Der türkische Diktator auf Staatsbesuch

Erdoğan vor Problemen im eigenen Land

Recep Tayyip Erdoğan wird vom 27. Bis 29. September die Bundesrepublik besuchen. Derweil geraten im eigenen Land die Wirtschaft und die Gesellschaft immer tiefer in die Krise. Die Preise steigen weiter und die Lira verliert beständig an Wert. Ein Riss geht durchs Land.

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden mehr als 77.000 mutmaßliche Gülen-Anhänger*innen festgenommen, darunter neben Soldaten auch Lehrer*innen und Richter*innen. 140.000 weitere wurden aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert. Der seit dem Putschversuch geltende Ausnahmezustand wurde erst im Juli aufgehoben.

Während die einen die Durchhalteparolen Erdoğans nachbeten, versuchen die anderen resigniert ihren Alltag in den Griff zu bekommen. Auch der türkische Unternehmerverband fordert umfassende Reformen. Um im 21. Jahrhundert bestehen zu können, müssten u.a. der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem modernisiert werden.

Durch den Wirtschaftskurs des Präsidenten ist die Türkei in eine tiefe Krise geschlittert. Die Sanktionen von Trumps USA stürzen das Land noch tiefer in die Währungskrise. Auslöser der Auseinandersetzung zwischen der Türkei und den USA ist der in der Türkei inhaftierte US-Pastor Andrew Brunson. Die Schuld an den unübersehbaren wirtschaftlichen Problemen gibt der türkische Finanzminister Berat Albayrak der US-Regierung. Er wolle sie zum Anlass nehmen, »um mit Deutschland gegen Protektionismus, der dem Welthandel schadet, vorzugehen«. Der Minister versicherte: »Wir halten viel von Deutschland.«

Die neuerdings weniger konfrontative Einstellung der türkischen Regierung gegenüber der EU und Deutschland hat einen spezifischen Hintergrund. Sowohl die Regierung der Türkei als auch die Bundesregierung wollen eine Normalisierung der Beziehungen beider Länder erreichen. Diese sind seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vor zwei Jahren angespannt. Zur Verschlechterung der Beziehungen hat auch die Verhaftung von mehr als 30 deutschen Staatsbürger*innen beigetragen. Nach wie vor sind sieben Deutsche und Zehntausende Türk*innen aus politischen Gründen in dem Land inhaftiert, darunter viele Journalist*innen und Intellektuelle.

 

Neues Wirtschaftsprogramm soll die Wende bringen

Vor dem Deutschland-Besuch Erdoğans hat der türkische Finanzminister ein Wirtschaftsprogramm vorgestellt und die Bekämpfung der hohen Inflation zum Schlüsselpunkt erklärt. Die Regierung will die Preissteigerungsrate bis 2021 schrittweise auf 6% senken. Aktuell müssen die türkischen Konsumenten 17,9% mehr als vor einem Jahr für ihre Einkäufe bezahlen. Damit hat die Inflation nach dem dramatischen Wertzerfall der türkischen Lira im vergangenen Monat den höchsten Stand seit 2003 erreicht. Die massive Abwertung der Lira hat den ohnehin belastenden Anstieg der Preise für Rohstoffimporte noch verstärkt. Aber auch Lebensmittel sind im Schnitt fast 20% teurer geworden.

Finanzminister Albayrak verspricht die Wende: »Wir werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen um sicherzustellen, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwunden werden.« Konkrete Schritte werden allerdings nicht vorgestellt. Die Lira verliert seit Monaten an Wert. Vor kurzem hatte die türkische Zentralbank den Leitzins überraschend stark um 6,25 Punkte auf 24% angehoben, um die Währung zu stützen. Der Kurs erholte sich danach leicht, hat aber inzwischen wieder nachgegeben.

Erdoğan, der ein Gegner hoher Zinsen ist, hatte die Entscheidung der Zentralbank scharf kritisiert. Unter seinem Einfluss hat die Zentralbank bisher entgegen allen ökonomischen Gewissheiten darauf verzichtet, die steigenden Inflationsraten mit einer Erhöhung des Leitzinses zu bekämpfen. Trotz schwächelnder Landeswährung bestreitet der Präsident die Interpretation, es handele sich um Symptome einer Wirtschaftskrise. »Das ist alles nur Manipulation. Wir haben keine Krise oder dergleichen… So Gott will, werden wir unseren Weg gestärkt weitergehen, und wir werden noch stärker werden.«

Die Konsequenz der Operation der Notenbank sind steigende Zinsen für Investments, für Investoren aus dem Ausland gewinnt das Land damit grundsätzlich an Attraktivität. Gleichzeitig steigen auch Zinsen für Kredite, etwa wenn Unternehmen Geld für neue Investitionen brauchen. Im schlimmsten Fall sorgt ein solcher Zinsschritt dafür, dass das Wirtschaftswachstum komplett abgewürgt wird, weil neue Investitionen zu teuer werden. Zwar wirft die Notenbank weiterhin Devisenreserven auf den Markt, um die Lira zu stabilisieren. Diese Reserven – derzeit knapp 80 Mrd. US-Dollar – liegen in der Türkei aber seit Jahren auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau und sind daher bald aufgebraucht.

