Sexualwissenschaft und rassistische Stereotype

In den letzten Jahren sind gleichstellungs- und geschlechter- und sexualpolitisch deutliche Fortschritte erkennbar: Zum Abbau von Diskriminierungen und zur Förderung von Gleichberechtigung diverser Lebens- und Liebensweisen haben der beharrliche Kampf engagierter Gruppen und die Forschung von Wissenschaftler*innen beigetragen. Zugleich sind aber in der Sexualwissenschaft auch rassistische Tendenzen zu beobachten, wie Heinz-Jürgen Voß kritisiert.

"Rassismus ist die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Entgegen der (bequemen) landläufigen Meinung ist für Rassismus eine ›Abneigung‹ oder ›Böswilligkeit‹ gegen Menschen oder Menschengruppen keine Voraussetzung. Rassismus ist keine persönliche oder politische ›Einstellung‹, sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für weißen Alleinherrschaftserhalt wirken […]."1

Seit etwa 25 Jahren erleben wir in der Bundesrepublik Deutschland gesellschaftliche Veränderungen, die darauf zielen, die Toleranz und Akzeptanz gegenüber geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten zu fördern. Seit etwas mehr als zehn Jahren ist zudem sexualisierte Gewalt in größerem Maß Thema geworden - und zielen nun auch institutionelle Aktivitäten darauf ab, diese zu ächten und Schutzkonzepte für unterschiedliche Zielgruppen zu etablieren.

Diese Veränderungen geschehen rasch und erzeugen Diskussionsbedarf. So trifft es keineswegs auf ungeteilte Zustimmung, dass etwa Homosexualität, die bis zu Beginn der 1990er Jahre im Schulunterricht oft noch als "Störung" oder "Krankheit" thematisiert wurde, nun als eine "normale" Variante sexueller Orientierung betrachtet werden soll. Wer über Jahrzehnte gelernt hat, dass Homosexualität eine "Krankheit" sei, medizinisch behandelt und juristisch geahndet werden müsse, die*derjenige hat Fragen zu der Umbewertung. Diese müssen beantwortet werden. Ähnlich ist es in Bezug auf sexuelle Übergriffe: Hier finden nennenswerte gesellschaftliche Veränderungen insbesondere seit den 2000er Jahren statt. Durch sie werden auch Verhaltensweisen als Übergriffe und sexualisierte Gewalt erkannt, die zuvor nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Erinnert sei etwa daran, dass Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 zum Straftatbestand wurde und der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt erst seit dem Jahr 2010, also seit den Aufdeckungen von langjähriger sexualisierter Gewalt an Internaten, deutlich auf die politische Tagesordnung gerückt ist.

Neben berechtigte gesellschaftliche Diskussionen gesellen sich dabei auch rechte und rechtsextreme Positionierungen, die sich für ein Vorrecht des Mannes gegenüber der Frau einsetzen und Heterosexualität als einzige legitime und institutionell zu fördernde Variante der sexuellen Orientierung befördern wollen. Die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist für solche Positionen ein Kulminationspunkt, sie reichen aber ebenfalls Jahrzehnte zurück.

Die gesellschaftliche Etablierung von Toleranz, Akzeptanz und Achtsamkeit fällt zusammen mit der Herausbildung eines neuen nationalen "Wir" seit der Vereinigung der BRD und der DDR. In den verbreiteten Wendeerinnerungen tauchen bislang die Beschreibungen Schwarzer und jüdischer Menschen kaum auf, die von einer massiven Verschlechterung ihrer Situation schreiben2 - immerhin werden die Pogrome mittlerweile thematisiert und seit diesem Sommer wird auch im größeren gesellschaftlichen Rahmen darüber gesprochen, dass Deutschland ein Problem mit Rassismus hat. Bislang wurde der analytische Begriff des Rassismus in Deutschland oft gemieden, wenn sich die Politik oder der Journalismus der großen Qualitäts- und Boulevardmedien mit Übergriffen gegen People of Color auseinandersetzten - stattdessen wurden die Begriffe "Ausländerfeindlichkeit" oder "Fremdenfeindlichkeit" genutzt, die Taten einer kleinen Gruppe - Neonazis - zugeschrieben, womit sich das Problem für die breite Gesellschaft erledigt hatte. Wie Rassismus die deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen durchzieht, konnte so nicht erfasst und er konnte so nicht wirksam bekämpft werden.

