Die entführte Revolution

In Nicaragua treibt Präsident Ortega den Autoritarismus immer weiter

Die nicaraguanische Stadt Masaya gilt als Wiege der sandinistischen Bewegung. Im Februar 1978 erhob sich die Bevölkerung des Armenviertels Monimbó gegen den Diktator Anastasio Somoza. Ein Jahr später sollte dieser von der der linken sandinistischen Befreiungsbewegung FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) gestürzt werden. Der 19. Juli 1979 markierte den Sieg der sandinistischen Revolution.

39 Jahre später steht Masaya erneut im Fokus der nicaraguanischen Öffentlichkeit, doch die Rollen sind vertauscht. Es sind die Truppen der FSLN, die am 17. Juli 2018, zwei Tage vor den offiziellen Feierlichkeiten des Jahrestags der sandinistischen Revolution, in die Stadt einrücken, Barrikaden räumen und Oppositionelle verhaften. Daniel Ortega, Nicaraguas Präsident und ehemaliger Guerillero, der 2006 durch Wahlen an die Macht zurückkehrte, möchte ungestört feiern. Auf den Feierlichkeiten bezeichnet er die Protestierenden als »Terroristen«, die von Washington aufgehetzt worden seien, um Nicaragua zu destabilisieren. Vor der Bühne halten seine AnhängerInnen ein großes Transparent: »Der Comandante bleibt. Einheit bis zum Tod.«

Auslöser für die Proteste war die Ankündigung Ortegas, das Rentensystem zu reformieren. Hierbei sollten sowohl ArbeitgeberInnen als auch -nehmerInnen stärker belastet werden. Gleichzeitig sollten die Renten um fünf Prozent gekürzt werden. In den Wochen zuvor hatten bereits Studierende gegen die mangelnde Handlungsbereitschaft der Regierung hinsichtlich des Waldbrandes im Reservat Indio Maíz protestiert. Das Reservat liegt in einem Gebiet, in dem die nicaraguanische Regierung mit chinesischen Investoren den Bau des Nicaragua-Kanals plant. Er soll Atlantik und Pazifik verbinden. UmweltschützerInnen warfen der Regierung vor, nicht gegen die Brände vorzugehen, um leichter Landenteignungen in dem betroffenen Gebiet durchsetzen zu können.

Die Proteste zum Schutz des Reservats und jene gegen die Rentenreform schlossen sich am 18. April zusammen. Die FSLN organisierte Gegendemonstrationen, aus deren Reihen organisierte Schlägertrupps die Protestierenden angriffen. Dennoch weiteten sich die Demonstrationen auf andere Städte aus. Binnen weniger Tage forderte das harte Vorgehen der Regierung rund 30 Todesopfer. Als Ortega am 22. April die Reform zurücknahm, war aus den Protesten längst eine Bewegung gegen die politische Repression im Land geworden, die den Rücktritt des Präsidenten fordert. »Ortega, Somoza, son la misma cosa,« rufen die Protestierenden seither: Ortega und Somoza sind dasselbe.

Alle Verhandlungen zwischen der Opposition und der Regierung sind seither gescheitert. Bis Ende Juli kamen bei den Protesten rund 400 Menschen ums Leben. Nach dreimonatiger Repression scheint Ortega die Lage nun vorübergehend unter Kontrolle gebracht zu haben. Die Straßensperren auf dem Land sind geräumt und die Bewegung durch Gewalt eingeschüchtert. Politisch hat sich das Regime aber ins Abseits manövriert. Über elf Jahre stützte sich Ortegas Herrschaft vor allem auf ein Bündnis mit dem Unternehmertum und der Katholischen Kirche. Mit beiden hat sich das Regime mittlerweile überworfen. Der Unternehmerverband COSEP lehnte die Rentenreform scharf ab und rief wiederholt zum Streik auf. Kirchenvertreter, die zunächst zwischen Opposition und Regierung vermitteln sollten, legen Ortega mittlerweile einen Rücktritt nahe.

