Trübungen im Regenbogen - 25 Jahre nach der politischen Wende

 

1994 waren viele SüdafrikanerInnen in Feierlaune. Die Apartheid wurde offiziell abgeschafft, Nelson Mandela als erster demokratisch gewählter Präsident vereidigt. 25 Jahre später ist die Aufbruchstimmung Enttäuschungen gewichen. Armut, Ungleichheit und Gewaltstrukturen prägen das Land weiterhin. Diese Probleme erfordern differenzierte Analysen und umfassende Gegenstrategien, wie südafrikanische ForscherInnen und AktivistInnen erläutern.

»Südafrika ist wie ein Mikrokosmos, hier lassen sich weltweite Strukturen besonders deutlich erkennen.« Mit dieser Einschätzung bringt der Jurist und Menschenrechtsexperte Tshepo Madlingozi die Problematik des Landes auf den Punkt. Er meint damit einerseits die gesellschaftliche Vielfalt und andererseits extreme Formen kolonialer Ungleichheit: »Die Diversität wurde von den Herrschenden immer nur genutzt, um die Gesellschaft zu teilen und zu spalten.« Umso wichtiger seien neue Ansätze zu sozialer Gerechtigkeit und menschenwürdigen Lebensbedingungen. Madlingozi leitet das Centre for Applied Legal Studies (CALS) an der Witwatersrand Universität in Johannesburg. Zuvor engagierte er sich viele Jahre für Khulumani, eine Vereinigung von Überlebenden des Apartheidregimes (siehe iz3w 316).

Madlingozi kennt viele schwarze Frauen, die von Sicherheitskräften und Schlägern der weißen Minderheitenregierung vergewaltigt wurden. Und er weiß, wie gefährlich es für Frauen auch heute noch in den weiterhin maroden Townships ist. »Vor allem schwarze arme Lesben werden Gewaltopfer«, skandalisiert er. Das CALS-Team arbeitet an der Verwirklichung von Gewaltschutz, Geschlechtergerechtigkeit und sozio-ökonomischen Rechten und bezieht sich dabei auf die vorbildliche neue Verfassung von 1996.

 

Rassistisches Unrecht lebt fort

Hinsichtlich der in der Verfassung verbrieften Rechtsstaatlichkeit in Südafrika sieht CALS keineswegs nur die Regierung des African National Congress (ANC) in der Pflicht, sondern will auch internationale Konzerne und Banken zur Rechenschaft ziehen. Madlingozi erläutert: »Viele Nichtregierungsorganisationen betrachten Umwelt-, Frauen- und Kinderrechte häufig isoliert und machen nur die ANC-Regierung für Missstände verantwortlich.« Solche begrenzten Ansätze seien oft den Vorgaben europäischer Geber geschuldet. Der Jurist kennt die Problematik, für ihn ist klar: »Umweltverschmutzung sowie Verbrechen an Frauen und Kindern sind nur Symptome tiefer liegender Gewaltstrukturen.«

Deshalb behält CALS die Machenschaften des einstigen rassistischen Unrechtsstaats weiter im Blick, beispielsweise die Verwicklungen von Banken aus Europa als Kreditgeber für die Apartheidregierung in Pretoria. Die Profite des alten Regimes, für dessen Erhalt sich auch bezahlte deutsche Lobbyisten in Bonn eingesetzt hatten, schufen märchenhafte Privilegien für die weiße Minderheit – auf Kosten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. Unter Bezug auf kritische wirtschaftshistorische Studien belegt Madlingozi faktenreich diese Gründe für die Armut der Schwarzen und nimmt dabei die Kontinuitäten der Ausbeutung durch ausländische Unternehmen in den Blick. Demgegenüber herrscht in Deutschland weitgehend Schweigen über die alten und neuen Südafrika-Netzwerke beispielsweise rechter Parteien.

 

Apartheidopfer organisieren sich

Dieses Wegsehen in Deutschland war Anlass für kritische Reflexionen bei der Konferenz »Afrika neu denken« Ende September 2019 in Frankfurt am Main. Auf Einladung von medico international und einem breiten entwicklungspolitischen und kirchlichen TrägerInnenkreis diskutierten aktionsorientierte ForscherInnen aus Südafrika und Deutschland über erstarkende Rassismen und neue Perspektiven in den Beziehungen zwischen diesen Ländern. Die südafrikanischen Gäste unterstrichen, dass die Folgen der über 40 Jahre währenden Apartheid keineswegs überwunden seien. Sie illustrierten an konkreten Beispielen, wie koloniale Ausbeutungsstrukturen der Siedler- und Sklavenhaltergesellschaft am Kap fortwirken. Umfassende Enteignungen von Land und Vieh verursachten schon in früheren Jahrhunderten Verarmung, während rassistische Besitzunterschiede bis heute die Gesellschaft prägten.

