Geistiger Mist

100 Jahre Waldorfschule

Waldorfschulen sind beliebt - insbesondere bei gut situierten, akademisch gebildeten Eltern. Sie gelten als alternativ, Kreativität und die ganzheitliche Entwicklung der Kinder fördernd. Dieser Tenor bestimmte auch zahlreiche Veröffentlichungen zum 100. Geburtstag der Waldorfpädagogik. Doch das progressive Image trügt. Nach wie vor gehören von Rudolf Steiner geprägte rassistische und esoterische Weltbilder zum Kern der Bildungskonzeption der Waldorfschulen, erläutert Peter Bierl.

In diesem Jahr feierte die Waldorfschule ihr hundertjähriges Bestehen. In den Medien überwog zum Jubiläum das Lob, kritische Beiträge waren in der Minderzahl. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) hielt in der Stuttgarter "Mutterschule" eine Laudatio, in der er die "erstaunlichste und erfolgreichste Bildungsidee" des Jahrhunderts pries. Tatsächlich boomt die Waldorfschule seit Jahren wie alle Privatschulen. Darin drückt sich der Rückzug der Wohlhabenden vom öffentlichen Schulsystem aus, das verfällt, wie der eklatante Mangel an Lehrer*innen zeigt. Heute gibt es über 220 Waldorfschulen in Deutschland, die von rund 85.000 Schüler*innen besucht werden.

In manchen Jubiläumsbeiträgen wurde erwähnt, dass Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, ein Antisemit, Rassist und Okkultist war. Aber solche Fakten werden oft als nachrangig gegenüber dem pädagogischen Wert der Schule abgetan. Das ist fahrlässig und zeugt von Unverständnis gegenüber esoterischen Methoden. Schon der Begriff bedeutet, dass es innere Zirkel von Eingeweihten mit Herrschaftswissen gibt, während die Masse der Anhänger*innen gelenkt wird. So verpflichtete Steiner die Waldorflehrer*innen, nicht Anthroposophie zu unterrichten, sondern den gesamten Betrieb nach seiner Weltanschauung zu gestalten. In der Regel lesen Waldorfschüler*innen keine Zeile aus dem ausufernden Werk des Gurus. Die Ideologie, die den Unterricht und das Verhalten von Lehrer*innen prägt, bleibt für sie ungreifbar und kann nicht hinterfragt werden.

Die öffentliche Auseinandersetzung wird dadurch erschwert, dass es über die Praxis an den Waldorfschulen keine einzige, empirische Studie von unabhängiger Seite gibt. Eine solche wäre eine methodische Herausforderung, weil sie voraussetzen würde, dass die Forscher*innen Tarnkappen aufsetzen. Was wir haben, sind eine Unzahl von Beiträgen von Anthroposoph*innen und Sympathisant*innen, sowie kritische Darstellungen von ehemaligen Schüler*innen und Lehrer*innen. Sie kommen zu wenig schmeichelhaften Einschätzungen, wie etwa Nicholas Williams (2019), der an drei Schulen unterrichtet hat. "Waldorf hat den Charakter einer Sekte", lautet sein Fazit. Was diese Aussteiger*innen berichten, lässt sich zwar nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Aber über die Jahre ergibt sich eine stattliche Reihe von Einzelfällen, die Fragen nach dem zugrundliegenden Konzept aufwerfen.

Anthroposophisches Weltbild

Rudolf Steiner stammte aus Österreich und führte in Deutschland zeitweise das Leben eines prekär beschäftigten Akademikers, bis er zum Anführer der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft wurde, einer internationalen esoterischen Vereinigung. Mit Erfolg redete Steiner seinen Getreuen ein, er verfüge über hellseherische Fähigkeiten, sie feierten ihn als "Menschheitsführer", als Reinkarnation von Aristoteles und Thomas von Aquin. 1912 spalteten er und seine Anhänger*innen die Sektion ab und gründeten die Anthroposophische Gesellschaft. Seine Lehre sampelte er aus Versatzstücken von Hinduismus, etwa dem Glauben an Karma und Wiedergeburt, Evolutionslehre, Rassismus und Antisemitismus. Dazu kamen christliche Elemente wie die Idee von Christus, der jedoch als inkarnierter Sonnengeist gilt.