So beginnen jetzt auch erst zögerlich Betrachtungen zu Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik, wie sie, aufbauend auf kolonial gewachsenem "Wissen", People of Color als "Sondergruppe" gefasst und mit Stereotypen belegt hat. Es gebe bei ihnen in besonderem Maße "patriarchalische Familien- und Wertvorstellungen", Abwertungen gegenüber Frauen und sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten sowie sexuelle (sexualpädagogische) Hilfsbedarfe - Zuschreibungen, wie sie sich schon im deutschen Kolonialismus zeigen, der wiederholt so begründet wurde, dass durch weiße Männer und Frauen die Schwarzen Frauen in den kolonisierten Gebieten vor den Schwarzen Männern "gerettet" werden müssten. Gerade die Sexualpädagogik hat dabei ihre eigenen Prämissen aus dem Blick verloren: Ihr geht es eigentlich darum, die Teilnehmenden jeder sexualpädagogischen Veranstaltung als heterogen wahrzunehmen, ihre jeweiligen Ressourcen in die Veranstaltung einzubeziehen, Bedarfe zu eruieren - und für die Bearbeitung der Themen produktiv die verschiedenen Erfahrungen und Wissensbestände der Teilnehmenden zu nutzen. Das kann nicht passieren, wenn sich stereotype Bilder von einer Personengruppe festgesetzt haben.

Rassistische Vorurteile in verbreiteten Untersuchungen und Publikationen3

In diesem Abschnitt wird auf einige Studien eingegangen, die in Bezug auf Geschlecht und Sexualität von als migrantisch zugeschriebenen Menschen große mediale Aufmerksamkeit erfahren haben. Sie wurden - und werden trotz mittlerweile massiver Kritiken - auch in explizit sexualpädagogischen und sexualwissenschaftlichen Arbeiten oft rezipiert.

"Simon-Studie": In der Untersuchung von Bernd Simon "Einstellungen zur Homosexualität: Ausprägungen und psychologische Korrelate bei Jugendlichen ohne und mit Migrationshintergrund" (2008)4 zeigten sich bereits in den zu Grunde gelegten Hypothesen Vorannahmen, die durchweg negativ gegenüber Jugendlichen mit russischem oder türkischem Migrationshintergrund ausfielen. Ihnen wurden "Religiosität" und eine größere "Akzeptanz traditioneller Männlichkeitsnormen" zugeschrieben und daraus folgernd mehr "homosexuellenfeindliche" Einstellungen. Damit unterschieden sie sich von der weiß-deutschen Gesellschaft, die zunehmend "homosexuellenfreundlich" sei. Es wird in der Studie also nicht nach einem traditionelleren oder liberaleren Elternhaus, wie es alle Jugendlichen betreffen kann, gefragt, sondern den Jugendlichen mit aus Russland oder der Türkei stammenden Eltern oder Großeltern (88% der Jugendlichen "mit Migrationshintergrund" waren in Deutschland geboren) wird per se mehr Traditionsverhaftung zugeschrieben, als sie bei Jugendlichen mit "deutschen Ahnen" festzustellen sei. Immerhin gab auch Simon an, dass es sich nicht um eine repräsentative Untersuchung handle - dennoch erhielt sie breite Aufmerksamkeit und prägt insbesondere populäre Diskurse bis heute.5

