu fördern, in denen das solidarisch-gleichberechtigte Miteinander ermöglicht wird. Zugleich gilt es, Bedingungen zu schaffen, die es keinem Einzelnen, Gruppen oder Mehrheiten möglich machen, einen eigenen Vorteil auf Kosten der jeweils anderen Menschen zu erzielen. Weit vom idealistischen Glauben entfernt, dass der Mensch einfach »gut« sei, lebt im anarchistischen Denken vielmehr der Gedanke einer stetig möglichen Korrumpierbarkeit des Menschen, sobald er die Möglichkeit zur Herrschaftsausübung erhält.

 

Vom kollektivistischen Anarchismus …

Den Ausgangspunkt bildet dabei die theoretische Grundlage, die zur Zeit der IAA meist mit dem Namen Michael Bakunin, einem der wortmächtigsten Repräsentanten des Anarchismus, verbunden war. Sie wird häufig als kollektivistischer Anarchismus bezeichnet und ist eine Basis, auf die sich die meisten nachfolgenden anarchistischen Strömungen bezogen haben. Dieser Kollektivismus insistiert auf den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit. Man kann nur unter gleichermaßen freien Menschen selbst frei sein. Das Ziel ist die Verwirklichung und das Erkämpfen solchermaßen freier gesellschaftlicher Verbindungen für alle Menschen. Hierzu gehört auch die Möglichkeit, sich bewusst gegen eine solche Freiheit zu entscheiden, sofern dabei nicht die Unfreiheit anderer erzwungen wird.

Anders als im Marxismus existierte keine Vorstellung eines vorbestimmten revolutionären Subjekts, auch wenn sich die IAA auf die entstehende Arbeiterbewegung bezog. Die angestrebte Organisationsform zielt darauf ab, dass sich die Einzelnen selbst organisieren – aus diesem Kontext stammt das oben zitierte Jurazirkular. Man lehnte leitende Instanzen ab und betrachtete Basiseinheiten als souveräne Träger in einem föderalen Gesamtgebilde.

Ebenso abgelehnt wurde die Beteiligung an allen Formen herrschender Politik und damit auch jegliche Ansätze, die als Perspektive die Übernahme eines Machtapparates proklamierten, egal ob diese Übernahme parlamentarisch oder revolutionär geschehen sollte. Stattdessen ging es um den Aufbau einer breiten sozialistischen Gegenkultur in Form von Assoziationen, die zugleich als Kampfgebilde gegen das herrschende System handeln sollten. Der revolutionäre Akt selbst wurde oftmals mit der Idee eines revolutionären Generalstreiks oder einem Volksaufstand in Verbindung gebracht.

 

… zum kommunistischen …

Neben diesem kollektivistischen Anarchismus etabliert sich ab Ende der 1870er Jahre der sogenannte kommunistische Anarchismus, welcher vor allem mit Peter Kropotkin in Verbindung gebracht wird. Oft wird der wesentliche Unterschied im Bereich der ökonomischen Zukunftsvorstellung verortet. Während der kollektivistische Anarchismus zwar vergesellschaftete Eigentumsformen vorgesehen habe, würde er doch Formen eines Entlohnungssystems aufrechterhalten. Demgegenüber wende sich der kommunistische Anarchismus gegen jegliche Entlohnung und stelle das Motto »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen« in den Mittelpunkt. Inwieweit diese Darstellung sämtlichen Konzeptionen gerecht wird, die als kollektivistisch gelten, ist fraglich. Oftmals ging es im kollektivistischen Anarchismus vielmehr darum, den jeweiligen Gruppen die Regelung der Verteilung selbst zu überlassen, während der kommunistische Anarchismus hier zu einer strikteren Lösung tendierte: Der Verteilung nach Bedürfnissen. Abweichende Regelungen wurden als un-anarchistisch abqualifiziert.

