Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration

Hannes Hofbauer: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration Promedia Verlag Wien 2003, 239 S. (17,90 EUR)

Aus Wien kommt eine scharfe und unmißverständliche Wertung jener Prozesse, die gemeinhin als Osterweiterung der EU firmieren und als das non plus ultra der Wiederherstellung der europäischen Einheit verkauft werden. Hannes Hofbauer, kritischer Historiker und Publizist, ausgewiesener Osteuropakenner, hält von solchen Schönredereien wenig. Für ihn ist klar: Die Osterweiterung der Europäischen Union ist nichts anderes als die endlich durchgesetzte Kolonialisierung des Ostens des gemeinsamen Kontinents. Von Wiedervereinigung eines nie einheitlichen Europas mit langen Geschichten getrennter Entwicklung könne nicht die Rede sein. Gegen alle euphorischen Stimmungen wertet er unmißverständlich: Die "Heimkehr des Ostens" in die abendländisch europäische Gemeinschaft ist nicht anderes als die "›Heimkehr‹ peripherisierter Regionen unter die ökonomische Dominanz westeuropäischen - und vor allem auch deutschen - Kapitals; eine ›Heimkehr‹ unter Bedingungen, die jenen vor der kommunistischen Machtübernahme strukturell nicht unähnlich sind" (S. 7).

Unter diesen Vorzeichen ist es nur konsequent, die Vorgeschichte der heute als Monstranz vorhergetragenen Europa-Idee in der knapp tausendjährigen Geschichte des westeuropäischen "Dranges nach Osten" festzumachen und konsequenterweise nicht zuletzt auf die großdeutschen, Pardon, europäischen Denkansätze jener Ideologen und Politiker vom Kaiserreich bis NS-Zeit abzuheben, die eine ideologische Verbrämung für wirtschaftliche Expansionsinteressen und schließlich einen antikommunistischen Abwehrriegel entwickelten. Mit der Blockkonfrontation nach dem 2. Weltkrieg gewann letztere Dimension der Europa-Idee noch schärfere Konturen, weil sie den in ihr enthaltenen Abgrenzungsansatz nun vollendet und in Konfrontation mit Osteuropa als ein westeuropäisches, antikommunistisches Projekt durchzog. Hofbauer erinnert daran, daß mit COCOM-Liste und Marshall-Plan "mitten in Europa eine imaginäre Mauer hochgezogen" wurde, analog zur politisch-militärischen Konfrontationslinie. Die Ausgrenzungsstrategie wurde zwar vom Osten als Kampfansage angenommen, der nun selbst eine nachholende Zwangsmodernisierung anging, aber mit seinem RWG sich trotz anzuerkennender beachtlichen Erfolge "weder vom kapitalistischen Weltsystem entkoppeln noch den peripheren Status östlicher Volkswirtschaften überwinden" konnte (S. 33).

Berechtigt wehrt sich der Autor gegen die heute dominierende These, daß der Zusammenbruch des Ostblocks das Scheitern von Planwirtschaft und Staats- bzw. Gemeinschaftseigentum quasi als widernatürliche Abweichungen von den allein geltenden westlichen Prinzipien bestätigen würde. Genauso wenig sei der Untergang des Ostblocks auf einen "Befreiungsakt vom Kommunesystem" durch das Volk zu reduzieren. Vielmehr sei es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß der ökonomische wie politische Zusammenbruch als eine Folge der weltwirtschaftlichen Krise ab Mitte der 70er Jahre anzusehen sei. Anzumerken wäre allerdings, daß dieser Umbruchsprozeß zwar krisenhaft dahergekommen war, aber Ausdruck eines Umbruchs der Produktivkräfte war, der tatsächlich beide Wirtschafts- und Sozialsysteme einer Bewährungsprobe unterzog.