"Pfeiffer-Studie": Eine zweite notwendigerweise kritisch diskutierte Studie ist die von Dirk Baier, Christian Pfeiffer u.a. im Kontext des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. durchgeführte Untersuchung "Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt" (2010/2011)6. Im Kontext unserer Fragestellung besonders problematisch ist, dass die Interviewten kulturalistisch und biologistisch vorsortiert wurden und dann unterschiedliche Fragebögen erhielten. Aus einer Kritik der Publizisten Koray Yýlmaz-Günay und Salih Alexander Wolter (2010) wird das ganze Ausmaß der durch die Methode hergestellten Verzerrung deutlich:

"Beantworten sollen [die Jugendlichen, die als "mit Migrationshintergrund" einsortiert wurden, Anm. HV] Fragen wie diese: ›Wie oft wurdest du in den letzten zwölf Monaten, weil du kein Deutscher bist, unhöflich behandelt?‹ Weil du kein Deutscher bist. Wer durchgehend so adressiert wird und schließlich bei Frage 90 des Bogens für ›Nicht-Deutsche‹ ankreuzt, dass er sich ›Deutschland verbunden‹ fühlt, muss etwas begriffsstutzig sein - offenbar ein Indikator für gelingende Integration."7

Aus der Studie wird deutlich, dass Dirk Baier, Christian Pfeiffer und ihre Kolleg*innen nicht in der Lage oder gewillt sind, "deutsch" so aufzufassen, dass nicht nur Personen mit "deutschen Ahnen" gemeint sind.

"Zwangsverheiratungen in Deutschland": Die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch die Lawetz-Stiftung, das Büro für Sozialpolitische Beratung und in Kooperation mit Terre des Femmes durchgeführte Untersuchung "Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen" (2011)8 baut nicht weniger manipulativ auf weiß-deutschen Vorurteilen auf. In dieser Studie wurden nicht etwa Personen befragt, die von "Zwangsheirat" bedroht oder betroffen sind, sondern die Fachkräfte in Beratungs- und Schutzeinrichtungen. Gleichzeitig sehen sich die Berater*innen bevollmächtigt und autorisiert, "die Heiratsverhältnisse der Beratungssuchenden nach ihren eurozentrischen Vorstellungen als Zwangsverheiratung zu definieren und somit eine Definitionsmacht zu besitzen"9. Die Perspektive der Ratsuchenden taucht in der Studie nicht auf. Zugleich wird Zwangsverheiratung als nicht aus Deutschland stammendes Phänomen aus der Bundesrepublik ausgelagert und insbesondere islamischer Religion in "Herkunftsländern" zugeschrieben.10 Dass es gerade in Deutschland Zwänge gibt, anders- bzw. gleichgeschlechtliche Ehen zu schließen, um den legitimen Aufenthalt zu sichern, bleibt in der Studie gänzlich aus dem Blick. Nicht bedacht wird etwa, dass eine solche eheliche/eheähnliche Gemeinschaft "eine bis ins antike Extrem einer hausväterlichen Gewalt über Leben und Tod gesteigerte Abhängigkeit für den ausländischen Partner bedeutet", insofern der (oder die) "deutsche Massa" "seineN ausländischeN GeliebteN jederzeit mit Beendigung der Beziehung und also mit sofortiger Abschiebung durch die deutsche Exekutivgewalt bedrohen" kann.11 Statt der Auseinandersetzung wird durch solche Art der Forschung und daran anknüpfende gesetzliche Regelungen die notwendige gesellschaftliche Debatte, wie in Deutschland bestehende Zwangskontexte in ehelichen Gemeinschaften verringert werden könnten, unterbunden - das Problem Zwangskontexte und Gewalt in Ehen wird in andere Staaten ausgelagert.