Tshepo Madlingozi, dessen fundierte Analysen in Frankfurt wichtige Impulse für die Diskussion gaben, kritisiert seit langem die ererbten Strukturprobleme im öffentlichen Sektor. Regelmäßig demonstrieren vor allem BewohnerInnen der Townships gegen unzureichende staatliche Dienstleistungen etwa im Trinkwasser- und Sanitärbereich. Über 2.000 Demonstrationen jährlich zeugen von ihrem Zorn über die unwürdige Behandlung. Doch der Jurist gibt auch zu bedenken: »Die Proteste allein bieten keine Lösung. Vielmehr müssen sie eingebunden sein in basisorientierte Diskussionsprozesse. Alle Mitwirkenden sollten sich über ihre Beiträge zum Wandel austauschen und gemeinsam Veränderungen angehen.«

Wie das geschehen kann, erklärt Nomarussia Bonase bei einem Gespräch in der Industriemetropole Johannesburg. Sie repräsentiert Khulumani, die Interessenvertretung der Apartheidopfer, und war früher in der Gewerkschaftsarbeit aktiv. Die Garage ihres kleinen Township-Hauses südöstlich der pulsierenden Großstadt hat sie zum einfachen Treffpunkt für ihren Stadtteil ausgebaut. Die Aktivistin berichtet: »Hier kommen alte Frauen zusammen, die bis heute körperlich von der Gewalt durch die Schergen des alten Regimes gezeichnet sind.« Im Widerstand gegen die rassistische Diskriminierung hätten sie ihr Leben riskiert. Einige seien als Schülerinnen von weißen Polizisten vergewaltigt worden, als sie 1976 für bessere Bildung protestierten. Nomarussia Bonase bietet ihnen nun einen geschützten Raum zur gegenseitigen Ermutigung.

Sie hat auch junge Männer mobilisiert, die bereit sind, Gewalt an Frauen und Kindern Einhalt zu bieten. Diese beteiligen sich an neuen Gender- und Generationendialogen für ein respektvolles Miteinander, das gemeinsame Ansätze zur lokalen Deeskalation homophober und xenophober Gewalt einschließt. Bonase erläutert: »Das Männerforum setzt sich mit den tiefen Ursachen der Gewalt auseinander. Diese reichen in die Kolonialzeit und Apartheid zurück, als Menschen systematisch entwürdigt wurden – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) hat zwar das politische System verändert, doch eine wirkliche Übergangsjustiz ist laut der Khulumani-Vertreterin Bonase weiter notwendig. Die großen Opfer, die insbesondere Frauen erbrachten, werden bis heute kaum wahrgenommen, auch nicht im offiziellen TRC-Bericht. Die Aktivistin stellt klar: »Die neue Demokratie war nicht einfach zu haben; das sollte nicht vergessen werden.« Menschen wurden verschleppt, gefoltert, umgebracht. In etlichen Körpern stecken noch Kugeln, die Apartheidpolizisten auf sie abfeuerten. Sie verursachen schmerzhafte Krankheiten und Behinderungen. Umso wichtiger ist die eigene Interessenvertretung der Überlebenden.

 

Kämpfe gegen Ungleichheiten

Weil sich die Lebensverhältnisse kaum verbessert haben, sind viele Menschen heute frustriert. Die wirtschaftliche Ungleichheit erschüttert weiterhin die Gesellschaft. Die Besitz- und Klassenunterschiede bewertet Nomarussia Bonase auch als Folge der Apartheid: »Während wenige noch immer sehr reich sind, hat die große Mehrheit kaum Zugang zu Wasser, Strom und anderen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens.« Die Townshipbewohnerin ist wie Millionen andere tagtäglich mit diesen Problemen konfrontiert. Das langlebige rassistische Erbe prägt auch den Gesundheitssektor, denn die meisten Menschen können sich teure Medizin nicht leisten; sie werden dadurch diskriminiert und segregiert.

Diesem Befund pflichtet die Genderexpertin Pethu Serote in Kapstadt bei: »Auch im Bildungsbereich setzt sich diese tiefe Ungleichheit fort. Dabei wären umfassende Verbesserungen in der Schulbildung ein Ansatz, um die Abhängigkeit junger Mütter von staatlichen Sozialleistungen zu verringern.« Serote hat selbst im Bildungswesen gearbeitet, war im Untergrund für den ANC aktiv und musste ins Ausland fliehen. Nach der politischen Wende gründete sie das erste Gender-Trainingsinstitut Südafrikas. »Frauen in der Regierung sind ein guter Startpunkt, aber mehr auch nicht«, sagt sie. Es komme darauf an, ob Ministerinnen frauenpolitisch handeln.

Die Genderexpertin hofft auf eine neue Mobilisierung jenseits der Parteien. »Wir brauchen eine politische Frauenbewegung, die bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen fordert. Wegen der vielschichtigen Probleme müssen die Veränderungen mehrdimensional sein.« Das umfasse den Zugang zu sauberem Wasser und Strom. Auch wenn die Situation schwierig ist, Frauengruppen gegen geschlechtsspezifische Gewalt seien sehr aktiv und im letzten Jahr sichtbarer geworden. Auf sie setzt Pethu Serote ihre Hoffnungen, gleichzeitig wünscht sie mehr sektorübergreifende Vernetzung.

Genau daran arbeiten die BasisaktivistInnen. Unter neuen Vorzeichen kämpfen sie beharrlich weiter. Nomarussia Bonase betont: »Wir geben nicht auf, wir kennen unsere Menschenrechte. Wir schaffen neue Plattformen für Veränderungen und gehen gegen jegliches Unrecht vor. A luta continua.«

 

Rita Schäfer arbeitet als freie Wissenschaftlerin und Autorin zu Südafrika (siehe u.a. www.liportal.de/suedafrika). Ihr jüngstes Buch »Migration und Neuanfang in Südafrika« erschien 2019 im Brandes & Apsel Verlag.