Die westliche Konsequenz war der Übergang zu neoliberalen Wirtschaftskonzepten, die aber - und hier hat Hofbauer scharf beobachtet - in den 80er Jahren zunehmend auch in osteuropäischen Staaten zum Teil durch zumindest wichtige Exponenten der politischen Führung gefördert, eine Heimstatt fanden. So gab es - etwa mit Vaclav Klaus in Prag oder Leszek Balcerowicz in Warschau - auch die entsprechenden "Fachleute" für eine Transformation, die unter entsprechenden politischen Bedingungen die ökonomische Transformation nach dem gewünschten westlichen, neoliberalen Muster angingen.

Die Bilanz dieser Transformation ist aus Sicht des Autors wenig erfreulich und sichert eben jene ungleichen Startbedingungen in einem vermeintlich vereinten Europa, die er kritisiert. Die politischen Freiheiten, die gewonnen wurden, kontrastieren mit den Konsequenzen der ebenso gewonnenen kapitalistischen Freiheiten von Kapital, Dienstleistungen, Waren- und Personenverkehr. Im wesentlichen mit Mitteln einer Schocktherapie wurde Osteuropa für die Erfordernisse des Westens zugerichtet. Die massive Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme brachten die Einbindung als verlängerte Werkbank für einige wenige Staaten (Stichwort Tschechien und die Automobilindustrie), die Sicherung neuer Absatzmärkte, vor allem aber spottbillige Arbeitskräfte in den Transformationsländern und als Export in die westlichen Metropolen.

In den drei Ländern, die eine eigenständige Entwicklung versuchten - die Slowakei unter Meciar, Rumänien unter Iliesçu und Jugoslawien unter Milosevic¡ -, wurde politisch (in Jugoslawien auch militärisch) unter massiver Einmischung dafür gesorgt, daß die mißliebigen politischen Kräfte isoliert und ausgeschaltet wurden. In einprägsamen und scharfen Länderanalysen untermauert Hofbauer seine Einschätzungen für Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien und die drei baltischen Staaten.

Die Übernahme der westlichen Strukturen, nicht zuletzt vermittelt über die notwendige Anpassung an den "Europäischen Besitzstand" der EU für die Beitrittskandidaten, die acquise communautaire mit 20 000 Rechtsakten, hat dafür gesorgt, daß diese Länder ein so dichtes Korsett an Vorgaben erhalten haben, daß ein Ausbrechen kaum noch möglich ist. Angesichts der heutigen politischen Ausrichtung der EU erfolgte damit auch eine deutliche Vorprogrammierung allein für die heute vorherrschende neoliberale Politik. Die westliche Kontrolle über die osteuropäischen Kapitalströme durch die Kontrolle über die Banken sichert zudem jenen dauerhaften Einfluß, den man sich erhofft. Daß die politisch-militärische Einbindung der ökonomischen noch vorhergegangen ist, kann ebenso wenig als Zufall erscheinen wie die bereitwillige Unterwerfung unter westliche Sicherheitsbedürfnisse. Ironie der Geschichte ist allerdings, daß weit stärker als die westeuropäische Vormachtstellung die USA zumindest sicherheitspolitisch von dieser Einbindung und dem oft vorauseilenden Gehorsam der Konvertiten profitieren, so daß das "alte Europa" sich nur verwundert die Augen reibt.

Hofbauer läßt notgedrungen offen, ob es realistische Alternativen zu diesem Weg in ein westliches, neoliberal dominiertes Europa gegenwärtig gibt, zumal eben dort in der Festung die Kraft und Fähigkeit zu Alternativen quer durch die politischen Lager so gering ausgeprägt ist. Den Linken sollte allerdings auch angesichts dieser Erfahrung Osteuropas klar sein, daß die EU nur bei veränderten nationalen Bedingungen zumindest in den führenden Staaten der Gemeinschaft und einer gemeinsamen Alternativpolitik zu einem Vehikel einer sozialeren und demokratischeren Politik werden könnte.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 82f

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