Der Mythos des Sandinismus

Für die weltweite Linke der 1980er Jahre war die sandinistische Revolution ein konstitutives Ereignis. Die FSLN schien eine freiere Variante des Sozialismus zu repräsentieren und politischen Pluralismus zuzulassen. Sie stellte sich ab 1984 sogar freien Wahlen. Dieser Mythos wirkt nach – für viele verkörpert das Regime bis heute eine progressive Regierung. Das Foro de São Paulo, eine Konferenz linker lateinamerikanischer Parteien, verurteilte die aktuellen Proteste als »Umsturzversuch der USA«. Es gibt aber auch kritische Stimmen: Uruguays linker Ex-Präsident José Mujica mahnte Ortega zuletzt, dass es Zeit sei zu gehen.

Sandinistische DissidentInnen werfen Ortega schon seit den 1990er Jahren vor, er habe die Ideale der Revolution verraten und die FSLN zu seinem privaten Machtapparat umgebaut. Der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal sprach 1994 von einer »Entführung der Partei« durch Ortega. Der Sachverhalt ist jedoch komplexer, als sich Ortegas linke GegnerInnen eingestehen wollen, wenn sie zwischen einem progressiven Sandinismus von 1979 bis 1990 und einer späteren autoritären Wende differenzieren. Denn neben zahlreichen Brüchen gibt es durchaus Kontinuitäten.

Die Wahrnehmung der FSLN als antiautoritäre sozialistische Partei war stets eine Idealisierung. Ihre Wurzeln hatte die Guerillabewegung in der kommunistischen Partei PSN, die 1944 als moskautreuer Ableger gegründet wurde. Der FSLN-Gründer Carlos Fonseca war ein überzeugter Anhänger Stalins. Politisch orientierte sich die Guerillabewegung an der Sowjetunion und strebte die Errichtung eines planwirtschaftlichen Einparteienstaats an. Bis in die 1970er Jahre hinein war die FSLN eine marxistisch-leninistische Kaderpartei, die mit einigen wenigen hundert Mitgliedern erfolglos einen Guerillakrieg gegen die Diktatoren-Dynastie der Somozas führte. Die Strategie wandelte sich, als sich Anfang 1979 der Flügel um Daniel Ortega durchsetzte, der die Guerilla-Strategie für gescheitert erklärte und für einen baldigen Aufstand im Bündnis mit der bürgerlichen Opposition plädierte. Dieses Bündnis besaß für Ortega allerdings rein taktischen Charakter.

Es war diese Strategie des Pragmatismus nach außen bei gleichzeitiger interner Dogmatik, die nach dem Sturz Somozas auf internationaler Ebene für eine Fehlwahrnehmung der FSLN sorgte. Nach außen verkündete man, die sandinistische Revolution wolle einen blockfreien, gemischtwirtschaftlichen und politisch pluralen Staat errichten. In internen Statuten hingegen konsolidierte sich die FSLN als marxistisch-leninistische Partei und strebte eine Eingliederung in den sowjetischen Machtblock an. Dass dieses Ziel nie umgesetzt wurde, lag vor allem an den nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen. Vor der offenen Unterstützung eines ‚zweiten Kubas‘ schreckte man in Moskau zurück.

Die FSLN verpasste es, sich nach dem Sieg über Somoza von einer politisch-militärischen Kadeorganisation zu einer Partei mit breiter Basis und demokratischen Debatten zu entwickeln. Die vertikale Organisationsstruktur der Guerilla wurde auch nach 1979 beibehalten. Unter Demokratisierung verstand man vor allem eine Verbesserung der sozialen Situation der ärmsten Teile der Bevölkerung. Dabei wurden von den SandinistInnen durchaus große Erfolge erzielt, etwa die Programme der Armutsbekämpfung und besonders das Alphabetisierungsprogramm.

Eine aktive Gestaltung des revolutionären Prozesses durch die Bevölkerung sah die Partei jedoch nicht vor. Das war eine vertane Chance, denn nach jahrzehntelanger Diktatur der Somozas gab es ein tiefes Verlangen nach Demokratisierung: Hunderttausende traten in die neugegründeten Massenorganisationen der FSLN ein. Letztlich blieben diese aber an die Direktiven der Parteiführung gebunden. »Nationales Direktorat – befiel!« lautet der Schlachtruf, den FSLN-AnhängerInnen ihrer Führung bei Veranstaltungen entgegenriefen. Der Bürgerkrieg gegen die von den USA unterstützten, rechten Contras verschärfte die ohnehin vorhandenen zentralistischen und militaristischen Tendenzen noch.