In der Anfangszeit widmeten sich Anthroposoph*innen vor allem dem eigenen Karmakonto, seit der turbulenten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wollen sie die Gesellschaft mit ihren Projekten formen. Daraus ist eine Subkultur entstanden mit Vereinen und Zeitschriften, Kindergärten und Schulen, Einrichtungen für Alte und Behinderte, Unternehmen wie Hauschka und Weleda, der GLS-Bank und Demeter, dem Verband der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Alle Projekte basieren auf Steiners Weltbild und seinen Anweisungen. Die anthroposophische Anbauweise begründete er 1924 mit einer Vortragsreihe, in der er über die "Offenbarungen des Stickstoffs" und "geistigen Mist" aus Kuhhörnern fabulierte.

Anthroposoph*innen waren bei der Gründung der Grünen aktiv, kämpfen gegen Stuttgart 21 und in Gestalt der Omnibus für direkte Demokratie gGmbH für Volksentscheide auf Bundesebene. Sie sind Vorreiter*innen bei der Privatisierung der Bildung und schufen in Witten-Herdecke die erste deutsche Privatuniversität mit Studiengebühren im fünfstelligen Bereich. Die Debatte um ein Grundeinkommen wird maßgeblich von dem Anthroposophen Götz Werner, Gründer und Aufsichtsrat der Drogeriemarktkette DM, geprägt. Werner will Arbeitskosten und Steuern für das deutsche Kapital senken, um die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu steigern, aber dafür die Mehrwertsteuer auf fünfzig Prozent erhöhen, um das Grundeinkommen zu finanzieren.1

Waldorfschule als Schicksalsgemeinschaft

Zu diesem exoterischen Engagement gehört die Waldorfschule, die Steiners anthroposophischer Menschenkunde verpflichtet ist. Fundamental ist die Vorstellung von Karma und Reinkarnation, wonach das Leben jedes Menschen von seinen Handlungen in früheren Leben determiniert wird. Diese Lehre gilt als "Grundlage allen wahrhaften Erziehens".2 Waldorfpädagogik gehe aus einem "durch geisteswissenschaftliche Forschung gewonnenen Menschenbild hervor, für das Reinkarnation und Karma geistige Erfahrungstatsachen sind, nicht aber Glaubensartikel oder Resultate visisonsartiger Schauungen", schrieb Valentin Wember (2004) in der Waldorfzeitschrift Erziehungskunst. Darum sei "die gesamte Waldorfpädagogik in ihrem Kern auf einem Menschenbild (aufgebaut), für das Karma und Reinkarnation zentrale Tatsachen sind".3

Wer in einem früheren Leben gelogen habe, dessen Leib sei in der nächsten Verkörperung davon geprägt, die Individualität werde als geistig Behinderter wieder geboren. "Jetzt kann der Mensch die Wahrheit nicht mehr richtig erfassen, er wird schwachsinnig", schreibt Wember. Dieser Zusammenhang sei "eine spirituelle Gesetzmäßigkeit, die der Geistesforscher Rudolf Steiner entdeckt hat". Ihrem Selbstverständnis nach ist die Waldorfschule eine Schicksalsgemeinschaft, die Lehrer*innen sollen am Karma der Kinder werkeln.

Nach antiker Vorstellung entsprachen den vier Elementen Erde, Feuer, Luft und Wasser vier Temperamente des menschlichen Wesens. Anthroposoph*innen glauben daran bis heute. Ihnen gilt jedes Temperament als spezifische Form des Egozentrischen, der Mensch müsse lernen, sein Temperament zu beherrschen, statt von ihm unterdrückt zu werden. Welches einen Menschen prägt, ist karmisch bestimmt. Choleriker sind demnach feurig und willensstark, Sanguiniker lebhaft, zutraulich und unruhig, Melancholiker scheu und schwermütig, Egoisten und Eigenbrödler, Phlegmatiker behäbig, träumen mit offenem Mund und ziehen möglichst bald ihr Pausenbrot aus dem Schulranzen. Klassenlehrer*innen sollen die Temperamente der Kinder und danach die Sitzordnung bestimmen: Kinder des gleichen Temperaments werden zusammengesetzt, damit sie sich "spiegeln" und die Temperamente gleichsam abschleifen.