Wenngleich man diese Problematik nicht unterschätzen sollte, sind andere Punkte im Rahmen des kommunistischen Anarchismus wirkmächtiger geworden: Lag innerhalb der IAA der Fokus noch auf dem Aufbau föderaler Organisationsgebilde, setzte sich dann die Vorstellung durch, dass es nicht die (entstehenden) Gewerkschaften oder ArbeiterInnenvereine seien, sondern vielmehr sogenannte Affinitätsgruppen, in denen AnarchistInnen vornehmlich agieren sollten. Diese kleinen Gruppierungen beruhten auf gemeinsam geteilten Ideen und waren oft als kurzfristige Zusammenschlüsse gedacht, die sich einer konkreten Aufgabe widmeten. Damit wurde die Organisationskonzeption des Jurazirkulars aufgegriffen, die sich aufgrund ihrer Größe als weitaus effektiver herausstellte. Auch gegenwärtige anarchistische Zusammenschlüsse wie »CrimethInc« oder das »Unsichtbare Komitee« stehen in der Tradition dieser Organisationsvorstellungen.

Mit Blick auf die ArbeiterInnenbewegung stellte sich zudem die Frage nach der Verbindung von unmittelbaren Tageskämpfen mit der Forderung nach einem revolutionären Umbruch. Zur Zeit der IAA standen diese beiden Aspekte gleichberechtigt nebeneinander. Bald wurde ihre Zusammenführung jedoch schwieriger, da sich die ArbeiterInnenbewegung auch unter dem Einfluss der internationalen Sozialdemokratie deutlicher auf eine Politik der Wahlen und Forderungen nach einer Verkürzung der Arbeitszeit fokussierte, andererseits aber auch ein deutliches Kampfpotential für revolutionäre Kämpfe erwarten ließ.

Hierauf antworteten insurrektionalistische Ansätze. Diese vertraten die Auffassung, dass eine revolutionäre Situation und eine sich damit ausbreitende Massenbewegung durch das Vorgehen anarchistischer Kampfgruppen und deren Aktionen ausgelöst werden könnten. Vor diesem historischen Hintergrund etablierte sich das Konzept der »Propaganda durch die Tat«. Ursprünglich ging es dabei darum, durch vorbildliche Aktionen den Massen Mut zu machen, diese mitzureißen und zu radikalisieren. Sie umfasste zunächst ein breites Spektrum an Vorgehensweisen, verengte sich aber bald auf das gewalttätige Vorgehen gegen bestimmte Herrschaftsträger, was zur Zeit der IAA noch keine Rolle spielte.

Es sind diese Attentate, die zum Bild des Anarchisten als Bombenleger beitrugen. Dabei bildete agitatorisch betrachtet die Verteidigungsrede der AnarchistInnen vor Gericht das Pendant zur sozialdemokratischen Parlamentsrede. Vielfach verloren die Militanten in diesem Kontext jedoch den Kontakt zu den Massen, was dazu führte, dass wiederum die rein gewerkschaftliche Organisierung erstarkte. Diese erschöpfte sich jedoch nicht alleine in einer begrenzten Interessenpolitik, wie das Aufkommen des revolutionären Syndikalismus seit den 1890er Jahren (siehe Seite 22) aufzeigt, der wiederum an Vorstellungen der IAA-Zeit anknüpfte.

 

... oder zum individualistischen Anarchismus

Etwa zur selben Zeit entstand ein Flügel des Anarchismus, der gemeinhin als individualistischer Anarchismus bezeichnet wird. Dieser lässt sich durch seinen Fokus auf den Einzelnen beschreiben, der tendenziell die soziale Dimension des Anarchismus vernachlässigt. Frei sein bedeutet hier in erster Linie, frei für sich selbst zu sein. Das gemeinsame Handeln mit Anderen wird vornehmlich als einschränkend gedacht. Das kann soweit gehen, dass Anarchismus auf ein egoistisches Ausleben der eigenen Bedürfnisse reduziert wird.

In diesem Zusammenhang kam auch die Vorstellung von Anarchismus als Lifestyle auf. Nicht zufällig gab es hier Verbindungen zur Bohème. Neu war dabei jedoch nicht die Frage der Lebensführung, sondern vielmehr der alleinige Fokus darauf. Der Anarchismus beinhaltete stets ein starkes kulturrevolutionäres Moment. Die heute in anarchistischen Kreisen diskutierten Auseinandersetzungen zwischen einem vermeintlich klassischem und einem Lifestyle-Anarchismus sind jedenfalls kein Post-Achtundsechziger-Phänomen, sie wurden schon vor über hundert Jahren geführt.

