Vermachtete Diskurse

Olaf Georg Klein: Ihr könnt uns einfach nicht verstehen! Frankfurt a. M. Eichborn Verlag 2001.

Warum funktionieren eigentlich intellektuelle Debatten zwischen Ossis und Wessis, zumal unter Linken, offensichtlich auf so eigenartige Weise schlecht? Werner Mittenzwei macht in seinem Buch über die ostdeutschen Intellektuellen darauf aufmerksam, daß es Absicht der Kohlschen Politik war, die aus der DDR kommende marxistische Debatte aus den öffentlichen deutschen Diskursen zu verbannen. Dabei ging es ausdrücklich nicht gegen den offiziellen Parteimarxismus der SED, der war schon tot und man fürchtete ihn ohnehin nicht, sondern gegen den unangepaßten der kritischen Intellektuellen.

Zugleich war Kohl bestrebt, möglichst große Teile der westdeutschen Bevölkerung an der Aufteilung des DDR-Besitzes und der Auflösung ihrer Institutionen zu beteiligen. Und so wurde denn auch die Neuformierung der Universitäten im Osten gestaltet. Die soziale Vernichtung der ostdeutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Intelligenz, die darauf zielte, sie mundtot zu machen, wurde zu einem Karriereschub für etliche Westgelehrte, die nun auf gutdotierte Professorenstellen kamen, die ihnen sonst oft verschlossen geblieben wären. Sie wurden Wendegewinnler, auch wenn sie sich selbst als "links" gestimmt, von Â’68 herkommend oder als ähnliches ansehen. Wenn sie sich nun nicht selbst in Frage stellen wollten, mußten sie den Kontakt mit den abgewickelten Ostintellektuellen möglichst meiden, ihnen aus dem Wege gehen, sie für nicht kompetent erklären.

So finden die relevanten Debatten in Ostdeutschland in zwei fast völlig getrennten Öffentlichkeiten statt: die der abgewickelten Ostler in verschiedenen privaten Vereinen und Gesellschaften, die der westlichen Wendegewinner an den Universitäten, deren Diskurse wiederum die Verlängerung der jeweils modischen Debatten der akademischen Welt des Westens sind.

Zu der räumlichen Segregation kommt die thematische hinzu. Und die jungen Studenten denken dann, nur das sei eigentliche Wissenschaft, was sie an den Unis geboten bekommen - sie kennen ja nichts Besseres, weil die Kraft der kleinen Vereine für systematische Bildungsangebote nicht reicht beziehungsweise diese aus herrschaftstechnologisch zu erklärenden Gründen keine öffentliche Anerkennung erfahren würden, für das Berufsleben also nichts nützen.

Das ist aber wohl nur ein Teil der Gründe. Hinzu kommen die Eigenarten der unterschiedlichen Kommunikationskulturen. Das Buch von Olaf Georg Klein darüber, warum Ost- und Westdeutsche einander nicht verstehen, gibt interessante Aufschlüsse, man muß sie allerdings auf die intellektuellen Debatten anwenden. Der Westler ist darauf trainiert, um Raum und Aufmerksamkeit zu konkurrieren, der Ostler, sich gegenseitig Raum zu lassen. Die östliche Kommunikationskultur zielt auf Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten, die westliche auf die Selbstpräsentation, die Hervorhebung des Unterschiedes, des Besonderen. Der Ostler will die offene Konfrontation möglichst vermeiden, der Westler sucht sie; der Ostler hat das "Wir gemeinsam" im Sinn, der Westler "Mein" und "Dein".

Das hat Folgen für intellektuelle Debatten. In der östlichen Tradition geht es um Erkenntnis und Zurückhaltung des Sprechers, in der westlichen um Selbstdarstellung des Sprechenden und das möglichst schrille Argument; das kann als gewagte These zur Eigenpositionierung, aber auch als Totschlagsargument gegen den Diskutanten eingesetzt werden. Immer geht es um die Besetzung des Raumes, die Diskurs-Hegemonie, das "Mein" statt des "Wir gemeinsam".

Zudem sind die Inhalte der Diskurse aus der späten DDR der Westsicht nicht zugänglich. Es waren andere Themen, andere Herangehensweisen, andere Fragen und oft eine kryptische Sklavensprache. So ist es dem westlinken Intellektuellen noch heute leichter, sich im Kontext mit dem bürgerlichen Mainstream zu bewegen, sich auf diesen zu beziehen, als auf den Ostlinken. Hinzu kommt, nochmals nach Klein: dem Wessi ist das Wichtigste der Status, dem Ossi die persönliche Beziehung - mein Status ist der des Universitäts-Profis, deiner der des abgewickelten, jetzt Freizeitwissenschaftlers. Und wenn nun noch der Mainstream der jeweiligen Fachwissenschaft in zwölf Jahren drei verschiedene modische Wellen hervorbrachte, während der störrische Ostgelehrte während dieser gleichen zwölf Jahre an den Themen weiterarbeitete, an denen er schon saß, als er aus seinem Institut gejagt wurde, wird noch das letzte Totschlagsargument nachgereicht: er habe nicht mitvollzogen, was "der internationale akademische Diskurs" während dieser zwölf Jahre gemacht habe. Auch die Debatten unter den Linken in Deutschland sind auf diese Weise voller Ungleichgewichte und Ausdruck der vermachteten Verhältnisse in dieser Gesellschaft.

Und dann gibt es noch die vielen Sprachgestalten der politischen Korrektheit im Westen. Sie interessieren den Ossi in der Regel nicht. Er hatte schon seine Erfahrung mit der "Parteilichkeit der Wissenschaft", und wenn die Wende für die Geistes- und Sozialwissenschaftler der DDR inhaltlich etwas gebracht hat, so ist es die Verabschiedung dieser außerwissenschaftlichen Erwägungen. Aber vielleicht macht es inzwischen ja auch Spaß, absichtlich gegen die "korrekten" Wortgebilde zu verstoßen. Dann hat man sich aber schon auf die westliche Kommunikationskultur eingelassen und hält es neben dem Erkenntnisgewinn für sinnvoll, die Diskurs-Hegemonie eben nicht den anderen zu überlassen.