Für jedes Temperament gibt es spezielle Erzähl- und Darstellungsweisen, bestimmte Übungen. Sogar die vier Grundrechenarten gelten als temperamentspezifisch: Addieren sei dem Phlegmatischen verwandt, Subtrahieren dem Melancholischen. Caroline von Heydebrand (1896-1938) riet, das melancholische Kind nie kalt abzuwaschen, ihm Salat und leichtes Gemüse zu geben, der Choleriker solle Holz hacken, Nägel einschlagen und Steine schleppen und einem Phlegmatiker dürfe man morgens nicht erlauben, "sich aus reiner Genußsucht noch lange in den warmen Federn halb schlafend und dösend zu räkeln". Der Sanguiniker brauche Abwechslung. Heydebrand war eine Pionierin der Waldorfpädagogik und verfasste den ersten Lehrplan, der jahrzehntelang gültig war.

Eine weitere Komponente ist die Vorstellung von den sieben oder neun Wesensgliedern des Menschen, die sich nach einem starren Rhythmus von je sieben Jahren entfalten: Nach der Geburt existiert nur ein physischer Leib, mit dem siebten Lebensjahr kommt der Ätherleib hinzu, ein feinstoffliches Gebilde, das etwa für die Temperamente zuständig ist. Zum 14. Lebensjahr bringt ein Astralleib das Bewusstsein und erst mit dem 21. Lebensjahr entwickelt sich das Ich, ist der Mensch komplett reinkarniert. Dieses Ich wiederum splittet sich in eine Empfindungs-, eine Verstandes- und eine Bewusstseinsseele.

Dazu gibt es ein Geistselbst, einen Lebensgeist und den Geistesmensch, Wesensglieder, die in grauer Vorzeit, als die Menschen noch Kontakt zu höheren Wesen hatten, automatisch entstanden. Heute bilden sich diese Wesensglieder nur durch spirituelle Betätigung aus.

Nach Steiner befindet sich der Mensch in endlosen Wiederholungsschleifen. Das Ich, das als göttlicher Funken gilt, reinkarniert mehrfach auf sieben Planeten in Gestalt von Mineralien, Pflanzen, Tieren, Menschen und sofern es sich spirituell entwickelt als Engel, Erzengel und Obererzengel, sonst droht der Absturz zur Tier-Mensch-Chimäre. Jedes Kind wiederholt bis zum siebten Lebensjahr die Verkörperung als Mineral auf dem Saturn und ist darum ein nachahmendes Wesen. Will ein Kind unbedingt Nutella zum Frühstück, gilt das als Ausdruck eines verfrühten Egos. Zwischen dem siebten und 14. Lebensjahr wiederholen Kinder eine Pflanzenstufe und sollen Lehrer*innen als selbstverständliche Autorität akzeptieren. Kritisches Denken in diesem Lebensabschnitt bezeichnete Steiner als "Gift für die Seele". Erst zwischen 14 und 21 Jahren, auf der Tierstufe, sollen Jugendliche denken, aber mit Herz und Gemüt. Denn Intellektualismus lehnte Steiner als "entartet" ab. Als richtige Menschen galten Jugendliche ihm erst mit 21 Jahren. Dann dürften sie selbständig sein, eine Individualität entwickeln und an Sexualität denken.

Verzauberte Wesen

Über dem Menschen stehen laut Steiner Engel und Erzengel, Volks- und Rassengeister und Dämonen wie Ahriman und Luzifer. Dazu seien wir von Elementarwesen, unsichtbaren Naturgeistern, umgeben, von Wasser-, Feuer- und Luftwesen und Gnomen. Mittelgroße Elementarwesen fungieren in diesem Paralleluniversum als "fleißige Arbeiter" und Faune umschwirren als leitende Ober-Elementarwesen jeden Baum. Noch weiter oben in der Hierarchie sitzen regionale Baumwesen und über allen thront Pan, der König der Naturwesen, heißt es in Erziehungskunst im April 2011 in einem Heft, dessen Schwerpunkt den Elementarwesen gewidmet war.

Diese verzauberten Wesen seien in die Natur gebannt, weil sie sich für die Menschen und die Evolution opfern. Wenn ein Mensch die Welt spirituell begreife, statt intellektuell und materialistisch, fleißig und zufrieden sei, helfe er die Elementarwesen zu erlösen. Unter diesem Aspekt seien Hausaufgaben, aber auch Fleiß und Strebsamkeit, Pflicht und Engagement zu sehen, heißt es in der zitierten Ausgabe der Erziehungskunst. Wenn gebastelt, gefilzt und gemalt wird, geht es also keineswegs bloß um Kreativität und handwerkliches Geschick, sondern nach dem okkulten Lehrplan auch darum, die Stimmung der Elementarwesen zu treffen, damit sie sich wohlfühlen und erlöst werden.