LSVD-Studie und MANEO-Studien: Die vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland in Auftrag gegebene Studie Doppelt diskriminiert oder gut integriert? Zur Lebenssituation von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund12, die von Melanie Steffens durchgeführt wurde, nimmt ebenfalls klare Zuschreibungen und Bewertungen vor. So geht sie davon aus, dass Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund einen "Spagat zwischen unterschiedlichen kulturellen Subgruppen mit unvereinbaren Wertesystemen"13 unternehmen müssten. Die Studie ist so angelegt, die Situation in Deutschland als positiv und "homosexuellenfreundlich" auszuweisen, hingegen den Migrationshintergrund als damit unvereinbar darzustellen. Dennoch erscheinen die Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund in einem positiven Licht, da sie sich durch ihre Homosexualität als "modern" auswiesen; heterosexuellen Jugendlichen mit gleichem Migrationshintergrund werden hingegen eine Gegensätzlichkeit - als patriarchal und traditionell - zu ihnen zugeschrieben. Wird von Steffens das Coming-out als lesbisch oder schwul als "Goldstandard" gelingenden Lebens und gelingender Integration entwickelt14, so holt die Autorin die bei den Befragten mit Migrationshintergrund, im Kontrast zu Lesben und Schwulen ohne Migrationshintergrund, festgestellte größere Lebenszufriedenheit wieder negativ ein. Denn diese könne durch ein späteres Coming-out bedroht sein. "Migrationshintergrund" wird in der Studie einzig als ein "Risikofaktor" entwickelt - und direkt so benannt (vgl. Çetin/Tas 2014).15

Die MANEO-"Studien" sollen hier nur angeführt sein, da auch auf sie medial verschiedentlich verwiesen wurde. Es handelt sich dabei aber um keine auch nur ansatzweise als wissenschaftlich einzuordnende Arbeiten. Vielmehr waren es - auch für Manipulationen - offene Online-Umfragen. Gleichzeitig unternahm das vermeintliche "Opfertelefon" MANEO vieles, um Menschen mit Migrationshintergrund öffentlich als besonders bedrohlich für Lesben und Schwule darzustellen, obwohl nicht einmal die eigenen Daten einen solchen Zusammenhang erhärteten.16 Verlässliche Angaben über homo- und transfeindliche, rassistische und antisemitische Übergriffe in Berlin liefert das Projekt ReachOut (http://www.reachoutberlin.de).

Auch in Bezug auf Einführungsbücher zur Sexualpädagogik zeigt sich das Interesse der Sexualwissenschaftler*innen und Sexualpädagog*innen, die interkulturelle Kompetenz zu stärken und eigene Arbeiten weiterzuentwickeln. So ist etwa in der aktuellen Ausgabe "Einführung in die Sexualpädagogik"17 der problematische Begriff (und die Zuschreibung) "Gastland" entfallen, der in einer früheren ähnlichen Ausgabe18 noch enthalten war und im Kontext von Jugendlichen verwendet wurde, die selbst in der Regel in Deutschland geboren sind. Dennoch sind auch die neueren Ausführungen noch von einer besonderen Problematisierung einer vermeintlichen "Herkunftskultur" und dem als Kontrast dargestellten Zerrbild eines "modernen", emanzipatorischen Deutschland geprägt - obwohl die Darstellungen auf das Gegenteil zielen wollen. Im Folgenden betont Uwe Sielert insbesondere die sich in den sexualwissenschaftlichen Studien zeigenden Ähnlichkeiten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Dennoch erscheinen Jugendliche mit Migrationshintergrund als durch eine ihnen zugeschriebene "Herkunftskultur" "gefährdet", wogegen die deutsche Dominanzkultur als erstrebenswert, emanzipatorisch, als "postmodern" offen präsentiert wird. Bei Betrachtung von Ausarbeitungen aus der Schwarzen deutschen Frauenbewegung und insgesamt von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen of Color in Deutschland ist die in den sexualpädagogischen Einführungsbänden beschriebene Sicht nicht haltbar.19