Neoliberaler Turn

Der erste landesweite Parteikongress in der Geschichte der FSLN, auf dem programmatische Debatten geführt werden konnten, fand erst 1991 unter dem Schock der verlorenen Wahl statt. De facto führte das Nationale Direktorat die Partei bis dahin ohne demokratische Legitimation, es war der Parteibasis keine Rechenschaft schuldig.

Nach der Niederlage gab sich Ortega verbalradikal und sicherte sich so die weitere Führung über die Partei. »Wir werden das Land von unten regieren«, so seine berühmte Ankündigung. Stattdessen entwickelte sich die FSLN zum wichtigen Bündnispartner der wirtschaftsliberalen Regierung Violeta Chamorros. Der Übergang von Nicaraguas gemischter Wirtschaft zu einer privatwirtschaftlichen Ökonomie, den die neue Präsidentin verfolgte, wäre ohne das Mitwirken der FSLN nicht möglich gewesen. Für die Zustimmung zu einem der umfassendsten Privatisierungsvorhaben im Jahr 1991 gestand man den sandinistischen Gewerkschaften 25 Prozent Anteil an den privatisierten Unternehmen zu.

Bereits nach der Wahlniederlage 1990 hatten FSLN-Kader vor ihrem Abgang dafür gesorgt, dass vormals verstaatlichtes Eigentum von Somoza-AnhängerInnen an sie überging. Aus Guerilla-KämpferInnen waren ImmobilienbesitzerInnen und UnternehmerInnen geworden. Die FSLN sicherte sich so ihr finanzielles Überleben, verstrickte sich aber immer mehr in das neue liberale Entwicklungsmodell, an dessen Profiten sie nun beteiligt war.

Debatten über demokratische Defizite der Partei konnte Ortega durch seine Scheinradikalität und die immer noch militärische interne Parteidisziplin unter Kontrolle bringen. DissidentInnen wie Sergio Ramirez und Ernesto Cardenal wurden wegen »Reformismus« aus der Partei ausgeschlossen, während Ortega sich als Vertreter des linken Flügels inszenierte.

Die Rückkehr zur Macht erfolgte schließlich durch einen Pakt mit dem damaligen Präsidenten Arnoldo Alemán und der Katholischen Kirche. Die FSLN versprach dem in einen massiven Korruptionsskandal verwickelten Alemán Schutz vor Strafverfolgung. Im Gegenzug stimmte Alemáns Partei einer Reform des Wahlrechts zu. PräsidentIn konnte nun werden, wer den ersten Wahlgang mit über 35 Prozent der Stimmen gewann. Gleichzeitig versöhnte sich Ortega mit seinem Erzfeind Kardinal Obando y Bravo, indem er und seine Ehefrau Rosario Murillo öffentlich eine katholische Hochzeit inszenierten und die FSLN im Parlament für ein absolutes Verbot von Abtreibungen stimmte. Obando y Bravo rief daraufhin zur Wahl Ortegas auf.

Die Wirtschaftspolitik der neuen FSLN-Regierung hatte nichts mehr mit den sozialistischen Vorstellungen der ersten sandinistischen Regierung zu tun. Ortega versprach, dass seine Regierung der freien Marktwirtschaft verpflichtet sein werde. Der Internationale Währungsfonds (IWF) lobte die »umsichtigen makroökonomischen Grundsätze« des neuen Präsidenten. Die wirtschaftsliberale Agenda wurde um moderate sozialstaatliche Maßnahmen ergänzt, die das Regime vor allem aus Entwicklungsgeldern finanzierte.

Die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen dienten Ortega zum Aufbau eines umfassenden Klientel- und Patronage-Systems. Regimetreue öffentliche Beschäftigte erhalten etwa monatliche Bonuszahlungen und auf kommunaler Ebene vergüten sogenannte »Räte der Bürgermacht« (CPC) politische Loyalität mit Zuwendungen aus den Anti-Armutsprogrammen der Regierung. Von enormer Bedeutung für dieses System sind die finanziellen Zuwendungen Venezuelas, das jährlich hunderte Millionen Euro überweist. Mit dem Geld hält die Familie Ortega nicht nur das Klientelsystem aufrecht, sondern kaufte nach und nach regimekritische Fernsehsender auf.