Wenn es in Selbstdarstellungen heißt, die Waldorfpädagogik sei kindgerecht und individuell, ist das für Nicht-Eingeweihte irreführend, denn es bezieht sich auf solche okkult-religiösen Schablonen. Zu Recht begreifen Anthroposoph*innen die Waldorfschule deshalb als "Weltanschauungsschule", die ohne den Bezug auf die Anthroposophie verwässern würde.4 Eine Waldorfschule ohne Steiner ist unmöglich. In welchem Ausmaß sich Lehrer*innen an die Vorgaben halten, wissen wir nicht. Es wäre aber weltfremd, anzunehmen, dass eine Ideologie, die in Veranstaltungen, Vorträgen, Büchern und Zeitschriften dokumentiert ist, die wiederum von Waldorflehrer*innen und Dozent*innen stammen, überhaupt keine Relevanz besitzt. Gleiches gilt für Steiners Rassenlehre.

Das ARD-Magazin Report berichtete im Sommer 2000 über das Buch Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst von Ernst Uehli (1875-1959), einem Waldorflehrer und engen Mitarbeiter Steiners. Uehli schrieb: "Der Keim zum Genie ist der arischen Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden." Dagegen sei "der heutige Neger" kindlich und ein "nachahmendes Wesen geblieben", während der "heutige aussterbende Indianer" im Denken "greisenhaft" sei. Das Buch war in der Broschüre Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers in einer Freien Waldorfschule  aufgeführt, die die Pädagogische Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen 1998 veröffentlicht hatte. Die Literaturliste enthielt fast ausschließlich anthroposophische Werke, keine seriösen Fachbücher etwa zu Sprachen, Mathematik oder Geschichte. In Dutzenden der empfohlenen Bücher finden sich nationalistische, rassistische und antisemitische Stereotypen.

Wurzelrassen und Reinkarnation

Gegen Kritik sind Anthroposoph*innen als Eingeweihte aber immun. In der "Stuttgarter Erklärung - Waldorfschulen gegen Diskriminierung" (2007) heißt es, Anthroposophie als "Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form des Rassismus und Nationalismus". In Steiners Gesamtwerk fänden sich "vereinzelte Formulierungen", die "nach dem heutigem Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken".

Tatsächlich entwickelte Steiner eine ausgefeilte esoterisch-rassistische Evolutionslehre, die den Kern der Anthroposophie ausmacht. Von Theosoph*innen übernahm er die Lehre von den Wurzelrassen. Sie besagt, dass sieben Wurzelrassen mit je sieben Unterrassen auftreten, in denen sich die spirituelle Evolution der Menschheit ausdrückt. Spirituell hoch entwickelte Wesen inkarnieren in fortgeschrittenen Rassen, entwicklungsunfähige Wesen in niederen Rassen. Juden inkarnieren immer wieder als Juden, solange sie sich weigern, Christus anzuerkennen. In einigen Jahrtausenden können die Rassen verschwinden, wenn die Menschen soweit fortgeschritten seien, dass sie vor der Reinkarnation aus dem Jenseits ihre Körper selber formen, prognostizierte Steiner.

Diese Stelle zitieren Anthroposoph*innen gerne, wenn sie mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert werden. Nicht zu Unrecht, denn so obskur die Lehre ist, unterscheidet sich der anthroposophische Rassismus dadurch doch vom nazistischen Rassismus. Den Nationalsozialisten ging es in Theorie und Praxis immer um die Versklavung sogenannter minderwertiger Rassen und die Vernichtung der Juden. Anthroposoph*innen hingegen wollen mit ihrer Lehre alle Menschen von der Bindung an die Materie erlösen.