Der zweite große Strang des individualistischen Anarchismus zeichnete sich dadurch aus, dass er – im Rückgriff auf Max Stirner und Pierre Proudhon – das Privateigentum verteidigte und nur dessen Monopolisierung verhindern wollte. Grundlage hierfür bildete die anarchistische Kritik am Staatssozialismus, die zu einer Kritik am sozialistischen Anarchismus ausgeweitet wurde. Das Privateigentum und die mit ihm gesetzte Autonomie galten dabei als Bollwerke gegen die Zumutungen der Staatlichkeit. Diese mit dem Namen Benjamin Tucker verbundene Richtung, die vor allem ein US-amerikanisches Phänomen war, war für die Mehrzahl der AnarchistInnen nicht akzeptabel. Nicht zuletzt, weil sie auch den Aufbau eines Staates in Kauf nahm, wenn er durch den freiwilligen Vertrag der gleichberechtigten KleineigentümerInnen zustande kam. Aber auch dieser, an heutige anarcho-kapitalistische Positionen im Anschluss an Murray Rothbard erinnernde Ansatz führte fortschrittliche Kämpfe. So engagierte sich Tucker schon Ende des
19. Jahrhunderts für eine freie Sexualität, was explizit auch Homosexualität miteinschloss.

Eine wichtige Rolle spielten seit der Jahrhundertwende auch Kommunengründungen und Siedlungsprojekte. Deren BefürworterInnen verteidigten diese als unmittelbare Umsetzung anarchistischer Ideale, was andere zur Nachahmung inspirieren könnte. Ihre GegnerInnen bestritten diese Möglichkeit, gelingende Projekte angesichts des Weiterbestehens von Staat und Kapital aufzubauen. Zudem würden sich die Leute in den alternativen Projekten von den alltäglichen Kämpfen zurückziehen.

Im Rahmen dieses Aussteigertums artikulierte sich auch eine Revolutionsvorstellung, die nicht auf direkte Konfrontation, sondern auf ein Unterwandern des Status Quo durch gegenkulturelle oder anarchistische Inseln setzte. Hier ist historisch vor allem der Name Gustav Landauers und sein »Sozialistischer Bund« zu nennen, der nicht zufällig seit den 1970er Jahren eine immer größere Beliebtheit genießt. Auch diese Vorstellungen können als eine spezifische Umsetzung des Jurazirkulars sowie eines Ansatzes der Direkten Aktion verstanden werden.

 

Into the wild?

Außerdem taucht Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Vorläufer des gegenwärtigen Anarcho-Primitivismus auf, wie ihn John Zerzan heute in den USA vertritt, der sich der modernen Welt entgegenstellt (so in der Kommune von Henri Zisly und Emile Gravelle in Paris, ebenfalls in den 1890er Jahren). Wurde dieser damals fast von allen AnarchistInnen kritisiert, so finden ähnliche Ansätze durchaus wieder Anklang. Angesichts der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte und der Frage nach Ressourcenverteilung haben sie neue Dimensionen hinzugewonnen. Kritik daran gibt es jedoch weiterhin.

Schließlich ist an einen teilweise religiös inspirierten Anarchismus zu denken, der vor allem um die Jahrhundertwende mit dem Wirken Leo Tolstois verbunden ist. In diesem Zusammenhang entstand ein explizit gewaltfreier Anarchismus, der zunehmenden Zuspruch erhielt. Er begründet sich nicht ausschließlich ethisch oder idealistisch, sondern betrachtet sich auch in (revolutions-)strategischer Hinsicht als eine effektive, aussichtsreiche Handlungsform. Fragen über die Möglichkeiten einer gewaltfreien revolutionären Strategie spielten schon in den 1920er Jahren eine Rolle. Sie gewannen mit dem Aufkommen alternativer Bewegungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an Relevanz, wie dies in Deutschland vor allem im Umfeld der Zeitschrift Graswurzelrevolution diskutiert wird.

Überblickt man diese kurze Geschichte des Anarchismus, so wird deutlich, dass viele seiner Fragestellungen und Handlungsansätze bis heute aktuell sind. Und viele Fragen, die heute als neu erachtet werden, diskutieren AnarchistInnen schon seit über hundert Jahren.

 

Philippe Kellermann lebt und arbeitet in Berlin.