Die Studien und Broschüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben häufig weitreichenden Einfluss und sollen hier ebenfalls betrachtet werden. Zentral für die Perspektiven auf Migration sind die Veröffentlichungen Sexualität und Migration: Milieuspezifische Zugangswege für die Sexualaufklärung Jugendlicher 20 und Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe in der Sexualaufklärung und Familienplanung21. Aus der Studie der BZgA (2010) geht hervor, dass das Verhalten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in weiten Teilen mit den gesamtgesellschaftlichen Daten übereinstimmt - etwa bezogen auf das Freizeitverhalten22 und (gleichberechtigte) Partnerschaft23. Dabei wird deutlich, bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund wie in der Gesamtpopulation, dass etwa unterschiedliche Zugänge zu Bildung Auswirkungen auf den Umgang mit Sexualität und das Verhütungsverhalten haben - z.B. die Verhütungsverantwortung mit besseren Bildungsmöglichkeiten zunimmt.24 Das lässt den Schluss zu, dass es auch sexualpädagogisch vor allem darum gehen sollte, Bedingungen zu schaffen, in denen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund guten Zugang zu (höherer) Bildung haben.25 Dennoch reproduziert auch die Studie der BZgA (2010) das Bild der problematischen "Herkunftskultur" von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Gegensatz zur "emanzipatorischen" Dominanzkultur. Entsprechende Aussagen erschließen sich nicht mit Blick auf die Daten, die die BZgA (2010) selbst erhoben hat. Zugleich weichen sie vom grundlegend offenen sexualpädagogischen Herangehen ab, das Kinder und Jugendliche gerade als Individuen mit persönlichen Erfahrungen und individuellen Ressourcen betrachtet. Sexualpädagogisch geht man in die verschiedenen Gruppenkontexte und guckt erst einmal danach, welche Fragen es gibt und beantwortet werden sollen. Und stellt man etwa ein "Macho-Gehabe" unter den Jugendlichen ohne oder mit Migrationshintergrund fest, so hat man professionell Übungen an der Hand, um diese zu bearbeiten. Die Broschüre der BZgA wendet hingegen einen rein defizitorientierten Blick an. So wird ein Bild männlicher Jugendlicher gezeichnet, demzufolge migrantische Jugendliche in besonderem Maß "Botschaften für Gleichheit von Mann und Frau" (ebd.) erhalten müssten. Mädchen sollten "am besten außerhalb des Elternhauses" (ebd.) für Sexualaufklärung erreicht werden, also in der Schule und über Online- und weitere Medien.

Handlungsempfehlungen für reflektierte, intersektional interessierte Studien

Wie Studien entwickelt werden können, um den komplexen Lebensrealitäten Befragter Rechnung zu tragen, zeigt sich in den von LesMigraS durchgeführten Untersuchungen zu Mehrfachdiskriminierungen aus den Jahren 2010 und 2012. LesMigraS formuliert das zentrale Ziel der Studie 2012 wie folgt:

"Doch geht es bei der Studie nicht nur darum, die Normalisierung von Gewaltpraxen gegenüber Menschen mit nichtnormativen Genderidentitäten und sexuellen Orientierungen zu verdeutlichen, sondern eben auch darum, zu zeigen, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen zusammenspielen und auch darum, die Widerständigkeit nicht-normativer Subjekte aufzuzeigen. Die ›leisen Stimmen‹ einzufangen ist ein geradezu klassisches Anliegen engagierter sozialer Praxis."26

Saideh Saadat-Lendle und Zülfukar Çetin27 fassen die Punkte, die die Untersuchungen von LesMigraS auszeichnen und die auch für sexualwissenschaftliche Forschungen bedeutsam sind, zusammen. So ist es für Studien wichtig,