Was das bedeutet, zeigt ein Bericht aus einem internen Waldorf-Rundbrief (1997) über die anthroposophische Teeplantage Sekem, die trotz Kinderarbeit von Medien als Musterprojekt abgefeiert wurde. Darin heißt es, die Ägypter lebten ganz in der "Empfindungsseelenzeit", wie fast alle Völker und Kulturen im Sonnengürtel der Erde. Sie ließen sich treiben, lebten nicht zielgerichtet, deswegen sei der Autoverkehr in Kairo chaotisch und die Stadt unglaublich dreckig. Dagegen sei es in Sekem ordentlich und sauber, es herrsche eine arbeitsame sinnerfüllte Atmosphäre, weil die dortige Führungsstruktur einer der Empfindungsseele angemessenen "pharaonischen Hierarchie" gleiche und die "meist europäischen Mitarbeiter die Verhältnisse aus der Bewusstseinsseele heraus zielvoll führen."5

Hinter der ätherischen Gutmenschen-Attitüde erscheint ein Rassismus, in dem die kolonialistische Ideologie von anno 1900 versteinert ist, als Europäer*innen von der "Bürde des weißen Mannes" schwätzten, um die Aufteilung der Welt in Kolonien, das Plündern, Foltern und Morden zu rechtfertigen, zum Wohle der Wilden und Barbaren, denen man die Segnungen der Kulturvölker bringe.

Schwarze diffamierte Steiner als von der Hitze der Sonne gesteuerte Triebwesen, Chinesen und Japaner als dekadent.

Eine Grundregel seiner Wurzelrassenlehre besagt, dass Rassen bestimmte Aufgaben haben. Ist ihre Mission erfüllt, sind ihre Nachfahren nutzlos für die weitere spirituelle Evolution. In diesem Schema mussten Juden den Monotheismus erfinden und einen Körper für die Reinkarnation von Christus schaffen. Demnach endete ihre Mission mit dem Jahre Null der christlichen Zeitrechnung und Steiner kam zu dem Verdikt, das Judentum habe keine Existenzberechtigung mehr. Die Ausprägung einzelner Seelenglieder ist die Mission bestimmter Völker oder Unterrassen. Die Ägypter entwickeln die Empfindungs-, die Griechen und Römer die Verstandes- und die Germanen und Deutschen die höherwertige Bewusstseinsseele. Auf diesen Hokuspokus bezieht sich der zitierte Bericht über Sekem und die schmutzigen Ägypter.

Für die wichtigste Aufgabe haben die höheren Mächte laut Steiner die Deutschen ausersehen, die Respiritualisierung der Welt durch die Entwicklung eines Ich-Bewusstseins voranzutreiben und damit die Erlösung aus dem Materialismus. Vor diesem Hintergrund deutete Steiner den Ersten Weltkrieg als geheimes Manöver angloamerikanischer, jüdischer und theosophischer Kreise gegen Deutschlands Mission.

Heute sprechen Anthroposoph*innen lieber von Kulturepochen statt von Wurzelrassen. Der Waldorflehrer und Erziehungskunst-Redakteur Lorenzo Ravagli bemühte zu Recht das Codewort Ethnopluralismus der Neuen Rechten und Identitären, um Steiners Lehre zu kennzeichnen. Dessen Rassenlehre, Verschwörungsideologie und esoterischer Hokuspokus sind nicht Vergangenheit, sondern bleiben virulent.

Anmerkungen

1) Götz W. Werner, Benediktus Hardorp 2006: "Bedingungsloses Grundeinkommen", in: Anthroposophische Heilkunst e.V., Heft 10, Bad Liebenzell: 5ff.

2) Stefan Leber 1998: "Reinkarnation und Karma - Grundlage allen wahrhaften Erziehens", in: Heinz Zimmermann (Hg.): Reinkarnation und Karma in der Erziehung, Dornach: 9.

3) Valentin Wember 2004: "Reinkarnation und Pädagogik", In: Erziehungskunst: 402ff.

4) Richard Landl 2007: "Waldorfschule - ein Entwicklungsprozess über 12 Jahre?" In: Erziehungskunst: 1102; Sebastian Gronbach 2007: "Warum Spiritualität jetzt eine Chance hat. Waldorfschulen sind mehr als Reform-Schulen", in: Info 3: Infoseiten Anthroposophie. Herbst 2007: 5.

5) Lehrerrundbrief Nr.61, November 1997, herausgegeben im Auftrag des Bundes der Freien Waldorfschulen e.V.: 60ff.

Peter Bierl ist Politikwissenschaftler und Journalist aus München. Von ihm erscheint demnächst "Heimat - Absage an einen deutschen Mythos" (Edition Critic). Zuletzt hat er die Bücher "Einmaleins der Kapitalismuskritik" (Unrast-Verlag 2018) und "Grüne Braune: Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von rechts" (Unrast-Verlag 2014) veröffentlicht.