Auch die verbalen Interventionen, mit denen die Zentralbank ihre schwache monetäre Feuerkraft zu kompensieren versucht, überzeugen die Finanzmärkte nicht. Weiterhin ist unklar, wer in der Geldpolitik überhaupt das Sagen hat: die Notenbank oder Präsident Erdoğan. Seine Geduld habe Grenzen, wetterte letzterer gegen die Zinserhöhung von Mitte September 2018. Entsprechend groß bleibt die Verunsicherung der Investoren. Die Lira setzt daher ihren Sinkflug fort.

Laut einem Dekret des Staatspräsidenten sollen Geschäftsverträge zwischen in der Türkei lebenden Menschen nur noch in türkischer Lira und nicht mehr in anderen Währungen wie Euro oder US-Dollar abgeschlossen werden. Außerdem legt das Dekret fest, dass diese Verträge innerhalb von 30 Tagen auf Lira umgestellt werden müssen. Die neue Maßnahme umfasst zahlreiche Bereiche des Geschäftslebens.

Wie aus dem Dekret weiter hervorgeht, sind alle Arten von Immobiliengeschäften, darunter auch Mieten, betroffen. Zuletzt hatte es wegen des enormen Kursverfalls der türkischen Lira eine starke Nachfrage aus dem Ausland nach Immobilien in der Türkei gegeben. Darüber hinaus sind auch Verträge aus dem Transportbereich und Finanzdienstleistungen sowie weitere Vertragsarten betroffen. Die türkische Führung bemüht sich außerdem, Investitionen aus dem Ausland ins Land zu holen, um die Lira zu stützen.

Die bittere Konsequenz: Die Inflation wird vorerst weiter steigen, auf 20,8% bis zum Ende des Jahres. Und das Wachstum der wird sich halbieren: auf 3,8%. Die türkische Regierung rechnet 2019 nur noch mit einem Plus von 2,3%. Bisher war das Land von durchschnittlich 5,5% ausgegangen. Erst in den Jahren 2020 und 2021 soll es den Schätzungen zufolge wieder aufwärts gehen. Im vergangenen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt der Türkei noch um 7,4%. Die OECD geht für dieses Jahr sogar nur von 3,2% aus.

Die Türkei muss in den kommenden zwölf Monaten Kredite in Höhe von 118 Mrd. US-Dollar (100 Mrd. Euro) ablösen. Davon entfallen u.a. 15% auf staatliche und 44% auf private Banken. Einige der Institute in der Türkei haben ihre Verbindlichkeiten mit Gold hinterlegt. Sollten sie bis zur Fälligkeit der Kredite keine ausreichende Dollar-Liquidität auftreiben, müssen sie ihr hinterlegtes Edelmetall verkaufen. Die Folge: Die Reserven sinken weiter und die Krise spitzt sich weiter zu.

Die türkischen Goldreserven sind innerhalb weniger Wochen um rund ein Fünftel gefallen. In Zeiten einer Lira-Krise könnte Gold eigentlich für mehr Stabilität und Vertrauen sorgen. Und tatsächlich sind die Edelmetallreserven in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, um sich gegen eine schwächelnde Währung abzusichern. Doch offensichtlich ist die Krise inzwischen so gravierend, dass viele Akteure in Panik ihr Gold verkaufen müssen, um die nötige Dollar-Liquidität zu schaffen.

Vor allem Privatbanken haben sich im großen Stil vom Edelmetall getrennt. Seit Mitte Juni haben sie Gold im Volumen von 4,5 Mrd. US-Dollar verkauft. Die geringeren Auflagen haben die Banken umgehend genutzt und ihr bei der Zentralbank gelagertes Gold verkauft, um Liquidität für schwierige Zeiten zu schaffen. Vor dem Hintergrund des Lira-Verfalls schichten die Geschäftsbanken in liquidere Anlagen um.