  • "zu zeigen, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen, z.B. Rassismus, Homophobie, Transphobie, Klassismen, Behinderungs- sowie Altersdiskriminierung zusammenspielen und miteinander verwoben sind;
  • den Interessen, Bedürfnissen und Problemen mehrfachzugehöriger Menschen gleichgeschlechtlicher und transgeschlechtlicher Lebensweise Aufmerksamkeit zu schenken;
  • die Ressourcen, die Widerständigkeit und das Engagement von (mehrfachzugehörigen) lesbischen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Menschen gegen Gewalt und Diskriminierung [zu beachten und wertzuschätzen];
  • die Thematisierung von Gewalt gegen und Diskriminierung von Trans*Menschen sowie die Entwicklung von Strategien zu deren Bekämpfung explizit [zu erforschen];
  • nicht nur Gewalt- sondern auch Diskriminierungserfahrungen in den Vordergrund [zu stellen] und diese nicht hauptsächlich auf individualisierte körperliche Gewalt, die im öffentlichen Raum ausgeübt wird, [zu reduzieren], sondern psychische und verbale Gewalt ebenso wie Mobbing sowie staatliche Gewalt und Diskriminierung [zu thematisieren];
  • sich nicht auf Einstellungsabfragen und auf die Bildung eines Profils über Täter_innengruppen [zu konzentrieren] und insbesondere die Konstruktion von polarisierenden und stereotypisierenden Bildern von aufgeklärten Deutschen vs. homophoben Migrant_innen [zu vermeiden]"28

Daran anschließend lassen sich weitergehende Anforderungen für sexualwissenschaftliche Studien und die sexualpädagogische Arbeit formulieren - siehe hierzu: Voß (2018)29. Zentrale Kompetenzträger*innen im Themenfeld sind bei den entsprechenden Vereinen und Initiativen zu finden: GLADT (http://www.gladt.de), LesMigraS (http://www.lesmigras.de) und I-Päd (http://www.i-paed-berlin.de). Sie haben gerade den Fokus auf der Verschränkung von Rassismus, Geschlechter- und Klassenverhältnissen und berücksichtigen dabei auch die Bedeutung von Sexualität in der individuellen Entwicklung des jeweiligen Menschen und dies vor dem Hintergrund der Kenntnis sexueller Stereotype, wie sie seit dem europäischen Kolonialismus aufgekommen und mit dem Rassismus verbreitet worden sind.

Anmerkungen

1) Noah Sow, zit. nach: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.) 2011: Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: 37.

2) Vgl. Heinz-Jürgen Voß / Salih Alexander Wolter 2013: Queer und (Anti-)Kapitalismus, Stuttgart: 15-20; 130-133.

3) Die folgenden Ausführungen stellen eine gekürzte und fokussierte Fassung von Heinz-Jürgen Voß 2018 (in Druck): "Rassismus überwinden: Ein Umdenken in sexualwissenschaftlicher Forschung ist erforderlich", in: Daniele Heitzmann / Kathrin Houda (Hg.): Rassismus an Hochschulen: Analyse - Kritik - Intervention, Weinheim dar.

4) Bernd Simon 2008: "Einstellungen zur Homosexualität: Ausprägungen und psychologische Korrelate bei Jugendlichen ohne und mit Migrationshintergrund (ehemalige UdSSR und Türkei)". Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie

5) Vgl. Zülfukar Çetin / Savas Tas 2014: "Kontinuitäten einer Kooperation: Antimuslimischer Rassismus in Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Staat" in: Farid Hafez (Hg.): Jahrbuch für Islamophobieforschung, Wien: New Academic Press: 19-41; hier: 26-30.; Saideh Saadat-Lendle / Zülfukar Çetin 2014: "Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen", in: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung, Bielefeld: 233-250; hier: 240f.

6) Dirk Baier, Christian Pfeiffer u.a. 2010/2011: Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt.

7) Koray Y ı lmaz-Günay / Salih Alexander Wolter 2010: "Wer darf Deutscher sein?", in: Ossietzky 23/2010. Online: http://salihalexanderwolter.de/weil-du-kein-deutscher-bist/ (Zugriff: 10.8.2018).