Auf autoritäre Weise betrieb das Regime fortan den Aufbau eines de-facto-Einparteienstaats unter Führung Ortegas und seiner Ehefrau. Mittels eines Urteils des Obersten Gerichtshofs ließ er die Verfassungsregelung aufheben, die ihm eine weitere Amtszeit verboten hätte. Ortega kann nun unbegrenzt wiedergewählt werden. Seit den Kommunalwahlen 2008 gehören Wahlbetrug, Stimmenkauf und der Ausschluss oppositioneller Parteien zu den Praktiken des Regimes. Seit dem Wahlbetrug bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2011 kontrolliert die FSLN auch das Parlament mit einer absoluten Mehrheit.

Dennoch blieb das Land stabil. Mitverantwortlich dafür war Ortegas Bündnis mit der Kirche und den UnternehmerInnen, die sich im Gegenzug für die wirtschaftsliberale Politik der Kritik an Ortega enthielten. Auch bei US-InvestorInnen war der Präsident trotz seiner antiimperialistischen Rhetorik stets beliebt. Die Regierung schuf Freihandelszonen, förderte ausländische Direktinvestitionen und ermöglichte durch ihre Kontrolle der Gewerkschaften vor allem der US-Textilindustrie hervorragende Bedingungen.

Der korporatistische Konsens bröckelt

Die exzellenten Beziehungen der Regierung zu Nicaraguas Unternehmertum bei gleichzeitiger Kontrolle der Gewerkschaften brachten letztlich ein korporatistisches Modell hervor. Seit 2014 legt die nicaraguanische Verfassung fest, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen in einem »Bündnis der Regierung mit dem kleinen, mittleren und großen Unternehmertum und den Arbeitern, im permanenten Dialog und Konsenssuche« (Art. 98) erfolgen. Der Unternehmerverband COSEP und die von der FSLN kontrollierten Gewerkschaften gelten der Regierung dabei als einzig legitime Vertretung von ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInneninteressen. Das Unternehmertum zeigte sich zufrieden mit dieser de-facto-Beteiligung an den Regierungsangelegenheiten, während eine unabhängige Arbeiterbewegung verunmöglicht wurde.

Lange sah es so aus, als habe Ortega mit dem breiten Bündnis des korporatistischen Modells eine perfekte Diktatur geschaffen. Nach der aktuellen dreimonatigen Welle der Gewalt gegen die Opposition scheint er sich nun aber mit seinen Bündnispartnern überworfen zu haben. »Ortega hat die Schlacht gewonnen, aber den Krieg verloren«, kommentierte der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez die Lage: »Es gibt kein Zurück zur Situation vor dem 18. April. Er kann weder auf die Unterstützung der Kirche noch der Unternehmen bauen. Und auch nicht auf die Zivilgesellschaft.« Jüngst kündigte Ortega an, 2021 wieder für die Präsidentschaft zu kandidieren. Bis dahin wird er sich, wenn überhaupt, allein mit Gewalt an der Macht halten können.

Wer im Falle eines Sturzes des Regimes an die Regierung kommen könnte, ist offen. Die Protestbewegung ist mehrheitlich jung, studentisch und nicht in politischen Parteien aktiv. Die Oppositionsparteien spielten bei der Organisation der Proteste nur eine geringe Rolle. Auch die von sandinistischen DissidentInnen gegründeten linken Parteien MRS und RESCATE verfügen über keine ausreichende Basis. Die politische Linke kennen die jungen Protestierenden nur in ihrer autoritären Gestalt der Regierung Ortega. Realistisch schätzt die Ex-FSLN-Kommandantin Mónica Baltodano daher ein: »In Nicaragua ist die Bezeichnung »links« deskreditiert, seit sich Ortega und seine Anhänger als links, antiimperialistisch und revolutionär bezeichnet haben«.

Die Solidaritätsbezeugungen, die das Regime noch immer von linken Parteien aus aller Welt bekommt, leisten den Linken in der Oppositionsbewegung hierbei keinen guten Dienst.

 

Nikolas Grimm studierte Politikwissenschaft und Spanisch in Freiburg. Derzeit arbeitet er als freier Journalist in Mexiko-Stadt.