Im Mittelpunkt von Erdoğans Wirtschaftspolitik steht die Förderung des Wachstums um jeden Preis, selbst auf Kosten der Preis- und Währungsstabilität. Die einseitige Wirtschaftspolitik, die autoritäre Staatsführung und die steigenden US-Zinsen führen dazu, dass die Kapitalzuflüsse in die Türkei stark zurückgehen. Da sich der Präsident lange Zeit gegen angemessene Zinserhöhungen stemmte, steigt mit den Preisen und Fehlentwicklungen die Nervosität der Bürger*innen. Sie fürchten den Kollaps heimischer Banken und heben ihre Devisenguthaben ab, um einen Teil davon ins Ausland zu transferieren. Noch werden sie durch Appelle des Präsidenten dazu angehalten, die türkische Währung zu stärken. Weil diese präsidentiellen Aufrufe mehr und mehr folgenlos bleiben, ist nicht auszuschließen, dass der Zugang zu Devisen und die Überweisung dieser Gelder ins Ausland letztlich limitiert werden.

Firmen und Bürger*innen hätten dann keinen freien Zugriff mehr auf ihre Vermögen. Diese Entwicklung, die auf Kapitalverkehrskontrollen, staatliche Beschränkungen des Finanzmarktes und eine Isolierung der türkischen Wirtschaft hinausläuft, kann nicht ausgeschlossen werden.

 

Ambitionierte Infrastruktur-Projekte auf der Kippe

Es gibt kritische Anzeichen für die öffentlichen Infrastrukturprojekte. Die Banken werden seit Jahren dazu angehalten, die Wirtschaft mit billigen Krediten zu versorgen, um die Produktion zu steigern und das Wachstum hoch zu halten. Mit der Zunahme der Kreditvolumina steigen die Kreditrisiken bei den Banken. Verschärft wird dieses Problem durch eine stark prozyklische Finanzpolitik. So forciert Erdoğan ambitionierte Infrastrukturprojekte, etwa einen dritten Istanbuler Flughafen oder einen zweiten Kanal parallel zum Bosporus.

Die Baustelle des Flughafens, die größte, die es in der Türkei je gab, gleicht seit Kurzem einem Arbeitslager in einem totalitären Staat. Auf dem gesamten Baugelände und in den Arbeiterquartieren sind Soldaten der Gendarmerie und Aufstandspolizisten mit Panzerfahrzeugen aufgezogen. Sie kontrollieren seitdem das Heer Tausender Beschäftigter nördlich der Metropole am Schwarzen Meer. Immer mehr Arbeiter*innen schlossen sich dem Streik an, während die Regierung in Ankara versuchte, die Berichterstattung darüber weitgehend zu unterbinden. Der mit diktatorischen Vollmachten regierende Präsident kann Streiks überhaupt nicht gebrauchen.

Die Reaktion auf eine beispiellose Arbeiterrebellion bei dem ambitionierten Prestigeprojekt sind Tränengaseinsätze seitens der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Proteste. Die Arbeiter streiken gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen – türkische Medien hatten wiederholt berichtet, dass es auf der riesigen Baustelle im Norden Istanbuls bereits zahlreiche tödliche Arbeitsunfälle gegeben habe – und miserable Wohnverhältnisse. Die rund 35.000 Arbeiter*innen stehen zudem unter großem Druck, den Flughafen bis Ende Oktober fertigzustellen, wenn er offiziell in Betrieb gehen soll.

Die Finanzkrise der Türkei ist so gravierend, dass Erdoğan alle geplanten öffentlichen Großbau-Investitionen vorerst einfrieren ließ. Den Aufstand auf seiner Prestigebaustelle hält er für eine Verschwörung des Auslands. Rund 400 Extremisten hätten die Arbeiter*innen auf Befehl von EU-Staaten aufgehetzt, um den Erfolg des Flughafens zu sabotieren, schrieb sein Berater Ilnur Cevik in der Zeitung »Yeni Birlik«. Andere regierungsnahe Medien bezeichneten die Streikenden als »Terroristen«, die von »deutschen Agenten« aufgestachelt würden.

Die beteiligten Gewerkschaften haben sich auf gemeinsame Forderungen verständigt. Sie verlangen neben einer Verbesserung der Unterkünfte auch einen Ausbau der ärztlichen Versorgung. Vor allem aber fordern sie die Verbesserung der Arbeitssicherheit und die Auszahlung ausstehender Arbeits- und Überstundenlöhne. Die größte Oppositionspartei, CHP, verlangt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um die »ungesetzliche Praktiken« und »die wahre Zahl der Todesfälle« auf der Großbaustelle zu ermitteln.