8) Dr. Thomas Mirbach (Lawaetz-Stiftung), Torsten Schaak (Büro für Sozialpolitische Beratung), Katrin Triebl (Lawaetz-Stiftung) unter Mitarbeit von Christin Klindworth (Lawaetz-Stiftung), Sibylle Schreiber (TERRE DES FEMMES e.V.) 2011: Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen; Kurzfassung online unter: https://www.bmfsfj.de/blob/95584/d76e9536b0485a8715a59100470 66b5d/zwangsverheiratung-in-deutschland-anzahl-und-analyse-von-beratungsfaellen-data.pdf (Zugriff: 15.08.2018).

9) Zülfukar Çetin / Savas Tas 2014 (siehe Fn. 5): 38.

10) Ebd.: 37-39.

11) Georg Klauda 2000: "Vernunft und Libertinage", in: Ilona Bubeck (Hg.): Unser Stück vom Kuchen? Zehn Positionen gegen die Homo-Ehe, Berlin: 43-56; hier: 52.

12) Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (Hg.) 2010: Doppelt diskriminiert oder gut integriert? Zur Lebenssituation von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund, Köln.

13) Nach Zülfukar Çetin / Savas Tas 2014 (siehe Fn. 5): 31; Hervorhebung HV

14) Kritisch dazu: Zülfukar Çetin / Heinz-Jürgen Voß 2016: Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität: Kritische Perspektiven, Gießen.

15) Zülfukar Çetin / Savas Tas 2014 (siehe Fn. 5): 30-32

16) Vgl. Ralf Buchterkirchen 2007: Opfertelefon auf Feindbildsuche. Online: https://verqueert.de/opfertelefon-auf-feindbildsuche/ (Zugriff: 10.8.2018); Norbert Blech 2009: Maneo-Umfrage gezielt manipuliert? Online: http://www.queer.de/detail.php?article_id=10906 (Zugriff: 10.8.2018); Salih Alexander Wolter 2011: "Ist Krieg oder was? Queer Nation Building in Berlin-Schöneberg", in: Koray Y ı lmaz-Günay (Hg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre "Muslime versus Schwule", Berlin: 15-24. Online: http://salihalexanderwolter.de/70/  (Zugriff: 10.8.2018).

17) Uwe Sielert 2 2015: Einführung in die Sexualpädagogik, Weinheim.

18) Renate-Berenike Schmidt / Uwe Sielert 2012: Sexualpädagogik in beruflichen Handlungsfeldern, Köln: 28.

19) Vgl. als Zugang: Katharina Oguntoye / May Ayim [Opitz] / Dagmar Schultz 1997 [EA 1986]: Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Frankfurt/Main; Zülfukar Çetin / Savas Tas (Hg.) 2015: Gespräche über Rassismus - Perspektiven und Widerstände, Berlin.

20) BZgA 2010: Sexualität und Migration: Milieuspezifische Zugangswege für die Sexualaufklärung Jugendlicher, Köln.

21) BZgA 2011: Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe der Sexualaufklärung und Familienplanung, Köln.

22) BZgA 2010 (siehe Fn. 20): 19.

23) Ebd.: 32f.

24) Ebd., 34-36.

25) Vgl. auch Torsten Linke 2015: Sexualität und Familie: Möglichkeiten sexueller Bildung im Rahmen erzieherischer Hilfen, Gießen: 90.

26) LesMigraS 2012: "…Nicht so greifbar und doch real" - Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland, Berlin. Online: http://www.lesmigras.de/tl_files/lesbenberatung-berlin/Gewalt%20(Dokus,Aufsaetze…)/Dokumentation%20Studie%20web_sicher.pdf: 12 (Zugriff: 10.8.2018).

27) Saadat-Lendle/Çetin 2014 (siehe Fn. 5).

28) Nach: Saadat-Lendle/Çetin 2014 (siehe Fn. 5): 242f.

29) Voß 2018 (siehe Fn. 3).

Heinz-Jürgen Voß hat eine Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg inne. Kontakt: http://www.heinzjuergenvoss.de.